Der Paris-Erzählung letzten Teiles Anfang, nachts in der Bar Frau v. Samarkand erzählt. Sowie davor an Charles de Gaulle, Terminal 2D, Paris. Vom Boot der Apokalypse und seiner Wahrheit. Das unbekannte Wort freilich bleibt. Les secrets de Paris (10).

Ob ich wirklich der Teufel sei? Das fragen Sie nicht im Ernst, Madame… verzeihen Sie… nein, k e i n Spott, ich bin nur immer noch dort, in Paris. Ich bin in Berlin eigentlich noch gar nicht angekommen. Es gibt keinen Teufel, glauben Sie mir, und wenn es ihn gäbe, er wäre ein trauriger Mann. Oder eine traurige, sogar verzweifelte Frau. Sie haben ja gehört, daß ich mir in diesen Belangen über die Geschlechter nicht einig bin. Der Teufel ist tot, nicht aber Gott, wie uns die jüngste Geschichte zeigt… die Welt-., nicht nur die Kirchengeschichte mit ihren letzten katholischen Skandälchen, über die man sich gerade so aufregt. Unnötig aufregt, wie ich finde, unangemessen aufregt, wenn wir uns die christliche westliche Welt insgesamt betrachten. Dieselben Fehler werden wiederholt und immer dieselben Strafen verhängt: mindestens Ausweisung, Entkommunizierung von Eden, wen Sie verstehen, was ich meine, und mit dem immer selben Ergebnis. Als wäre das Unausweichliche, wenn es dann eintritt, von Schande und nicht nur, eben!, ein Fakt der Unausweichlichkeit. Die der Plan selber schon vorsieht. Die kleine Schlamperei, mit der alles begann. Die er vertünchen wollte und immer noch will, indem er die Strafe mit einer Selbstverantwortlichkeit begründet hat und immer noch weiterbegründet, von der wir längst wissen, daß sie die große Mechanik nicht vorsieht. Doch wir selbst begründen sie damit, so sehr sind wir noch immer geblendet.
Aber wovon geblendet, Frau v. Samarkand? Von der Schönheit, jaja, deshalb sitzen Sie neben mir, weil auch ich immer noch von ihr geblendet bin. Gerade ich. Sie hat mir einen Sohn geschenkt, diese Schönheit, hat mir zwei große Bücher geschenkt, die ich schrieb, alles, alles Verherrlichungen. Darum kam der Gräfin auf mich. Das bißchen Penderecki reichte ihm nicht – und die n e u e n Kirchenbauten? ach du meine Güte! Döblin zuletzt, jaja. Selbst die Südamerikaner… alles Atheisten, wenn sie was wert sind. Die Menschen, sowie sie zu Wohlstand kommen, fallen von ihm ab. Sie haben selbstverständlich recht. Der Wohlstand, ich habe das immer gesagt und betrieben, ist der Weg, den die Freiheit in den Fels der Läuterung schlägt, nein, hineinsprengt, aus dem Tränental, Sie wissen schon, hoch, man braucht viel Dynamit, Ammongelit und C4, sowas, und auch Waffen. Sowieso. Man soll den Feind nicht unterschätzen. Bitte? Na ja, Schwert ist doch nur ein Symbol.
So parlierte ich vor mich hin und versuchte, meine Erzählung abzurunden, wobei ich immer wieder in den Teufelsgestus verfiel, ohne das anfangs je recht zu merken. Das amüsierte die Samarkandin, die von ihrer, sagen wir, Schicht in die Bar gekommen war, nachdem ich ihr in die Mailbox gesprochen hatte, ich sei zurück und werde ganz sicher heute nacht noch einen Drink am Lützowplatz nehmen. Meine Erzählung hatte sie nur am Rande mitverfolgt. Imgrunde war sie nicht informiert.
„Und du bist wirklich der Teufel?”
Die Frage hatte, was mich erstaunte, gar nichts Naives; ihr Ton war voll und ruhig und ohne Irritation. Wenn ich Ja gesagt hätte, wäre die Samarkandin nicht belustigt gewesen, sondern hätte es, wie nun mein Nein, als Faktum hingenommen. Das ist etwas, das mich für manche Menschen sehr einnimmt, dass sie überhaupt keine Vormeinung haben, sondern sich auch auf unvermutete und sogar auf den ersten Blick bizarre Informationen neugierig einlassen. Freilich kann es gut sein, daß Frau v. Samarkands, obwohl sie noch so jung ist, pikanter Beruf ihr das gestattet oder es für ihn sogar notwendig macht; Rollenspiele gehören ja zu ihm hinzu. Sie geben ihm Distanz und wahren insofern die Würde. Aus demselben Grund war ich nach unserer ersten Nacht dazu übergegangen, die junge Frau wieder zu siezen. Auch das hatte sie akzeptiert, ohne eine Frage zu stellen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, daß ich’s mit Edith anders hielt.

