Nachtbar, voll

von dem Gewimmel
ich scheiß doch auf dich!
tut er’s an hinausgestellten Stühlen
mit türkischem Akzent der Sprache
draußen an
der Theke, wo Handtaschen den Abend
nach freien Spesen durchsehn
im Schritt die Erwartung auf High Heels
hängen feingestreifte Zwirns
drinnen um
legère aus den Konten des Tagwerks
gelockerte Krawatten
zu Make up und Cocktailkultur
aus quittierten Körpern

[Die “quittierten Körper” stören mich noch,
wiewohl der Terminus s c h o n sagt, worauf ich hinauswill.
Aber er sagt es noch nicht als Bild, was auch an der
rein phonetischen Assoziation “Quitte” liegt.

24.5.: >>>> Aggressive Variante.]

26 thoughts on “Nachtbar, voll

  1. Über das Gedicht. mit türkischem Akzent der Sprache, merkwürdiger Genitiv, man fragt sich, ob vielleicht noch etwas anderes als Sprache einen Akzent haben kann.

    freie Spesen ? – frei finde ich zu viel und nicht nachvollziehbar, gibt es unfreie Spesen?

    draußen an
    drinnen um

    Zeilenumbrüche sind für mich nicht nachvollziehbar

    der feine Zwirn wird nicht origineller, wenn man ihn “feingestreift” nennt.

    Handtaschen sehen den Abend nach freien Spesen durch? Na ja. Wackelige Angelegenheit.

    Der Abend sieht die Freiheit in den Handtaschen sehen die Spesen….

    Das Wort Cocktailkultur gibt das ganze Gedicht eigentlich auf. Genauer: das Wort Kultur veräußert plötzlich einen Gesamtüberblick und führt den Versuch einer halbwegs spontiven Situationsbeschreibung in die Sackgasse eines gesamtverstandenen Überworts.

    Quittierte Körper – sind arg denunzierend. Man denkt an Menschenhandel und ich weiß jetzt: Der Dichter mag sein Gedicht nicht und ist auch nicht mit dem Ort einverstanden, der ihn inspiriert haben hätte können.

    1. @Wichtiguer. Ich mag mich – einem Wichtigtuer gegenüber ohnedies nicht – nicht verteidigen; viele Ihrer Einwände beruhen einfach darauf, daß Sie nicht laut gelesen, also den Klang, in dem die Zusammenhänge stecken, nicht gehört haben; dadurch entstehen Bezugsfehler, etwa bei “türkischer Akzent der Sprache”, was nicht begreift, wem hier etwas angetan wird, und was. Was ist übrigens “spontiv”?
      Nur zur Erklärung: “Handtasche” ist ein Spitzwort für eine Form der semiprofessionellen Prostituierten; daraus erklärt sich der Rest. Wegen der “quittierten Körper” schrieb ich selbst, daß ich damit unglücklich bin; anstelle das also zu kritisieren, hätten Sie vielleicht einen Vorschlag unterbreiten können. Egal. Das Spiel ist eh völlig anders, als S i e, ziemlich weit hergeholt, denken, nämlich eines mit “den Dienst quittieren” – also den “Dienst” des Körpers, und zugleich mit Quittung für “Beleg”.

  2. jedes mal, wenn ich auf die dschungel heute klicke, lese ich als erstes:
    NACHBAR, VOLL und muss mir vorstellen, wie es ein gedicht zum feuerlöschservice wird, von dem sie hier mal schrieben, der bei ihnen im haus sein soll? der hatte auch noch so einen dollen namen? und ich muss an wilde feuerlöschpartys denken, wenn ich mich an NACHBAR, VOLL verlese.

    1. könnte rampe sein -erleichterungshalber, ausm keller.
      aber dexter iss ja nich intelligent, son angepasster, so mit kraft oder so.
      son kraftlhubereifachmann für gediegenheitsplauscherei.
      son gekoofter.
      naja wat spul ick da ab für dich.

