Arbeitsjournal. Freitag, der 3. April 2009.

5.03 Uhr:
[Pflanzenort.]
„Sie haben an Kraft verloren, ich habe sie gefüttert“, sagte die Frau. „Ich lasse auch immer das Fleisch draußen liegen, das beruhigt sie. Sie sind zuviel genäßt worden immer, sieh hier, die Spitzen der Blätter haben einen Brand.“ Latte macchiato im Segafredo-Glas, aber es gibt hier keinen Schreib- oder hohen Küchentisch für mich. Also muß ich mich vorbeugen. Orientalisch „angesonnene“ Sitzecke am Küchenboden unter dem Fenster. Brokatstoffe, Kissen, aus einem weinroten Sari mit breiter goldener Bordüre ein Vorhang geschnitten und genäht, der den Durchgang zum Wohnraum halb abtrennt.
Zigarette am Fenster zum Innenhof; in der Wohnung soll nicht geraucht werden. Die Fensterreihen des Komplexes gegenüber gezählt, dann auf die Wohnungsanzahl des gesamten Komplexes geschlossen, renovierter Kreuzberger Altbau, etwa hundert sind’s, winklig verbaut, der Hof nicht begrünt, weil das einen P l a n meint, der der Funktion dient, sondern Wildwuchs mit einer riesigen Birke mittendrin, deren oberste Zweige die Höhe der Dächer erreichen. Nachtspaziergang am Urbanufer entlang, noch waren die Restaurantkähne beleuchtet, über Brücken, in Läden geschaut, hier war mal ein Italiener, er Schwabe, sie Italienerin, er begrüßte uns immer auf Italienisch, was ganz furchtbar falsch klang. Was stand denn mal hier? Neubau, „Juppie“wohnungen nennt sie die Vier Wände ihrer Bewohner. Das war ein Platz, da gab es einen Wohnwagen mit einem Mann drin, der einen Schäferhund hatte. Ich muß an >>>> Brem denken. ARGO in Berlin. Na sowieso. Ich war in Anzug und Krawatte erschienen; sie haßt Krawatten. Die Vorgabe war gewesen: ich erscheine als strenger Herr und lasse mich bedienen; wie, Leser, gehört nicht hierher. Eine Rute mit Kätzchen hatte ich ihr auf dem Weg geschnitten. Die Überlegung war gewesen, was diese bei ihr spezielle Erregung schafft; ich denke ja immer schnell an einen Mißbrauch, das ist es aber nicht. Sondern Mißbrauch ist gar nie thematisiert; vielmehr begründete Erwartung, der frau nicht genügt. S o herum: das Trauma ist sehr viel tückischer deshalb. „Am Grad deiner Erregung wirst du merken, ob das stimmt.“ Man kann sich auf nichts verlassen als auf den Instinkt. Das gilt für Erzählungen fast genau so, die Konstruktion kommt immer erst nachher dazu, wenn man die Hunderte Fäden in einer Hand zusammennimmt und wie einen Haarstrang striemt.

6.14 Uhr:
Amseln. Auch hier. Ich hätte, wär ich „das Volk“, die Amsel und nicht den Kuckuck zum Frühjahrsvogel gemacht. Bin mit der Beantwortung neuer Dschungelkommentare befaßt, bzw. mit der Reaktion auf sie. Bei Wolf überrascht mich z.B. der Satz >>>>> „Ich würde mich nur nie zu einer solchen Formulierung versteigen, diese Hochkultur zu LEBEN.“ Weshalb s o l l t e er das denn? Nicht jeder muß es, weder sich versteigen, noch es tun. Wenn man es aber nicht tut, weshalb wird sofort unterstellt, daß auch andre es nicht tun, sondern – eben – sich „versteigen“? Woher wissen solche Leute das denn? Sie wissen es natürlich n i c h t, deshalb ärgert es sie auch so, daß sie von Der Dschungel nicht mehr lassen können, sondern noch und noch herkommen und lesen und sich aufzurichten versuchen, weil ihnen, sagen wir mal, die ganze Richtung nicht paßt. Sie scheinen in dieser Richtung Kraft zu ahnen, sonst ließen sie Typen wie mich einsam vor sich hinwurschteln, ohne sich weiter drum zu scheren. Sie scheren sich aber. Wie kann ihnen so unklar sein, daß mich das nur bestätigt? Die Dschungel wächst; weh dem, der Dschungel birgt: Ich bin ein Ärgernis; es ist wohl schon so.