Also Edith wirkte sehr distanziert, als sie mich unten an der Chevreuse erwartete. Ich hatte nichts zurückgelassen in der Nonchalante, hatte die Tür zugezogen, meinen Rucksack bereits gehalftert, kann man das sagen: gehalftert? den andren, den kleinen Arbeitsrucksack in der Griffschlaufe halten, so mit dem engen Lift hinab. „Damit habe ich gar nicht mehr gerechnet”, sagte ich. Sie antwortete nicht, sondern stumm wuchtete sie alleine den Rucksack in den Beiwagen, während ich mir den Arbeitsrucksack um die Schultern und auf dem Rücken festzog. Dann reichte sie mir den zweiten Helm und stieg auf.
„Edith…” sagte ich.
„Hör auf mit diesem Edith” zischte sie zwischen den Zähnen und ließ, zweimal wütend den Fußhebel tretend, das Kraftrad an, gab so energisch Gas, daß ich fast den Halt verlor, und raste in halsbrecherischem Tempo links in die T-Kreuzung, ebenso scharf links in die folgende Straße und auf den Boulevard. Sprechen konnten wir eh nicht.
Sie fuhr wie der Teufel. Als wir aber Charles de Gaulle erreicht hatten und nach etwas Rumkurverei einen Parkplatz gefunden hatten, schien sie sich ausagiert zu haben. Sie atmete so hastig, als wäre sie die Strecke gerannt, nicht gefahren, aber lächelte und sah mich von unterm Visier, das sie hochschob, nicht ohne Mutwillen an. „Alles okay?”
„Wenn man davon absieht, daß ich noch am Leben bin, dann ja.”
Sie wuchtete meinen Rucksack.
„Kommt nicht infrage, den trage ich selbst.”
„Gib wenigstens den anderen…”
„Nein.”
Sie zuckte die Achseln und schritt, viel zu schnell für mich, voraus. „He, warte doch!”
Im D2 die Eincheckstelle suchen. Ich mußte alleine hindurch, das ist in Paris anders als in Frankfurt geregelt, wo man sein schweres Gepäck zusammen mit seiner Begleitung aufgeben und dabei gleich einchecken kann, bevor die eigentliche Sicherheitskontrolle erfolgt. Da noch etwas Zeit war, verschob ich’s: „Laß uns noch eine rauchen gehen.”
„Ich soll dir das da geben.” Sie hielt mir einen gefütterten, zugeklebten Umschlag hin. „Von Madame.”
„Und was ist drin?”
„Mach es doch auf.”
„Nachher, nicht jetzt.”
Mit den Rucksäcken wieder hinaus, paar Schritte, die Glastür, eine von vielen, der erhobene Fahrdamm, dahinter ein weiterer Fahrdann, dahinter ein nächstes Gebäude. Aschenbecher aus hohem Blech, Halbsitzstützen an der Wand angebracht. Ich reichte ihr die Gauloises, wir rauchten.
„Weshalb bist du vorgestern einfach so weg?”
„Du kapierst es immer noch nicht.”
„Nein. Stimmt. Tu ich nicht.”
Edith”, sagte sie. „Du hast mich Edith genannt, die ganze Nacht über. Ich habe das erst nicht schlimm gefunden, weil das nach diesem scheiß Überfall losging. Ich dachte, das geht schon vorüber, du hast halt nur heftig was abgekriegt.” Sie schwieg. „Aber es ging nicht vorüber. Bis jetzt nicht. Es ist verletzend, Alban.”
„Jenny…” sagte ich.
„Scheiß auf Jenny.” Sie sah zur Uhr. „Du mußt los.”
„Und was war mit dem Boot?”
„Mit was für einem Boot?”
„Dem Prada-Boot.”
„Das an der Seine?”
„Von dem du mich gerettet hast… oder runtergeholt, zusammen mit Raffaela.”
Sie zog die Brauen zusammen. „Wer ist Raffaela?”
„Verdammt, Edi… Jenny..! Die Kuhherde, diese ewige Kuhherde, die zum Schlachthof zog, und die Schweine auf dem anderen Ufer, und dieses Boot auf dem Fluß… Ich bin ausgeraubt worden, ja, sicher, aber warum stand dann da mein Laptop mit auf dem Boot?”
„Du hast ‘n echten Schaden! Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du da sprichst.”

