Die „eigentliche“ Geschichte geht so: Der Pariser Kunsthändler Michel kommt in eine kleine Stadt, weiß sich kaum zu erinnern, hat aber die Sehnsucht nach einer Frau, die er dort einmal in einem Fenster sah, woraufhin er sich bleibend in sie verliebte. In sich nannte er sie Juliette und sucht sie also nun. Dabei begegnet er verschiedenen Menschen, die sich alle nicht, an nichts, erinnern können. Dennoch findet er Juliette, aber sie entspricht nicht seiner Imagination; das nimmt seiner Liebe aber nichts.
Die beiden kommen tatsächlich zusammen. In einem Wald aber, anläßlich ihrer beider in Streit übergehenden Rendezvous‘, erschießt er sie. Die Leute strömen zusammen, wollen ihn richten, doch er weiß es abzuwenden, indem er ihnen von etwas erzählt, das sie ja alle nicht mehr haben: eine Erinnerung. In der indes löst er sich selbst auf und kommt im dritten Akt aus dieser seinen Fantasie in einem „Zentralbüro für Träume“ wieder zu sich, wo sich zeigt, daß imgrunde alle männlichen Liebesprojektionen Juliette heißen: Der Name (aber nicht die Person!) steht für die idée fixe Berlioz‘ oder sagen wir für die erotische Anima-an–sich. Doch da man ihr „tatsächlich“ nur im Traum begegnen, erst recht sich mit ihr nur in einem solchen vereinigen kann, ist für Neveux‘ wie für den Surrealismus insgesamt der Dauerzustand somnischer Entrückung, den ein „normale“ Mensch Wahnsinn nennte, erlösend. „Entsprechend ist das Ende keine Katastrophe,sondern ein surrealistischer Glücksfall“, schreibt im Programmheft Ivana Rentsch.
Guth indes sieht Eskapismus darin.
Darf man das, die Aussage einer Fabel derart verkehren?
Sicher. Denn was ist ‚verkehrt‘? Es geht bei Regie um Interpretation, nicht ums Affirmieren, bzw. bloßes Durchexekutieren von Handlungsanweisungen. Freilich sollte vorausgesetzt werden, daß das Publikum die Grundgeschichte kennt und die Umwertung also verstehen kann – und eben auch, weshalb Guth die Pistole, die bei Neveux/Martinů erst im zweiten Akt auftaucht (was in Träumen ja geht: plötzlich hat man sowas in der Hand), von Anfang an zu einem bildlichen Leitmotiv macht; es wird im Lauf des dritten Aktes geradezu bedrohlich inflationär, aus der einen Waffe werden zunehmend mehr: Permanent fallen da diese Pistolen aus den kassettenartigen Tafeln, die den Raum tapezieren, der die Stadt vorstellen soll. Diese wird imgrunde als eine (Anstalts?)Zelle gezeigt; allerdings läßt sich das Bild auch konzeptuell verstehen, was dem rationalistischen Regieansatz entspräche und dennoch die andere Lesart nicht ausschließt. Erst der dritte Akt verungefährt sich in ein surreal Unkonkretes, indem die Stadt sich so weit nach links zurückrückt, als schaute man umgekehrt durch ein Fernrohr, und in ganzer Breite und Tiefe davor in wallendem Nebel gespielt und gesungen wird.
Das wird durch Rolando Villazóns Neigung zur mimischen (komödiantischen) Übertreibung noch verstärkt; für meinen Geschmack hätte es gutgetan, ihn im Interesse der Rolle hie und da nachdrücklich an die Kandare zu nehmen; sie, die Übertreibung, mag zwar anschaulich machen, stört aber doch sehr die Glaubwürdigkeit.
