Reisejournal, Zehnter Tag. Konzerthausorchester Berlin. Madrid und der Abschied. Sonntag, der 17. Februar 2008.

8.25 Uhr:
[Madrid, Hotel Praga. Erstes Kaffeekännchen]Es gibt Aufführungen, die haben ein Geheimnis, das wie das Geheimnis des Lebens selbst ist; was immer man erklären will und vielleicht auch wirklich erklärt, es bleibt da ein deutlich schwingender Rest an Ungefährem, an etwas, das sich n i c h t oder nur andeutungsweise auflösen läßt. Zugleich aber hat man selbst es voll in der Hand, nein, da ist niemand von außen, es zu steuern oder gar zu schaffen; man schuf selbst. Manche Sätze sind so, manche Formulierungen nicht nur in Gedichten, nein, auch in Romanen, und sogar in theoretischen Texten kommen sie vor. Man sieht sie dann an und ist ganz perplex; Jahre später stellt sich der Eindruck her, man habe sie gar nicht geschrieben, sondern etwas durch einen hindurch. Aber das täuscht, weil das Moment des Entstehens so lange zurückliegt, und die schöpferischen Momente sind nicht mehr spürbar.
Gestern abend ist so ein Abend gewesen, im Stravinski kündigte er sich schon an und brach in Severin v. Eckardstein durch. Das hatte eine solche Stupendität, daß zwar gebravot wurde, aber man den Kopf schüttelte, als wollte man einer Halluzination ledig werden, die dennoch nicht wich. Deshalb wich man selbst, das Publikum ließ die zahlreichen Hände sinken und strömte in die wie in Spanien hier immer sehr kurze Pause. Kaum hast du deine Zigarette entzündet, ruft’s dich schon wieder herein. Da wars ja bereits nahe halb zwölf Uhr nacht, als…

… als sie den Schumann b e g a n n e n, La Renana, die Rheinische, Dritte. Und als sie geendet hatten, brach der Jubel los. An die achtmal mußte Zagrosek wieder herein, Bravos schallten, es wurde geklatscht und geklatscht, und die Zugabe gedieh in einer solchen mozartschen Leichtigkeit, unter der die mozartschen Wolken aus moll so ferne glommen, wie Gewitter sich ferne ankündigen, die aus der Erde, nicht dem Himmel stammen – daß man weinen hätte wollen, wäre der Tanzschritt nicht gewesen, nicht eine solche lächelnde Nähe über alledem hin.
Das Geheimnis aber lag in dem Schumann. Denn eben schon ganz der Beginn war nicht einig, immer wieder schwangen Spuren von Dissonanzen im Raum, von der die Partitur nichts weiß, sondern sie stehen zwischen den Zeilen, niemand hat sie notiert, sie geschehen – und es ist der Moment ihres Aufklangs, der nun entscheidet, ob alles daran kaputtgeht oder ob – ja, ob man sie n i m m t und faßt und sie trägt, und ob man sie schließlich versöhnt. Das hat ein wenig etwas von Lästerung. Ihr wollt wiederholen, >>>> was euch beim Bruckner gelang? Seid doch bescheiden! ruft’s wie aus den Elementen… findet euch ab, begnügt euch! Menschen sind fehlbar..! Wir aber sind prometheisch, und anstelle uns nachts in die Ecke zu kauern und fröstelnd drauf zu warten, daß wieder Tag wird, nehmen wir das Feuer auf die Fackel und halten es ans Holz, das wir zusammenzutragen lernten. So tat Lothar Zagrosek gestern abend, und so tat jeder einzelne Musiker mit. Kaum daß die erste Unstimmigkeit auch nur aufgeschallt war, ging ein Zittern durch den Mann, das ihn zugleich aufrichtete, vorbeugte und das Tempo anziehn ließ. Er nahm das Orchester, das hier hätte abstürzen können, und immer mal wieder, er nahm’s und hob es und stürmte dann mit ihm voran, denn alle, alle folgten. Er nahm das Orchester, indem er ihm die scheinbar falschen Zusammenmomente nicht übelnahm, sondern merkte, welch eine Chance darin lag, diese Sicherheit übertrug sich, der Ton wurde enorm und gewaltig beharrend: Hier sind w i r und sind e i n Orchester, und wir drehen das jetzt, so daß sich der ganze gemütliche Muff, den diese Sinfonie nun ja a u c h hat, verblies; da konnte keiner mehr sitzen und Gemütlichkeit stricken und wie ein Backfisch seufzen, weil er den Schönen, den er sah, ja doch nicht kriegen wird und sich abfindet drum, ich h a b halt diese Pickel… nein, eben nicht. Sondern ich will. Und werd ihn erstreiten. So erstritt sich das Konzerthausorchester Berlin seinen Schumann, und wir, die zuhören durften, erlebten eine Musik, wie sie sich selbst gebar, nicht eine, die sich im ersten Takt schon gealtert aufs Podest stellt, um ihr konserviertes Genie bewundern zu lassen und doch schon eigentlich tot ist.
Wenn ich so schwärme, Leser, so darf ich’s, weil ich Schumanns Dritte imgrunde nie mochte in der verklemmten Jubelseligkeit ihres fanfarenden Heroen-Blechs und den gefädelten Zierratsgesten Höhere Töchter, die den tumben Heroen ihre geklöppelten Spitzenstrümpfe zeigen und noch rot werden dabei, obwohl’s doch nur die Waden sind, was man(n) sieht… diese tönende Biedermeierverklemmtheit ist mir völlig zuwider. Man kann nur mit Sünde erwidern, mit Hoffart und Überhebung, wenn einer da frei atmen, sich freiatmen will. Deshalb sprach ich von Lästerung, guter, selbstbewußter, emanzipierter, und zwar ohne metaphysischen Schnickschnack, hinter dem doch immer ein Vatergott droht, wenn man nicht kuscht. Was Lothar Zagrosek und seinem – ja: seinem – Konzerthausorchester gestern abend gelang, ging über das Maß einer gelungenen, geschweige perfekten Aufführung ganz weit hinaus, und gerade die Momente des Unperfekten ermöglichten eine Schönheit, von der wir fälschlich meinen, daß das Perfekte sie habe. Gestern abend gaben Zagrosek und das Konzerthausorchester dieser Sinfonie ihre Wahrheit zurück. Sie nahmen ihr das ausgestellt Gute.
Und doch, es bleibt ein Geheimnis, wie jede Geburt ist.Achtmal also mußte Zagrosek dann vors jubelnde Publikum treten, vielleicht waren’s nur sieben, vielleicht waren’s neun. Achtmal hieß er das Orchester sich erheben. Ich habe ihn selten so strahlen gesehen, und eben nicht nur beim Applaus, sondern lange vorher schon, lange bereits im Dirigat; der sonst so puristische, fast mönchige Mann hatte, was man nicht zwingen kann: Magie… i n d e m er sie erzwang. Da kam eine Sicherheit über die Musiker, die jeden kleinen Patzer ins Nun-erst-recht! überführte, und schürte: nämlich das Feuer, das in jedem von ihnen brannte, und wo’s noch erstickt lag, lohte es auf. Mit einem Mal waren sie eines. Da kam keiner davon mit Routine, da hatte jeder teil – jeder, von denen auf dieser Reise hier erzählt worden ist, in deren Gesichter Sie schauen können auf den kleinen Bildchen, wie sie lachen und Busse besteigen und Wein trinken, Tapas essen und Albernheiten machen oder genervt sind und übermüdet, mit den kleinen Augen an den Morgen nach halb durchgemachten Nächten oder sowieso schlaflos, weil die Zimmerwände so hellhörig sind, daß man nicht ruhen kann in dem Lärm der Müllabfuhr nachts, oder weil man erkältet ist, oder sich nach einer Brust sehnt, und weil da der Kaffee ganz salzig…