    2. @diadorim zum Feuerlöscher. Sie haben eigentlich recht… “eigentlich”, nun ja. Hm. Egal.
      Der Laden, auf den Sie sich beziehen, heißt DINOR FEERLÖSCHSERVICE und spielt, persönlich für mich und einige Mitbewohner der vier Häuser, für die die Dunckerstraße 68 steht (schon das an sich eine tolle poetische Reihe: Vorderhaus-Nebenhaus-Quergebäude-Gartenhaus, und letztres mit d r e i Eingängen; er es klingt nach dem kleinsten, ist aber das größte Gebäude)… also spielt eine ganz andere Rolle für uns als die, Vorsorge gegen etwaige Feuer bereitzustellen; sondern man nimmt in dem kleinen Geschäft gerne und selbstlos Postsendungen für nicht anwesende Bewohner entgegen und bewahrt sie bis zu deren Rückkehr auf. Man könnte darüber in der Tat ein Gedicht schreiben.
      “Nachbar, voll” (betrunken) hätte a u c h was, gar keine Frage – nur wäre ein solcher Text schon vom T i t e l auf Komik festgelegt, eine wohlfeile Komik, was an der Kombination der Titelrhythmik durch das Komma und den dann umgangssprachlich näher bestimmten Nachbarn liegt.

    3. wiglaf droste würde ihnen NACHBAR, VOLL sicher schreiben. lesen wollten wir das beide dann aber vermutlich nicht. hm, ja, das wohlfeile, als wohlthats wohlfeile bücher hat es mein studentenleben doch bereichert. man lebte ja von modernen und unmodernen antiquariaten.
      ansonsten wäre aber die neue sachlichkeit in ‘Nachtbar, voll’ schon auch schadographisch aufbelichtet, und, wenn nicht festgelegt, doch zumindest deutlich richtungsweisend. man soll ja durch den benn hindurchschauen, aber was sieht man, oder soll man sehen, über den benn, also, das, was benn auch schon gesehen und beschrieben hat, hinaus, hab ich mich dabei gefragt? pastiche will es nicht sein, oder? wenn es das werden wollte, dann hätte es sich vielleicht ‘Nachtbar, 824’ genannt. hm, bin etwas ratlos, epiphania sieht sich ein bisschen angekettet hier.

    4. Wohl wahr, diadorim. “Wir wollen nicht mit Droste lachen!” wär mal einen Sticker wert.

      Zum Gedicht”anlaß” selber: Mir geht es manchmal einfach so, daß ich etwas registriere und mich im selben Moment frage: kann ich das ausdrücken? Bekomme ich das, z:b., in ein Gedicht. Im Rahmen eines Romans wäre es leichter, aber zu unnötig, allenfalls als Grundierung einer Szene zu gebrauchen. Hab ich in THETIS mehrfach getan, da ließ sich sowas auch leitmotivisch unter die Handlung setzen und strukturierte sie. Hier geht es um etwas anderes, “wirklich” um einen Moment, eine Auffälligkeit. Ob mir das nun gelingt oder nicht (gelungen i s t oder nicht), tut da erstmal nichts zur Sache. Daß ich w i l l, daß es mir gelingt, steht dabei außer Frage. Wobei es mit dem “über den Benn hinaus” auch so eine Sache ist. Weshalb eigentlich? Weil es sich nur um das Immergleiche handelt, das aber doch auf einen anderen als Benn, und sei’s nur im Detail, anders wirkt? Sie unterschätzen vielleicht auch “Entwicklung”: hört man die frühen Arbeiten Richard Wagners, hört man immer und immer wieder den Beethoven durch; dennoch sind sie von Beethoven ganz verschieden; man merkt ihnen schon ein Späteres an – selbstverständlich, weil dieses Spätere dann k a m und Wagner eben nicht dabei stehenblieb. Ähnlich Allan Pettersson und Mahler, Schostakovitch und Mahler. Viele Entwicklungen verstehen wir, ja bemerken sie erst im Rückblick. Wenn sich ein Künstler auf “aber das hat doch der und der schon gemacht (diese und jene)” einläßt, hat er/sie von vornherein verloren.
      Doch, rein interessehalber: wo, abgesehen vom Sujet, steckt in dem Gedichtentwurf tatsächlich so viel Benn? Schon, wenn ich an sein melodiöses “Rechtsanwalt mit rotem Nierenschwund” denke (h i e ß es “rotem”?) – worauf Sie sich wahrscheinlich beziehen, obwohl das in keinem von Benns Nachtcafé-Gedichten vorkommt, die ich eben alle mal nachgelesen habe… – Ah – h i e ß so, ja! H i e r steht’s: “Aber du -?”, Benn GW, Gedichte in der Erstausgabe, FFM 1982, S. 448:

      Flüchtiger, du mußt die Augen schließen,
      denn was eindringt, ist kein Großes Los,
      abends im Lokal ist kein Genießen,
      selbst an diesem Ort zerfällst Du bloß.

      Plötzlich sitzt ein Toter an der Theke,
      Rechtsanwalt, mit rotem Nierenschwund,
      schon zwei Jahre tot, mit schöner Witwe,
      und nun trinkt er lebhaft und gesund.

      Auch die Blume hat schon oft gestanden,
      die jetzt auf dem Flügel in der Bar,
      schon vor fünfzig Jahren, stets vorhanden
      Gott weiß wann, wo immer Sommer war.

      Alles setzt sich fort, dreht von der alten
      einer neuen Position sich zu,
      alles bleibt in seinem Grundverhalten –
      aber du -?

    5. die sache ist in kürze die: ich fühle mich nicht zerfallen, ich fühle mich zusammengepresst. heute morgen dachte ich auch, dass ich ein anderer sein soll, ist eine erfindung des PEN-clubs, damit man nicht denken muss, aber das hat doch der herr kehlmann höchst selbst gedacht, wenn er es auch einen gauß oder humboldt oder kaminski sagen lässt, dass ist ja vielleicht noch das gute bei goetz, dass man beim schnellen kyritzklagechefkochmützenwechsel das noch mal deutlich vor augen geführt bekommt, was das allüberall für ein sekundärwissenschaftlich uffgejazzter karneval doch häufig nichtsdestotrotz ist.
      und da denke ich dann, ja, goetz, ich bin nicht ganz blöd und dass er natürlich eh nur bücher schreibt, die leute zur hand nehmen, die nicht ganz blöd sind und die auch jeden affirmitätsvorwurf seinerseits getrost in die glutenkiste treten können, und sich nur aus nettigkeit daraufhin an die eigene nase fassen, doch aber in restituierten selbstvertrauensmomenten sich sagen dürfen, man braucht keinen langen löffel, um mit dem teufel zu tisch zu sitzen, weil man eh in die engelbar geht. wenn man dem teufel auch gern dabei zusieht, wie er auf sein einsam geparktes auto schaut. dafür nimmt man dann ja einiges in kauf, auch unlauter, in alle richtungen verteilte, affirmitätsvorwürfe im karnevalskostüm, die ich rückzuspielen auch nicht schlecht lust hätte, aber wogegen ich mich aus angst und autismus letztlich entscheiden muss.
      man muss auch beim ph-wert von sottisen aufpassen, daran erkennt man dann leicht, ob einer panscht oder dosieren kann. goetz dosiert zumeist, berliner borderliner lese ich zu selten, als mir da ein urteil anzumaßen.

      wo war ich.
      ah, ja, der benn steckt vor allem im richtungsweisenden titel, der mir, oder jedem, der benn kennt, sagt, gehen sie nicht direkt in die bar, gehen sie erst über benn, und über benn zurück in der bar, denkt ich dann, guck ma, noch ne bennbar, und dass ich einen mikekellycocktail bestellen wollen würde, aber nur ein cosimavonboninkrakencocktail zu kriegen ist, aber krake schmeckt saugnapfig. aber ich -? hm, ich kann mich damit abfinden. das schon.

