Diese Dynamik ist selbstverständlich eine der Abwehr, aber auch eine Verarbeitungsform; denn bisweilen ist beides dasselbe: Abwehr a l s Verarbeitung. Einem definitiven Feind, der einem wirklich ans Leder will, läßt es sich nur mit Abwehr begegnen. Ihn ‚anzunehmen‘ und ins Haus zu bitten, hieße, sich selbst in den Rücken zu schießen. An anderer Stelle wurden bereits geschrieben, daß Ghandis gewaltloser Widerstand mindestens so viele, wenn nicht mehr Opfer kostete, wie/als jeder gewalts a m e Aufstand zuvor. Freilich hatte er die Moral auf seiner Seite. Man kam sozusagen “im Recht” um.
In nicht ganz anderem Sinn ist die Offenherzigkeit zu verstehen, mit der Die Dschungel z.B. >>>> über den ökonomischen Offenbarungseid sprechen, der nun ins Haus steht. Davon zu publizieren, ist entweder verteidigender Waffengang oder, wahrscheinlicher, ein Präventivschlag im Sinne einer „Vorneverteidigung“, >>>> wie es 1956/57 vom Kommando der territorialen Verteidigung (KTV) der Bundeswehr so hübsch formuliert worden ist.
Indem nun Privatestes publiziert und dadurch ästhetisiert wird, schlägt es sich der Kunst zu, zumal dann, wenn es in künstlerischem Zusammenhang steht. Dies macht, wie alle Kunst, Elend nicht nur erträglich, sondern gewinnt ihm Lust ab; es ist eine Umgangsform, die sich der Produktivität verschrieben hat, dem – um es mit einem alten Wort zu sagen – Schaffensdrang. Man legt um das eigene Leben einen Rahmen, als ob es einen Sinn, ja sogar eine Logik hätte. Und wie beim stürzenden und/oder scheiternden Helden der Mythen wird der eigene mögliche Sturz kathartisch besetzt: es kommt zumindest „eine schöne Erzählung“ dabei heraus. Dabei spielt gar keine Rolle, ob eine solche schöne Erzählung natur- und sozialhalber beabsichtigt war; das war sie in aller Regel n i c h t. Aber man gibt ihm diese Form. Ob Rahmen und Bühne, in und auf dem sich nunmehr alles vollzieht, „Roman“ heißt oder „Weblog“, ist ganz gleichgültig; in jedem Fall hat man dem Unglück F o r m gegeben und beherrscht es also.
Nun ist diese Art der Vorneverteidigung nicht jedermann möglich. Die Crux dabei ist nämlich, daß ein Leben auch erzählwert sein muß, und das ist es nur, wenn es spürbaren Risiken ausgesetzt ist. Deshalb eignen sich im kathartischen Roman – dessen Rolle unterdessen vor allem der Spielfilm übernommen hat – besonders solche Protagonisten, die in ständiger Bedrohung leben: Geheimagenten, Soldaten, unglücklich Liebende, Wahnsinnige wie Lector usf., während der sogenannte einfache Mensch, dem es auf möglichst viel Ruhe und Sicherheit ankommt, nur dann nicht langweilt (im Roman langweilt, wohlgemerkt), wenn eben diese Ruhe und Sicherheit gefährdet werden. Haben sie sich wieder eingestellt, kam es also zu einem Happy End, dann ist die Ezählung auserzählt und alles, was später dann noch kommt, die gesamte Normalität, läßt den Leser nur noch gähnen. Auch dies, übrigens, gehört zur perversen Bewegung der Kunst.
Die Literatur der Alltagswelt und ähnliche Unternehmungen sind genau an ihr gescheitert, wie sich überhaupt deshalb die deutschsprachige Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg, insbesondere die von Nach-68, genau deshalb so nah an den Rand der Weltliteratur geschrieben hat, daß sie fast schon hinabgestürzt worden und restlos marginalisiert wäre, hätte es nicht immer wieder Gegenbewegungen gegeben, die aus den Künsten selbst entstanden und abermals Existenz als nicht von 42-Stunden-Wochen, sondern als von objektiven, naturhaft fundamentalen Kräften bedrohte in den Blick genommen hätten. Und die damit auf der Seite der Großen Tragödien stehen.
Perversion.]
Nota: Bücher wie Joyce‘s Ulisses sind k e i n Gegenbeispiel, da sie vielmehr den Alltag auf der Folie einer Heldensage erzählen. Insofern ist der Ulisses mit Cervantes‘ Don Quixotte viel mehr verwandt als mit, sagen wir, den melancholischen Betrachtungen Wilhelm Genazinos, der die Perspektive >>>> Abschaffels nie ganz verloren hat.
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Das Leben als Roman 4 <<<<
>>>> Das Leben als Roman 6
Erzählenswertes Leben. Mir ist nicht ganz klar was ein erzählenswertes Leben sein soll; damit ist wohl nicht gemeint, dass (in dem betroffenen Leben) “viel los war”, sich “viel abgespielt hat”. Jedenfalls scheint mir das Leben vieler Künstler in diesem Sinn eher unaufgeregt gewesen zu sein. Ist daher nicht eine löchrige Haut, die die Dinge durchsickern lässt, notwendiger?
Der Sicherheitsaspekt leuchtet mir da schon eher ein, aber auch nicht im Sinne einer existenziellen Gefährdung (da fallen schon weit mehr darunter, aber es gibt auch Ausnahmen). Und zur Ruhe: Die benötigt der Künstler ebenso, und ich bin mir nicht so sicher, ob viele von uns tatsächlich Ruhe suchen (Sicherheit ja).
Der Roman und die Risiken des Lebens » Aber das ist ein Roman …
jo schlaumeier