Ich sollte mich aber, ganz unabhängig von dem hier, auf das konzentrieren, was ansteht: den Steuermüll (Belege dreier Jahre auseinanderklabüstern), das >>>> Hörstück über Christian Filips, den >>>> PEN-Aufsatz, die neue Erzählung, die mir noch nicht völlig im Kopf ist, aber es sprießt halt heraus. Und immer noch, immer wieder neu und mal: Bamberger Elegien. Ulrich Holbein zieht jetzt ins Concordia-Jahr und freut sich auf >>>> Dr. Goldmann nicht; ich möchte ihn – Holbein, nicht Goldmann – doch bitte besuchen.

6.55 Uhr:
Hab eine alte Etüde wieder vorgenommen und arbeite sie um. Parallel laufen mehrere Stränge dazu, die „sich durchdenken“ oder „durchdenken“. Etwa, daß es „trotz allem“ wichtig ist, >>>> verwundbar zu b l e i b e n, sich weiterhin verwundbar zu m a c h e n. Das ist nach wie vor ein Kerngedanke Der Dschungel. Es ließe sich ja auch völlig anders handeln: Man schreibt seine Bücher und überläßt die Kommentare den „normalen“ Abläufen, auf die man dann fast nicht reagiert. So stellt sich ein „Geheimnis“ gegen alle Opposition her. Darum aber geht es gerade nicht, sondern um die Vermischung mit dem sogenannten Privaten, das ausgeführt werden muß, und immer stärker um >>>> das Chorische. So etwas schafft Angriffsfläche, wie auch die BDSM-Überlegungen insgesamt sie schaffen und der Umstand, daß ich nicht nur theoretisch einer ihrer „Gegenstände“ bin. Es sind viel mehr Menschen involviert, als wahrgehabt wird; aus guten Gründen halten sie damit zurück. Man stelle sich vor, da geht jemand zu einem Schuldirektor und sagt: Der Herr Müller, der meine Tochter in der Siebten in Englisch unterrichtet, schlägt Frauen mit Peitschen und Rudern… Geurteilt wird dann nicht nach Realität, sondern nach Ideologie. Und suspendiert, gegebenenfalls. Sich vor einer solchen Gefahr wegzubeugen, geht für Die Dschungel nicht an. Auch das gehört ins Umfeld des sichverwundbarMachens. Auch das gehört zum Widerstand. Der „unmodern“ wurde, fast ein bißchen lächerlich angesichts der allgemeinen westlichen Konsumbegeisterungen und Aussichten auf Karriere, wenn man nur gut in >>>> die simplifizierte Harmonie paßt, der die politial correctness fast rundweg entspricht. Nicht das Volk steht für Widerstand (in Deutschland stand es eh kaum je dafür), sondern eine bestimmte Art von Elite: Charactere. Es kann aber sehr gut sein, daß Herr Wolf zu diesen Characteren gehört, obwohl… nein: w e i l wir uns streiten. Einem „modernen“ Widerstand darf es nicht darum gehen, eine „demokratische“ Mehrheit zu bilden, der nämlich die kapitalistische Quote entspricht, sondern auf der Vereinzelung zu beharren: auf der Verschiedenheit des Menschen; wir sind n i c h t alle gleich.

11.39 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
Gut am Cello gewesen, einen wirklichen Ton bekomme ich freilich immer noch nicht. Bin mal gespannt, wie lange das dauert, bis es wenigstens annähernd soweit ist. Ich schätze, noch einzwei Jahre; vorher jedenfalls werd ich’s nicht müde werden. Ich singe beim Üben immer mit, und zwar falsch; für meine Nachbarn also eine doppelte Tortur. Allerdings darf ich sie damit trösten, daß ich nicht pfeife. Damit nämlich hab ich schon Mitbewohner aus der WG getrieben.

Der heftige Testosteronschub hat sich, ohne daß >>>> Cosmas Ratschlag befolgt werden mußte, seinen Sturm verschafft und gleich nochmal nach der Früharbeit; da war es allerdings nur noch Windstärke 7, gefolgt von dem warmen Sand, den ein Scirocco auf die Straße legt und in die Betten, wenn die Fenster offenstehn. Ohne Mantel, nur das Jackett überworfen, heimgeradelt durch das herrlichste Berlin. Berlin, Berlin, Berlin. Berlin an vielen Wasserwegen. An Seen. Berlin, das geil aufblüht. Grünes wucherndes Berlin. Selbst die Autos haben etwas von tropischen Pflanzen, vortropischen. Man muß nur in die Menge greifen und bekommt etwas zu küssen. Selbst die trockenste Luft ist schwülfeucht vor Erwartung. Es fängt die Zeit wieder an, in der die Körpergrenzen aufhörn; ich freue mich irre darauf, wieder zu schwitzen, ozeanisch zu schwitzen, so daß es einem überall rausläuft, diesen frischen Schweiß zu riechen, gerade auch fremden; auch in der Sauna mag ich das immer gut leiden, wenn jemand andres von oben auf mich drauftropft. In Frankfurtmain bin ich zum Arbeiten immer ins Tropenhaus gegangen, das Manuskriptbuch bei mir, dessen Seiten sich unter den Regenstaubgarben wellten, die alle zweidrei Minuten auf das Gewucher niedergingen; es war nicht möglich, mit Tinte zu schreiben. Damals gab es noch keine Laptops, jedenfalls hatte ich keinen. Und dieser hier hielte das gar nicht aus; es gibt aber so ein tropengängiges Gerät von Panasonic, >>>> Toughbook; allerdings, man müßte es mir sponsorn. Dschungel, übrigens, d e shalb: damals entstanden die >>>> DSCHUNGELBLÄTTER.

16.14 Uhr:
Belege Belege, vom Bücken tut der Rücken weh.Gleich wird mein Bub kommen. Und heute abend, ich rate Ihnen: >>>> Gehn Sie hinein. Dann werden wir uns sehen.
Ich werde für die Frankfurter Sonntagszeitung schreiben.

5 thoughts on “Arbeitsjournal. Freitag, der 3. April 2009.

  1. Ein Lob der Unangepasstheit Nicht der Unangepasste, sondern der Angepasste ist gefährlich. Man stelle sich vor, Robert Steinhäuser hätte sich in seinen letzten sechs Lebensmonaten seinen Eltern gegenüber n i c h t angepasst gezeigt, hätte, statt in einer Caffè-Lounge seine verlogene Zeit abzusitzen, seinen Eltern die Lüge gestanden. Die Lüge von seiner Schule in Erfurt gefeuert worden zu sein. 16 Menschen und er selbst könnten heute noch leben. Ähnlich das jüngste Schulmassaker. Die Angepasstheit war eine als notwendig empfundene Tarnung. Da brodelte ein Vulkan unter der debilen Oberfläche. Lava, die nicht herauswollte-/konnte. Vor über 60 Jahren übte der deutsche Michel die Angepasstheit in knallendem Gleichschritt gleich massenhaft im Massenwahn. So lässt sich’s leichter töten und sterben – wenn alle mitmachen. Da ist man dann über jeden Zweifel erhaben! Mir sind die Unangepassten, Unbequemen, die Körner und Bröckchen im Getriebe der Gesellschaft lieber, als der harmonische Chor der Schwachen. Leider ist überall festzustellen, dass Nägel, die herausragen, sofort auf Durchschnittslänge tief eingeschlagen werden.

  2. Erstaunlich. Innerhalb kürzester Zeit wurde ich von einem Menschen, für den es „rein vergeblich“ sei, Die Dschungel zu lesen, einem Zwergen, der versuche, Geistesriesen auf den Kopf zu spucken, zu einem möglichen Angehörigen einer Elite von „Characteren“ für einen modernen Widerstand. Dabei wollte ich doch ursprünglich nichts weiter, als diadorim Goetzens Klage zu empfehlen, um danach wieder still weiter zu lesen, am besten eigentlich ein richtiges Buch und keine Blogs, Schleefs Tagebuch liegt aufgeschlagen vor mir und ruht, weil es mir keine Ruhe lässt, was ich hier scheinbar aufgewühlt. wolfsmädchen, die für mich argumentativ in die Bresche sprang, wird da jetzt als Troll, Pöblerin, Öchsin und sogar Nazi angegangen, die Diskussion ist ziemlich schnell entgleist, das ist das Schlimme an den Internet-Debatten im Schutze der Anonymität, dass man so schnell mit Beschimpfungen daherkommt. In face-to-face-Kommunikation registriert man viel schneller, dass das eben Gesagte jetzt vielleicht zu hart rüberkommt, und kann einen Gang zurückschalten, weil man eine gewisse Grundharmonie noch braucht, um überhaupt weiter zu reden. Womit wir wieder bei der Harmonie wären: Ich glaube Schönberg war es, der sich ernsthaft der Illusion hingab, in soundsoviel Jahren würden die Leute seine Zwölftonmelodien auf der Straße vor sich hinpfeifen. Das ist nun nicht geschehen und ich denke nicht, dass dem bösen Kapitalismus dafür die Schuld in die Schuhe geschoben werden kann. Auch ist eine Masse nicht deswegen für blöd zu erklären, weil sie am tonalen System festhält. Die Popmusik sagt den Menschen etwas sie Betreffendes in einer Tonsprache, die sie verstehen. Sie wollen es hören und bezahlen dafür wenns sein muss auch Geld. Ich kann nichts verwerfliches daran finden, und neben dem Mist, der immer auch entsteht, kommen dabei auch Kunstwerke heraus, die Bestand haben werden, davon bin ich überzeugt.

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