*******

12.58 Uhr:
„Sie wußte es wirklich nicht, Frau v. Samarkand.” Da aber auch sie die Geschichte noch nicht gelesen hatte, faßte ich zusammen, was nötig war.
„Das klingt auch nicht glaubhaft”, sagte sie. „Ich kenne aber solche Bilder. Wenn ich was genommen hab.”
„Es war aber ganz anders. Also den Überfall gab es, man hat mich da wirklich ausgeraubt.”
„Ich habe dich aufschreien hören, nachdem ich vorausgelaufen war, ich wollte den Motor schon starten, schon bereit sein”, erzählte Jenny. Wir standen noch draußen vor der Glastür des Terminals 2D Charles de Gaulle, hatten aber fast aufgeraucht, und die Zeit wurde knapp. Aber ich wollte wissen, was wirklich passiert war. „Le Duchesse hatte mir eine SMS schicken lassen, dich da schleunigst abzuholen. Man konnte jeden Augenblick kommen, jemand hat einen Tip in der Präfektur… Spitzel, du weißt schon.”
„Nein, weiß ich nicht.”
„Jedenfalls solltest du da nicht reingeraten, das hätte Verwicklungen gegeben, Madame ist lieber diskret.”
„Und?”
„Also du kamst rausgerannt, ich rief dir zu, aber du warst noch derart high, konntest ja kaum gradestehen, daß du in die falsche Richtung weggestürzt bist. Dann hörte ich den Schrei und bin sofort rüber. Drei Jugendliche, Marrokaner wahrscheinlich, sowas ist für mich kein Problem. Ich hab schon ganz andre Kaliber geschafft seit meiner…” Sie verschluckte den Satzrest. „Allkampf”, erklärte sie kurz, „so als Sport natürlich nur.”
Ich sah sie wieder vor mir liegen, jeder Muskel war modelliert, und dieser Jungenpopo…
„Aber einer ist mir halt entwischt, der hatte deine Tasche. Ich hab dich dann in den Beiwagen geschleppt, hab erst die Maschine hergefahren, klar. Und dann bin ich ab. Das war keine Sekunde zu früh, die Bullen kamen mir bereits entgegen.”
„Ja aber das Boot?”
„Da ist nichts mit einem Boot. Ja, das war vorgesehen gewesen, wir sollten, hatte mir Le Duchesse aufgetragen, nach dem Paradies zu dem Boot fahren. Aber daran war gar nicht zu denken in deinem Zustand. Ich habe dich in die rue de Chevreuse zurückgefahren.”
„Nicht in die Lamarck?”
Caulaincourt meinst du. Nein. Wir hatten ja schon mittags deine Sachen wieder zurückgebracht.”
„Die Löwin war schon geflogen, stimmt.”
„Erst wollte ich dich in ein Krankenhaus bringen, aber ich rief Le Duchesse besser an, und Madame war da unerbittlich: auf keinen Fall was Offizielles. Er schicke parallel jemanden in die Chevreuse, eine Freundin, sagte er, eine Ärztin, aber die kam erst morgens. Du hast die ganze Nacht fantasiert, hast immerzu was von einem Biß gefaselt, dann hast du von diesen Kühen gefaselt, aber du hattest gar kein Fieber. Ich habe das gefühlt, du warst eher ausgekühlt. Zwischendurch bist du mal aufgewacht, hast mich angesehen und angefangen, mich Edith zu nennen. Na ja.”
„Und Raffaela?”
„Wer? Ach so, ja. Morgens kam die Ärztin und hat dich untersucht und gesagt, daß das schnell wieder okay ist, ich soll mir keine Sorgen machen. In zwei Stunden spätestens ist er wieder auf dem Damm. Aber Kopfschmerzen wird er haben, und wahrscheinlich ist ihm übel. Geben Sie ihm dann das hier. Dann drehte sie sich wieder zu dir, machte deine linke Schulter frei und gab dir da eine Spritze hinein, ein ziemliches Ding. Das muß wehgetan haben, denn du hast aufgeschrien und hast diesen Namen geschrien. Das ging einem durch Mark und Bein.”
Edith?”
„Nee, diesmal nicht. Sondern du hast ‚Raffaela!’ geschrien. Ich weiß das ganz genau, weil die Ärztin davon mindestens so erschrocken gewesen ist wie ich. Aber aus einem anderen Grund. Sie wurde sogar blaß. ‚Woher’, hat sie schockiert gefragt, „‚kennt Ihr Freund meinen Namen?’”