10.10 Uhr:
[Madrid, Hotel Praga. Zweites Kaffeekännchen.]
Dabei hatten die Zeichen gar nicht so gut gestanden. Nicht nur wegen der ausgefallenen Musiker, sondern zwischen Anspielprobe und der Aufführung nachts waren Arbeitern des Hauses zwei Kontrabässe umgefallen, die waren und sind es noch – kaputt. Das wird ein versicherungstechnisches Nachspiel haben, aber selbst, wenn wir’s gewinnen – einer Aufführung hilft das ja nichts. Glücklicherweise hatte um 19.20 Uhr die spanische National-Philharmonie gespielt, so konnte man Bässe leihen. Für die Instrumentalisten ist sowas dennoch, weil unvertraut, unangenehm, ganz besonders den Fingern, die hören. Und fünf Minuten vor seinem Einsatz brach Helge v. Niswandt das Posaunenteil dann tatsächlich ab; es zahlte sich aus, daß er sich abermals vorher um ein Ersatzinstrument hatte bemüht. Dann war der Transferbus viel zu früh am Auditorio gewesen, da war so viel Zeit, die wir bei einiger Speise in einem Tapaslokal mit einem Volke verbrachten, das in dem unter der Decke montierten Fernsehgerät ein Fußballspiel verfolgte und enttäuscht worden ist. Aber sowieso: Um 22.30 Uhr ein solches Konzert zu geben, das war man ja gar nicht gewöhnt… „Es ist halb e l f – was i s t das?“ fragte neben mir der von diesem Tag gebeutelte Ulf Werner, als er die Mengen sah, die den Auditorio füllten. „Klasse“, sagte ich nur, im Genick die Erinnerung an Frankfurtmainer Nachtkonzerte… vor Jahren… „klasse“. Ein hungriges Publikum, hungrig auf Musik, besser kann es nicht gehen, ein Publikum, wie’s schon in Lleida war. In der Pause wieder mein liebevolles Hickhack mit Schneider, der sich, wie ich, das >>>> Caixa Foro angesehen hatte und eher beödet war von der dort gezeigten Kunst, die e r in Häkchen setzen wollte. „Aber ich merk ja: Sie sind von allem begeistert…“ „Nicht von allem, aber g e r n e begeistert, ja.“ Worauf er mit einem Bonmot reagierte, dessen Einfall wirkliche Größe hat: „Alles nach Palestrina ist Niedergang in der Musik.“ Er grinste und fügte bei: „Na gut, es gab in Bach noch mal eine kurze Erhebung.“
Dann war das Konzert vorüber, Ulf Werner, das Ehepaar Schneider und ich gingen das Dirigentenzimmer suchen und fanden’s; auch Frau Hoffmann war dabei. Zagrosek, allerbester, ja sprühender Laune, empfing uns mit etwas, das auch ich allezeit gedacht hatte und sowieso schon im Schwung war, ihm vorzuschlagen: „Das machen wir in Berlin a u c h!“ Er meinte Konzerte bei Nacht. „Ja!“ rief ich. „Ja!“ Worauf Frau Hoffmann: „Sie werden ihm da doch nicht etwas beispringen? Herr Herbst, wenn Sie das tun, kriegen Sie bei uns Hausverbot.“ Das geht: unwillig lächeln und doch zugleich amüsiert sein. Ich sofort: „Darf ich das zitieren?“ Sie: „Nein.“ Schneider zu Hoffmann: „Der zitiert sowieso alles, das hat keinen Sinn.“ Ich: „Au ja, Hausverbot finde ich prima.“ Zagrosek kam aus dem Glück gar nicht raus, das kleine Gehickhacke trug es nur noch. „Dieser Mozart! Ich könnte ihn jeden Tag dirigieren!“ Ich, jetzt ernst, zu Frau Hoffmann: „Nachtkonzerte, damals, in Frankfurt, was meinen Sie, was da für ein Publikum war…“ Wiederum Schneider: „Fahren wir mit Ihnen im Bus?“ Werner: „Es ist so voll alles.“ Ich: „Ach, ich stehe gerne während der Fahrt. Selbstverständlich kommen Sie mit, das wär ja gelacht.“ Werner: „Ich stehe auch.“ Man mußte die beiden fast ein bißchen überreden; noch draußen vorm Auditorio wälzten sie die Taxis hin, die U-Bahn her in den ereignismüden Köpfen.
Nachtfahrt durch Madrid; ich hatte den Eindruck, die Musiker wußten selbst nicht ganz genau, was ihnen heute widerfahren, was ihnen heut geschenkt worden war. Ihre Selbstkritik hatte etwas Irritiertes, weil sie merkten, daß sie zwar Grund hatte, aber nicht stimmte. Ich meinerseits probte im Kopf schon mal meine Formulierungen durch. „Sie müssen ja noch arbeiten“, sagte Schneider nicht ohne Süffisanz, als wir gegen halb zwei Uhr nachts am Hotel anlangten. „Nee“, machte ich, mit kurzem, ins apostrohierte „ä“ geöffnetem „e“: „Nä, jetzt trink ich erst mal was.“ Er: „Schlafen Sie n i e?“ Es gab da so etwas wie Freundschaft, als wir uns trennten, angetriggerte, mögliche, wie ein Zitat.
So zogen drei Musiker und ich in die nahstgelegene Tapasbar, die vom Abend zuvor, wo bereits andere Musiker waren und sich über die Nacht hin ein langes Gespräch entspann, mal nach hier, mal nach da… ich glaube, es war halb fünf, als ich ins Bett kam. Und seit acht Uhr bin ich dabei, dies hier zu schreiben. Eben kommt eine SMS herein: „Mojen Alban, wie ist’s mit Museum?“ (:Helge v. Niswandt. – Kurz vorher Anruf Matthias Benkers: „Ich bin so weit, und du?“ „Ich brauch noch eine Stunde, bin beim Schreiben.)

Um 15 Uhr geht der Bus zum Flieger. Um 22.55 Uhr werden wir in Berlin zurücksein. Ich muß noch packen, wild sieht’s hier aus in dem Zimmer. Und dann will ich tatsächlich noch hinaus nach Madrid und in die Museen. So daß wir uns, Leser, v o r Berlin kaum noch lesen werden. Von dem Flug erzähl ich dann morgen. Heute nacht ganz sicher nicht mehr. Denn wie wohl jeder hier, der solches hat, freu ich mich auf die Geliebte und meine Kinder. Und wer es nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund –

>>>> Ende der Reise.
Neunter Tag <<<< .

2 thoughts on “Reisejournal, Zehnter Tag. Konzerthausorchester Berlin. Madrid und der Abschied. Sonntag, der 17. Februar 2008.

  1. Ihre Berichterstattung, ANH, war für mich sehr schön zu lesen. In der Tat weiß man diese ganzen zwischenmenschlichen Geschichten nicht, wenn man vor einem Orchester sitzt und hört. Nun werde ich sicherlich mit einem ganz anderen Gefühl vor einem Orchester sitzen, und wissen, es sind Menschen wie Du und Ich. Schon allein die Mühen, die solch eine Reise macht, die Umstände, denen man sich immer wieder anpassen muss, und unter diesen Umständen dann anderen Menschen s o viel geben und s o geben.

    Haben Musiker eigentlich alte Seelen?…. es muss s o sein.

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