Entsprechend übertrieben showhaft war nachher seine Entgegennahme des Applauses; und wie er die grandiose Magdalena Kožená immer wieder nach vorne schob, als wollte er auch ihr einen besonderen Anteil gönnen, abgesehen von seiner permanenten Handküsserei, hatte etwas unangemessen Gönnerhaftes, auch wenn er‘s in so gespielt jugendlicher wie freundschaftlicher Burschikosität tat. Bescheidenheit ist seine Sache offensichtlich nicht, mußte es allerdings auch nicht sein, gab ihm „sein“ Publikum fanhaft jubelnd zu verstehen. Da störte es auch nicht, daß Villazón, wenigstens in der von mir gesehenen Premiere, sogar das Orchester dominierte – was an seinem äußerst präsenten, wenn auch nicht immer klangschönen, hin und wieder sogar jammernden, weil scharf gepreßten Tenor liegt; die Stimme war quasi tiefenlos – völlig anders als Kožená, deren Klangweite ihre surreale Partie mehr als nur füllte, in der direkten Begegnung mit Michel aber ebenso notwendig eng wird: wie die Rolle es da braucht, nämlich mädchenverschwärmt oder, als sie auf Widerstand stößt, so zickig, daß sich der Träumer Michael nur noch mit diesem verhängnivollen Schuß zu „wehren“ weiß – wobei Martinů und Niveux offenlassen, ob nicht auch er eigentlich nur imaginiert ist.
In jedem Fall gut war, daß sich Barenboim und Guth – nach im vergangenen Jahr Zürich – für die französische Fassung entschieden haben, die die ursprüngliche war; die tschechische entstand erst nachher, als es zur geplanten Pariser Uraufführung nicht gekommen war. Ich selbst habe hier auch noch einen deutschsprachigen Mitschnitt der Salzburger aus den Achtzigern, unter Pinchas Steinberg, die tatsächlich noch ergreifender ist. Überhaupt fällt gerade an der Juliette, bzw. in den anderen Fassungen Julietta, der Einfluß des sprachlichen Idioms auf den Melos extrem auf; ein ähnlicher „Fall“ ist, für mich, >>>> Verdis Don Carlos.
Barenboim läßt sein Orchester diese expressiven Momente der Musik deutlich betonen, ohne aber dabei exzessiv zu werden; gleichsam geht er vornehm damit um. Das formt das un|terlaufende Melancholische (oder, besser, Lyrische) – völlig anders als das aufs Groteske ausgerichtete Spiel. Bisweilen erinnern die musikalischen Phrasen und besonders das Sehnsuchtsthema an Motivgesten, Barenboim wird es nicht gerne lesen, Othmar Schoecks, manchmal auch an, das wird ihm wieder gefallen, Janácek. Und es bestehen Verwandtschaften zum Frank Martin des >>>> Vin herbés. Eine größere Entfernung zur handfesten Melodie-, ja Gassenhauerorientierung etwa Puccinis ist jedenfalls im Feld der Tonalität kaum denkbar. Dabei liegen zwischen dessen, Puccinis, letzten Arbeiten und der Julietta keine zwanzig Jahre, ganz wie zu Bretons Surrealistischem Manifest; auch läßt sich Martinůs Oper wie schon der Surrealismus selbst als, bei Martinů zeitversetzte, Antwort auf die >>>> Neue Sachlichkeit begreifen, auch wenn sie eben, wie diese, auf Schmelz weitgehend – und bewußt wohl – verzichtet. In der Premiere jedenfalls war dieser Schmelz Tenorgeplärr. Zur Rolle freilich eines tatsächlichen Mörders, oder cholerisch ausgerasteten Totschlägers, paßt das; insofern hätte Guth für den Michel einen besseren Sängerdarsteller als Villazón gar nicht finden können, indes die Flexibilität der großen Stimme Koženás sich jeder Interpretation einzuschmiegen wüßte – ja in jeder für das Traumobjekt stünde, das Julietta i s t – die Anima der in Schlaf- und Halbschlaf träumenden Männer, der keine konkrete Frau jemals zu entsprechen vermag.
Bohuslav Martinů
J U L I E T T E
Lyrische Oper in drei Akten von Bohuslav Martinů H. 253
Text von Bohuslav Martinů nach Georges Neveux
Inszenierung Claus Guth Bühnenbild Alfred Peter Kostüme Eva Dessecker
Choreographie Ramses Sigl Licht Olaf Freese Dramaturgie Yvonne Gebauer und Roman Reeger
Magdalena Kožená – Rolando Villazón – Richard Croft – Thomas Lichtenecker – Wolfgang Schöne – Elsa Dreisig – Adriane Queiroz – Arttu Kataja – Jan Martiník – Natalia Skrycka – Florian Hoffmann
Staatskapelle Berlin
Staatsopernchor
Daniel Barenboim
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Juliette-Trailer.
©: Staatsoper im Schillertheater Berlin 2016