*******

16.23 Uhr:
Es wird Zeit, die Tatsachen festzuhalten. Es sind nicht viele, die ich Frau v. Samarkand gestern nacht aufzählen konnte. Daß mich ein Mäzen, so kann ich ihn wohl nennen, beauftragt hat, für ihn privat ein Buch zu schreiben. Daß wir keinen Vertrag haben, sondern alles auf einer Absprache beruht, weshalb die Angelegenheit auch so ausgehen kann, daß ich schließlich gar kein Geld bekomme. Aber das Zimmer in Paris, wann immer ich möchte, will er mir stellen und die Flüge zahlen; wahrscheinlich lädt er mich auch hin und wieder zum Essen ein. Da es für meine Arbeit prinzipiell egal ist, wo ich sie verrichte, ist alleine dieses Angebot nicht ohne Reiz. Wäre mein Sohn nicht, wär ich nicht Vater und wär’s nicht so gerne, hielte ich mich fortan sehr oft in Paris auf. Aber weiter. Daß dieser Mäzen ein wenig eigentümlich ist, schon weil ihn alle „Gräfin” nennen, Le Duchesse, und Madame, obwohl er in keiner Weise weiblich ist. Daß er ganz offenbar über Immobilien quer durch Paris verfügt. Daß er nicht nur vermögend ist, sondern auch persönlich sehr bekannt zu sein scheint, denn er hat in der Tour d’Argent nicht bezahlt, seine Name hat genügt. Daß er, was dazu paßt, Beziehungen hat, siehe „Präfektur” (übrigens ist dies das erste Indiz, das ihn mit dem Profi zu verbinden scheint: da unbedingt nachrecherchieren!); und zu denken auch an meine Sonderbesichtigung der Sainte Chapelle. Daß er über ich sag mal: Angestellte wie Edith verfügt, Pardon, Jenny, Jenny Michel, die ihm durchaus ergeben sind. Daß er sich, zu denken ans Paradis de Pantin, in der Halbwelt und Szene auskennt, ebenfalls etwas, das ihn mit dem Profi, immerhin einem Regierungs-, nun ja, -angestellten, verbindet. Und schließlich, daß ich ein deutscher Schriftsteller bin, der nicht nur zum Beziehungswahn neigt, zum Beispiel zu >>>> Verschwörungstheorien, sondern auch schnell mal in Visionen abhebt, wogegen mir immerhin hilft, daß ich algerische Zimmermädchen mag.
Das sind die Fakten, allein das „algerisch” ist zweifelhaft.
Wichtig ist aber, der Redlichkeit halber, daß mir Mme Le Duchesse keineswegs eine „Lobpreisung” in Auftrag gegeben hat. Er hat ü b e r h a u p t keine Bedingung gestellt außer derjenigen, daß ich einen Roman über Paris schreiben solle und den nur für ihn, einen, der nicht veröffentlicht werde. Hat er „niemals” gesagt? Es wäre dann bereits ein zweites Buch von mir, das, wenigstens in seiner ersten Gestalt, vorm Publikum weggeschlossen würde. Mag sein, es ist das, was mir ein kleines inneres Problem damit macht. Jedenfalls kam ich auf die Lobpreisung sicher alleine wegen des Gräfin Bemerkung, er sehne sich nach dieser Art von Verklärung, derer ich so fähig sei und die er >>>> in Pruniers Übersetzung meines Manhattan-Romanes gefunden habe. Dann setzte er noch, erinnre ich mich, hinzu: „Wissen Sie, ich finde, daß an die Seite eines solchen Romanes über New York ganz unbedingt einer zu Paris gehört.” Meinen Einwand mit Hinweis auf >>>> Die Orgelpfeifen von Flandern überhörte er, vielleicht aber nur, weil die Novelle noch nicht übersetzt ist. Man überhört meinen Hinweis aber fast immer. Was mich ärgert. Allerdings hatte er die Novelle indirekt angesprochen: Es sei Zeit, an meine Jugend wieder anzuknüpfen. Mit diesem Satz >>>> hatte er mich in La Tour d’Argent begrüßt.

*******

18.32 Uhr:
„Raffaela!”

Davon kam ich zu mir, daß ich das schrie.

„Raffaela!”

Ich lag ja doch immer noch in diesem öligen Leibmeer, das an mir lutschte, mich keinen Halt finden ließ, so daß ich glitschte und ausglitt und in Mösen rutschte, die mich in sich hineinsogen und wieder ausstülpten, ja Das Loch selber war Vulva, war gierig, längst war das nicht mehr nur noch das Öl, das war längst Sekret und schäumte wie ein Schmiermittel, das der Typ in seinem Elvisglitter noch aufschlug mit seinem Geraune und irgendwelchem Voodoozauber, den er veranstalten ließ, indem er aus riesigen Eimern Tiere über uns auskippte, Kaulquappen, dachte ich, monströse, faustgroße Kaulquappen, und sie hatten Zähne…
Ich mußte hier raus, unbedingt raus! Das war ein solcher Ekel, war eine solche Nötigung, wie man mich festhielt, aber auch nichts richtig fassen konnte, und ich nicht, und wie dann wieder und wieder irgend ein Leib, der nach Urin stank, merkte ich, wirklich holte der Elvis seinen Schwanz raus und pißte auf uns drauf und rief immerzu „Yeah! Yeah, Yeah, