Das Leben als einen Roman betrachten (12). Kleine Theorie des Literarischen Weblogs (119).

„Ich will bei dir nicht öffentlich vorkommen“. Das Problem besteht darin, daß jemand, der das jemandem sagt, der sein Leben als einen Roman führen will, dann gar nicht mehr drin vorkommen kann. Dabei ist das Begehren verständlich, ja fast selbstverständlich. Dennoch, indem ich dieses „Projekt“ begonnen habe, erwehre ich mich der ansonsten unvermeidlichen Ernüchterungen durch pragmatische Lebenspraxis: Das Leben als Roman „erlaubt“ nicht nur Katastrophen, sondern sie werden zu quasi-selbstgewählten Momenten einer durchlaufenden Dramaturgie, die aus dem Leben die Banalität herauszustreichen unternimmt; es ist tatsächlich eine poetische Selbstermächtigung über sich selbst. Die Heilige Wollust, Das Erschrecken, Die Erscheinung, Das Ergriffensein, Die Verantwortung, Das Tragische rücken als Gewollte ins Zentrum; in der zeitgleichen Mitbetrachtung werden die Alltagsprozeduren an die beiläufigen Orte verwiesen, an die sie gehören; sie haben sehr viel weniger noch die Chance, sich in den Vordergrund zu rücken und uns beherrschend zu banalisieren: der Abwasch, der Einkauf, das Staubsaugen, Zähneputzen, Fensterputzen, die monatliche Miet- und Krankenkassenzahlung bleiben die Routinen, die sie sein sollten, und drängen sich nicht, uns zunehmend überschattend, weiter und weiter vor, bis nur noch Bitternis und Ergebung bleiben, jene notwehrsanfte Resignation eines Alters, das man sich mit dem Wort von der Weisheit verbrämt.
Das Leben als einen Roman zu betrachten, ist eine paradoxe Intervention, paradox, weil sie sowohl das Feuer bis ins Verglühen durchleben als auch es uns permanent vorstellen läßt. Das ist zugleich Imagination wie Vergegenwärtigung. Kühlmann bemerkte einmal in einer Rezension über einen Roman >>>> Gerd-Peter Eigners, es werde darin die Frage gestellt, wie man „richtig“ lebe; das Leben als einen Roman zu betrachten, versucht sich praktisch an der Antwort: es erp r o b t die Antwort, experimentell. Nur sind es eben Seelenexperimente, in die, da wir soziale Geschöpfe sind, andere immer mit einbezogen werden, ob sie das nun wollen oder nicht und ob w i r wollen oder nicht. Dabei zeigt die Erfahrung unterdessen, daß es ihnen gar nicht so sehr darum geht, ob sie für andere erkennbar sind; ihr offenbarer Schmerz besteht schon darin, daß sie es vor sich selber werden. Dem wollen sie nicht ausgesetzt sein. Die Verdrängungsprozesse wehren sich dagegen, die uns das Leben scheinbar erträglich machen, wiewohl es doch weder überhaupt um Erträglichkeit gehen sollte, noch helfen Verdrängungen wirklich. Im Gegenteil verschieben sie die Nöte und konservieren sie für den Moment eines irrelaufenden Ausbruchs. Oder sie schleifen den Menschen unaufhaltsam ab, bis er so brüchig geworden ist, daß er an der Verkalkung dahinsiecht. Das Leben als einen Roman zu betrachten, erwehrt sich solcher Vergreisung, weil es sich durch seine Öffentlichkeit ständig kampfbereit hält.
Aber es ist nicht nur die Verdrängung, die hier wirkt, sondern auch eine religiöse Angst: Angst vor einem imaginären Feind, der bei Androhung höchster Strafen verlangt hat, daß man ihn nicht nenne. Dieses Mythische wirkt in der Diskussion jedes Intimen mit. Das Leben als einen Roman zu betrachten, ist, so gesehen, Lästerung: sie bringt den Menschen das Feuer.

[Imgrunde tragen a l l e persönlichen Weblogs diese olympische Flamme weiter, jedes ein Stückerl. Nichts anderes taten die großen Romançiers, deren Bücher man heute oft verbieten würde – mit Gründen des Persönlichkeitsrechts]

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25 thoughts on “Das Leben als einen Roman betrachten (12). Kleine Theorie des Literarischen Weblogs (119).