    6. “was das allüberall für ein sekundärwissenschaftlich uffgejazzter karneval doch häufig nichtsdestotrotz ist”. Nun ja – und? War das nicht schon bei Thomas Manns nichtsdestoweniger grandiosem “Doktor Faustus” so (von Adorno Th. Mann referierter Schönberg)? Und eben d o c h anders? Und weil Benn eine Reihe Gedichte “Nachtcafé” nannte und es in “meiner” Nachtbar (der ich ganz bewußt keinen direkten Namen gebe, aber Sie kennen sie) ist, wie es in seinen Nachtcafés offenbar immer schon war, soll ich das, was mich da berührt, nicht mehr in Worte bringen dürfen? Ich meine, so gesehen, ist Goetz ja ziemlich billig: auch s e i n e Klage ist wohlfeil – sie wagt nicht mehr (soweit ich jetzt mitbekommen habe, mein Interesse ist arg gering, das Buch zu lesen…. also s o herum:) – was von den Referenten, die das Buch gelesen haben, zu lesen ist, sagt mir nicht, daß es bei Goetz ein Wagnis gibt, eine Geschichte zu erzählen, obwohl die Last des je-schon-Erzählten so groß ist; ich habe eher den Eindruck – aus den Erzählungen über das Buch, nicht aus dem Buch selbst, das ich, wie gesagt, nicht kenne -, daß sich Goetz vor dem Anspruch des Erzählens versteckt. Dazu paßt, daß er sich seinerzeit in einem seiner Tagebücher über THETIS durchaus lustig gemacht hat, über den Ansatz, noch erzählen zu wollen. Es gibt dabei gar keinen Hinweis, daß er nun m e i n Buch kennt. So sag dann umgekehrt i c h abfällig: Nun wohl, er traut sich nicht. – Oder g i b t es, nur einer würde mir reichen, Charactere in “Klage”, die Figur wären, mit der man fühlt, wie mit Mme Chauchat gefühlt werden kann, mit Josef K., mit Buck Mulligan, mit Seaman Pig Bodine, mit dem Herrn Kortüm, mit Don Carlo oder dem Grafen Godoitis oder mit Nina, dem Stern der Romani?

    7. ja, das war vermutlich bei thomas mann schon ganz ähnlich, und doch, dieses hin und her, wie wir es hier gerade in einer grossen geschwindigkeit von einem rechner zum anderen betreiben, von einem sonnig windigen sao paulo in ein sonnig windiges berlin, das kannte thomas mann nun doch wieder nicht und träumte in pacific palisades vom lübecker backsteinexpressionismus, auch wenn er dabei nicht wie carl einstein schrieb.

      hm, das wagnis, eine geschichte zu erzählen. das klingt schön und wahr. aber irgendwie auch wie das wagnis vom zehner zu springen, und dann steh ich da oben, und das wasser lockt: spring, spring, und dann denke ich, aber wieso denn, und, ist vom zehner eintauchen irgendwie erhabener als vom beckenrand?

      dass es diesen charakter noch geben soll, wo man vielleicht eher frei flottierende charakter ohne person wahr nimmt, daran laborierte ja vielleicht schon ein MoE. mit ulrich kann man nicht fühlen, mit dem kann man nur denken, deshalb gibts ja noch agathe, mit der kann man auch fühlen.
      mit klage tut man doch irgendwie beides, wenn man denkt, dass man auch so denkt und fühlt hin und wieder, aber man braucht dafür eigentlich nur das paar augen, durch das man da blickt, kommt mir so vor.
      und, nein, meine rezeption ist ja meine rezeption, das sollte niemanden hindern, seine eigene rezeption zu betreiben. vielleicht ist er ihnen viel näher, als ich meine und denke. ich denke, er versteckt sich nicht vor dem anspruch des erzählens, ich denke, er fragt sich und klage, ob es diesen anspruch sinnvollerweise, für niemand anderen als ihn selbst, und wie er die dinge betrachtet, noch geben kann.

    8. @diadorim. Figuren erzählen. Vielleicht ist es ja auch “ganz einfach” eine Frage der Lockung, des Sich-Verführen-lassens, kurz: der L u s t daran, eine Geschichte mit Personen zu erzählen. Wobei ich ja ganz auf der theoretischen Seite derer bin, die – traditionell gefaßte – Charactere als nicht mehr so ohne weiteres reproduzierbar betrachten; die Frage, die ich mir immer gestellt habe… nein, Quatsch, die Lockung, der ich nachgegangen bin und immer noch weitergehe, ist die, Charactere zu schaffen, die sowohl in Auflösung begriffen w i e als Personen nachfühlbar sind. Beides. D a s ist für mich das Abenteuer Literatur. Als ich damit anfing, wollte ich die kommende Roman-“Serie”, die ich ziemlich genau, bis heute zu ANDERSWELT, vor Augen hatte, also schon mit sowas um der 25, Die Konstruktion des Widersinns nennen; heute wär mir das arg viel Peter Weiss. Die g a n z großen Leseerfahrungen (abgesehen von Aragon) lagen ja auch noch vor mir: Niebelschütz, Marianne Fritz, Lezama Lima, Cortázar, Burgess’ “Earthly Powers”, sowie Ishiguros “The Unconsoled”; schließlich, als ich schon mittendrin steckte, als sozusagen bestätigende Kollateralunterstützung: Pynchon. (Im Film Godard und Rivette, Lynch und Cronenberg; außer denen lange lange nix.) Lyrik kam, wie schon berichtet, erst spät: begleitend vor allem Benn im WOLPERTINGER, dann – auf dem Weg über die Musik Rilke (durch Frank Martin in diesem Fall), aus der Freundschaft mit ihm Paulus Böhmer, d arüber Whitman und schließlich Pound. Ich selbst dann zurückgerudert: erstmal die Formen erlernen.

    9. frage betreffs charakter @ diadorim es würde mich wirklich einmal interessieren wie man das wort charakter
      konkretisieren kann, ohne dabei einen gesellschaftlichen “zustand” zu berücksichtigen.
      wären das dann eigenschaften von zart bis hart, von egoistisch bis altruistisch usw. ?
      also körperliche merkmale wie von gross bis klein oder von schwer bis leicht
      oder von alt bis jung gehören ja wohl nicht zu einem charakter, oder ?
      was wäre mit gruppenspezifischer sprache – also szenejargon z.b. – könnte man
      das auch noch zu einem charakterbild zählen oder geht es nicht summa sumarum
      um eine moralische haltung zur welt, welche egal auf welchem sprachlichen niveau auch immer als eine allgemeinverbindlich sein könnende ( haltung ) schliesslich mit charakterstärke ( – grösse ) beschrieben wäre ?

      entschuldigung bitte dass ich jetzt nochmal dieses alias verwende – mir fällt ganz einfach kein gutes ein.

    10. ich denke charakter zielt auf unterscheidung, differenz, insofern ist ulrich ein charakter im MoE, denn er unterscheidet sich von dem restlichen personal, was sich untereinander ebenso unterscheidet, aber letztlich nur durch ihn gespiegelt. strenggenommen halte ich den MoE für ein personal erzähltes fragment, weil es eben keine differenz in den beobachtungsinstanzen gibt, selbst wenn es nicht ulrich sein kann, wird doch immer wie aus ulrichs perspketive weiter erzählt. musil selbst beschreibt im mensch ohne charakter den haufen schrott, auf den man sich mit fremd- und selbstzuslosung aus dem gerade vorhandenen zusammenpresst, als den charakter, den es zu vermeiden gilt. die stärke bestünde in der zurückweisung von all dem, was man so angeheftet bekommt und selbst noch dazu heftet. in dem sinne besteht die stärke der charakterlosigkeit eben in der festlegungsverweigerung, dieses etwas sei pop und dieses etwas sei nicht pop zb, ohne aber zu meinen, es sei darum schon ununterscheidbar eins.
      pop würde vielleicht unter auslassung von zuschreibung behaupten, er sei in diesem sinne charakterlos. nicht pop würde charakter kreieren, denen zuschreibungen letztlich suspekt sind, womit nichtpop letztlich in einem herkömmlicheren sinn moralischer, oder, sagen wir, nachvollziehbarer für moralisch denkende menschen, verführe. mal gams vorläufig. ich müsste jetzt mal an die sonne.

    11. @ diadorim ich vermute : wenn man keine eigenschaften mehr hat so hat man irgendwie alle eigenschaften welche sich gegenseitig – insofern man dialektisch herangeht – theoretisch aufheben ( können ).
      wenn ich den ausdruck charakterstärke noch einmal einwerfen darf, so bestünde
      diese wohl grundsätzlich in einer fähigkeit eines sich behaupten könnens innerhalb einer dann unverbiegbarkeit ( o.ä. ) eines festen wertekonzepts ( welches als solches erst einmal völlig undefiniert wäre )
      sie müssten mir den unterschied popcharaktere zu klassischen charaktern vielleicht noch etwas markieren – ich stolperte nur gerade über den ausdruck charakter, was mich fragen liess.
      ( eigentlich ob z.b. hyperthymie oder schizoides etc. schon charaktereigenschaf- ten wären oder reduzierter über die grundtypen : melacholiker / sanguiniker / choleriker / phlegmatiker als unterkategorien für eine mögliche nähere charakterzuordnung )
      ich würde sagen man spräche mitunter im pop eher von figuren als von charakteren – von eher auf funktionalität hin ausgerichteten personen, die sich
      irgendwie hart am alltag bewegen.
      aber ich denke das liesse sich nicht exakt von charakterisiertheit ( und letztlich von charakter ) trennen.
      selbst comic figuren haben noch charaktermerkmale.
      naja – das assoziere ich gerade noch so dazu – viel spass in der sonne, danke für
      ihre antwort und ich stell das halt noch hoffentlich zwnaglos dazu.

    12. @ Charakter ich vermute, dass sich die Bedeutung von Charakter verändert hat. Ungefähr so wie das Wort “brav”. Früher war ein braver Mann mutig, aufrichtig, heute würde man das mit brav nicht mehr so beschreiben.
      Darüber hinaus ging es Musil wohl nicht darum, Beobachterkontingenz von Charakter zu beschreiben, ich denke eher, er wollte auf Partikel hinaus. Also Partikel sind nicht direkt beliebig oder unscharf, aber sie sind eben Funktionen einer statistischen Menge. Sehr witzig ist ja, wie er den “Großschriftsteller Arnheim” beschreibt. Also so ein Wort zu kreieren, fand ich sehr lustig. “Großschriftsteller Arnheim.” Indem er den Traum aller erfolglosen “KleinSchriftsteller” in so ein Wort tut und daraus eine Figur inszeniert, das hat wirklich Schuss. Fühl mich auch selbst immer dabei ertappt bei meinem Traum vom Großschriftsteller.
      Also Musils Roman beginnt nicht umsonst mit einem Wetterbericht, mit der Beschreibung eines Tiefdruckgebiets.
      Musil kommt aus der Naturwisscnschaft von Ernst Mach, ein äußerst wichtiger Physiker und philosophischer Diskutant damals, der auch Einstein beeinflusst hat, und Musils Ulrich ist – ja – bereits wirklich ein Partikel, das statistisch mit dem Prozss wechselwirkt, das eine Funktion hat, reflektiert, und den anderen auch ein bisschen beim Funktionieren zuschaut. Der Roman beginnt nicht umsonst mit einem Wetterbericht. Und wie er dann auch das Gesellschaftliche sowohl sprachlich auch auch geografisch anfasst – mit Kakanien und so…mein lieber Herr Gesangsverein – und dabei kommt er auch noch mit relativ wenig Personal aus…also bei Musil stehe ich immer davor und denke – Mann, der Typ ist wirklich gut. Dichter meiner Zeit. Ich habe den dritten Band noch nicht gelesen, und will das tun, wenn ich ganz viel Ruhe habe.

  3. kommentatorenbashing ein blindes tun findet auch mal ein vorn.
    alles auf anfang büdde.
    jetzt tragens halt was zur sache bei, oder setzens sich da einfach still hin und blättern doch im programmheft bitt schön, ich hab da auch schon blättern müssen, so, gerechtigkeit muss sein, ausgleichende zumal.

    1. so geht der klang des widerstandes in ästhetik über.
      macht abstrahiert, macht gewinnt was macht ist.
      dich.

    1. Der Philologe Albin Lesky hat einmal – bezugnehmend auf eine Antigonedramaturgie von Jean Anouhil – darauf aufmerksam gemacht, dass man die Tragödie daran erkenne, dass eigentlich nichts geschieht. Oder anders gesagt: Immer dort, wo nichts geschieht, befindet man sich in einer Tragödie.
      In einer Tragödie geschieht nichts. Es gibt keine Handlung, da von vorn herein klar ist, dass die Figuren alle auf abschüssiger Ebene in Richtung ja…was eigentlich…. sich zubewegen.
      Die Tragödie hat kein Ereignis. Keine Handlung.
      Im Gegensatz zum Drama.
      Bei einem Drama hat man es grundsätzlich mit einem balanceoffenen Gebilde zu tun, auch wenn es sich am Schluss auf eine Entscheidung hin zuspitzt.
      Die Tragödie dagegen ist immer schon entschieden.
      Ich fürchte, dass der Dschungel nun, wenn nicht schon seit längerer Zeit, in seine tragische Phase eingetreten ist.
      Zeit ohne Geschehen.
      Cellini wird weiter ihre Texte simulieren.
      Diadorim den Ameisenbären beträumen
      Und Herbst seinen fleischigen Penis.
      Jeden Morgen.
      Bis in alle Ewigkeit.
      Kühler werdend.
      Frierend.
      Kalt.

      Und dazwischen: Zeitungsartikel, Opernkritiken.

      Dabei ist es völlig egal, wer Sumuze, Cellini, Herbst, Reichenbach…etc…. “wirklich” ist.

      Ob Avatare oder nicht.

      Dass es egal ist, macht die Ereignislosigkeit.

      Das Austauschen von Argumenten, zeigt, dass sie tauschbar sind, und darin – egal.

      Die Argumentmaschine.

      Verlorenheit macht sich auf die Suche nach ihrer Zeit.

      Insofern haben Herbst, Cellini, Sumuze, Diadorim, HölderLine, ppa – alle Recht.

      Es wird auf ihrem Grabstein stehen: Sie haben sich nie gestritten. Sie hatten alle Recht.

      Dazwischen: Zeitungsartikel. Opernkritiken. Geldnöte – ja – auch.

      Sie waren geteilter Meinung – und tauschten sie untereinander aus.

      Jeden Morgen.
      Bis in alle Ewigkeit.
      Bewegungslos.
      Vor Hitze frierend.
      Tragisch.

    2. also los, dann fangen sie an, mit dem streiten. reden sie denn überhaupt mit uns? nein, haben sie nie getan. sie summaryfetischist. setzen sie sich doch zu uns, wo ja auch auf ihrem grabstein nichts anderes stehen wird. der friedhof der nuscheltiere hat viel platz. er bestattet auch propheten, günstig, diskret und zuverlässig.

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