    1. aber bei Goetz war es noch raffiniert geformt, und irgendwie spannender zu lesen, wie eine Droge. Starker dichter Espresso in der Mittagspause. Hier und in vielen anderen Blogs muss man sich jetzt mit Ersatzsubstrat zufriedengeben, Malzkaffee oder die Kaugummizigarette in der Mittagspause.
      Hat vielleicht auch daran gelegen, dass Goetz eh schon sehr bekannt war. Ich will meinen Rainald-Blog wiederhaben.

    2. Von Masochismus geplagt. Leute, dann lest hier doch nicht. Bleibt weg, wenn ihr das beklagt, daß es euch so anödet. Niemand zwingt euch, Bach zu hören, wenn ihr Dr. Alban hören könnt. Also bleibt bei eurem Technozeug und vergeßt Die Dschungel einfach. Aber ich weiß schon: es stört euch, wie sie wachsen. (Weshalb machen Sie eigentlich nicht selber ein Ding? Ah, ich verstehe: weil Sie’s – nicht können.)

      Ich bin mir auch gar nicht so sicher, ob Rainald Goetz über Leser wie Sie so sehr glücklich gewesen wäre, – vor Domestikenschleim ist er von Schlauheit beschirmt.

    3. nein, Sie verstehen das falsch, ich finde den Vergleich einfach witzig. In Rave geht Goetz unter die Hoppelnden und stenografiert mit, und jetzt machen Sie das mit einer 12 – Ton Musikprobe …das ist total witzig -, nehmen Sie’s als Kompliment.
      Sie wollen ihn parodiern, stimmts?

    4. Gelebter Masochismus Die Frau tritt den Saal und sieht, ob er immer noch am laptop sitzt. Der Mann sieht, ob sie immer noch einmal den Saal betritt.

    5. meinen Namen hatten sich hier einige ausgeliehen. Ich habe nichts dagegen, wollte aber nur sagen, dass ich der echte biker bin, also der erste (Ingo Schulze-Fan) Aber anscheinend ist das hier auch egal.

    6. Sie sind nicht der Echte! Ich war es schließlich, der auf Paris verwies, ich war es, der auf die Süddeutsche verlinkte, ich war es, der die Verlustanalogie herstellte. Und im Übrigen ist es keineswegs egal, dreht sich hier doch alles um das Immediate, die virtuelle Präsenz, den gedachten Leib der Sprache.

    7. @biker wie sie meinen ich kann schlecht das gegenteil beweisen. Ingo Schulze ist unserer Gesellschaft sehr kritisch gegenüber eingestellt. Das hat er in dem Interview gezeigt. Und ich finde das sehr mutig. Apropos Leib: Mit Adam und Evelyn wird der Eros zwischen Mann und Frau als Potenz thematisiert und ausserdem wird die Potenz der Leistungsgesellschaft des Westens angesprochen.

    8. @martin22. Goetz tut, was er tut, mit Leidenschaft. Ich sehe keinen Grund, Leidenschaften zu karikieren; im Gegenteil, ich bin glücklich, daß es sie gibt; dafür müssen es nicht m e i n e Leidenschaften sein.
      Im übrigen habe ich mich zu Rainald Goetz deutlich soeben >>>> dort geäußert. Kann ja sein, daß man das unterdessen von mir erwartet; umgekehrt er h a t sich ja mehrfach zu meiner Arbeit geäußert. Ich glaube, wir sehen unseren Arbeiten gegenseitig in ziemlicher Ambivalenz zu. Aber ihn karikieren? Nein. Auf gar keinen Fall.

    9. schon klar.. Ich meinte auch Parodie. Mir gefällt einfach die Verbindung. Weil so eine 12 Ton- Probensession auch was techno hat. Ob einer eine Vorliebe für 12 Ton oder Techno hat, ist doch eh Wurscht. Am Ende geht’s darum, dass man seinen Spaß hat.
      Ich glaub aber nicht, dass Goetz gleich son pathetisches Leidenschaftsbild von sich entwerfen würde. Bei ihm geht’s ja eher um Fortnahme der eigenen Person in den Rausch…und das unterscheidet den dann doch erheblich. Sie wollen als Selbst immernoch stattfinden. Also Leidenschaft als Behausung. Als Wohnung. Das hat mit der Goetzschen Leidenschaft als sich abgeben null zu tun.

    10. @martin22 (ff). Ich weiß aber auch nicht recht, weshalb ich Goetz parodieren sollte, zumal die kulturellen Szenen derart verschieden sind. Nur: Was meinen Sie mit “Fortnahme der eigenen Person in den Rausch”? Das finden Sie n i c h t oder weniger pathetisch? Ich habe allerdings, als etwas Durchgehaltens, ohnehin mit dieser “Fortnahme von Person” einige Probleme; viele davon ergeben sich aus dem Umstand, daß ich Vater bin, also Verantwortung trage und auch tragen will. Ich weiß nicht, ob auch Goetz Kinder hat, aber dieses sich Fortnehmen ist hochkompliziert, wenn Sie auf die Wohlfahrt der Geliebten achten. Und selbstverständlich will ich als Selbst “stattfinden”… diese Ideologisierung von Selbstauslöschung empfinde ich mehr noch als verlogen als peinlich. Wenn sich einer auslöschen will, auch gerne im Rausch, dann steht ihm das frei: er kann das einrichten, jederzeit, wie er will. Diese Freiheit haben wir alle. Und ich schreibe das als jemand, der seinen Suzidversuch ja nun hinter sich hat; mir ist Selbstauslöschung durchaus nicht fremd, aber im Geschlossenen Haus entschied ich mich fürs Leben. Deshalb denke ich: Wenn es so etwas gibt bei Goetz, wie das, was Sie “Leidenschaft als sich abgeben” (was ist mit “abgeben” gemeint?), dann käme mir das insgesamt als s e h r inszeniert vor. Jemand, der sich auslöschen will, wird schwerlich darauf achten, Bücher (von sich) zu veröffentlichen. Wozu auch? Im übrigen ist mir “Leidenschaft als Behausung” zu sehr von einem geschrieben, der gerne trockenwohnen läßt, weil er sich das leisten kann. Ich meine Leidenschaft: als die Luft um mich herum und in meinen Lungen.

    11. na bei ihm hieß das Thema ja eigentlich Auslöschung durch Menge, durch Rausch, durch Musik, also zumindest formal sag ich mal, geriet das bis an den Verlust der vernünftigen Artikulation. Das Buch Rave war ja über lange Stellen auch schwachsinnig von den Äusserungen der Sprache. So ein Rave kann ja auch was orgiastisches haben. Kontrollabgabe, was ja auch thema war etc….Ziel von Rave ist ja Hitze Fieber Krankheit im emphatischen und auch zerstörerischem Sinn. Hier aber hat man es nun mit der komischen Situation zu tun, dass Leidenschaft, Rausch (Kokoschka, Mahler, Orpheus, Euridike etc..) in einen Probenzwang gerät. Krankheit ist kontraproduktiv, der Gesang muss gesund sein. Also die Leidenschaft muss geprobt werden und darf nicht heiser sein… Das finde ich an dem Vergleich spannend. Dadurch gerät das eigentliche Thema, ich sag mal: Rausch, Leidenschaft, Seele, in eine Partitur, Gerüst, Korsett, wie sie wollen…die Sache wird verpackt jetzt. Man bekommt zwar etwas Staub aufgewirbelt durch ihre Schilderungen, aber nachher sitzt die Leidenschaft auf einem Gerüst hinter Monitoren und muss ganz viele Noten-Türklinken putzen bis sie vorgelassen wird…..ich will das nicht gegeneinander ausspielen, nur mal so als möglichen Vergleich. Weil Goetz ja in Rave wenn man so will ebenfalls Musikschriftstellerei betrieben hat.

    12. @martin22 (3). Das wird jetzt eine spannende Diskussion. An sich gehörte sie >>>> d a h i n. Ob wir sie wohl dort auch führen können? Es werden sich nicht viele Musikhörer ausgerechnet hierher verirren…

      Kurz nur als Anstoß: gebundener Rausch, das Ritual und das sakrale Moment sowohl der Oper als auch des Ravens (man kann gut in die eleusinischen Mysterien – die Mänaden, die Orpheus köpfen – zurückgreifen, in beiden “Fällen”; von dem Gedanken aus wäre zu schauen, inwieweit das Moment des Ravens die bürgerliche Erstarrung der Kunstoper unterläuft und dann diese wieder in Bewegung setzt – aus einer anderen Position wahrscheinlich, als es den Gönnern der Oper lieb ist… – ich würde d i e s e n Weg mitgehen. Dabei zu denken auch an Werner Schroeter, übrigens auch an Godard.)

      Aber das sind jetzt Vorgriffe. Ich diskutierte das rasend gerne direkt unterm Orpheus.

    13. sie können das ja gerne dahin verschieben, mir fällt im Moment aber nichts mehr dazu ein, ausser vielleicht, dass der Rausch oder die Extase oder die Auslöschung eben bei Goetz in der “Orgie” eines Rave tatsächlich passierte, also insofern war Rainald Goetz ein Orpheus, ein Dichter, der zerrissen wurde. Das hat er dann auch so geschrieben bis ins Stammeln und den sich andeutendenden Schwachsinn.

    14. da könnte man sagen: Es hätte ihn zerreissen können. Na ist auch egal. Es würde mich interessieren, ob gebundene Extase nicht eigentlich schon Sublimation oder Fetisch ist. Ich denke nämlich, dass diese Oper, wie eigentlich jede Oper Fetisch ist. Also Puppe. Auch diese Oper als Libretto oder Komposition ist eine Puppe. Auch dass meine ich nicht wertend. Puppe oder Fetisch deshalb, weil sie hier in dem Falle Gebrauchscharakter hat. Während Emphase oder Extase ja Ausstreuen oder Ausfließen meint.

  1. nochmal wegen Ingo Schulze in Adam und Evelyn. Das Großartike ist die Verbindung von Geschlechtergeschichte und Weltgeschichte: Die Kritik schreibt:
    Makellos findet Ijoma Mangold den neuen Roman von Ingo Schulze. Was dieser Erzähler mit dem Gespür für deutsch-deutsche Mentalitäten nach ’89 hier an Themen und Motiven auffährt und wiederum als Kombination aus individueller und Weltgeschichte serviert, lässt Mangold den Mund offen stehen. Nicht zuletzt auch, weil er die Story über den phlegmatischen DDR-Damenschneider Adam und dessen Versuch, seine Beziehung zu Evelyn zu retten, während die Mauer fällt, so zügig runtergelesen hat, als wäre es nichts. Nichts aber ist es ganz und gar nicht, lässt Mangold durchblicken, der sich nur nicht entscheiden kann, welchen Teil er turbulenter findet, Schulzes Weltgeschichte oder die Beziehungkiste. Schuld an Mangolds Unentschiedenheit ist Schulzes Klasse als Erzähler, die, durchaus im Unterschied zu früheren Romanen, wie Mangold feststellt, in diesem Buch wirksame höchst kontrollierte und ökonomische Plotkonstruktion. Doch egal auf welche Weise dieser Autor es anfängt, seine Texte erscheinen Mangold großartig.

  2. Zum “Leben als Roman”: Es ist mir, während ich am Strand entlang zu einer Schülerin fuhr, in
    den Sinn gekommen, dass auch ein Zusammenhang bestehen könnte zwischen
    dem Namen, den Sie sich selbst gegeben haben, und Ihrem Leben als
    Roman. Der Geburtsname ist vielleicht dasjenige an uns, was uns am
    Bewusstesten an ein Unverfügbares, Festgeschriebenes erinnert, das,
    was uns in gewisser Weise in einer durch Andere bestimmten und von
    Anderen geschriebenen Geschichte als Geisel hält. Sich selber zu
    taufen, das heisst doch (wenn auch möglicherweise nur symbolisch) im
    Grunde nichts anderes, als sich die Freiheit zu nehmen und sich in die
    Pflicht zu stellen, die eigene Geschichte selber zu schreiben.

    Gedanken vor einer der schönsten Kulissen dieser Welt.

    Aus Rio, herzlich Ihr
    Markus Hediger

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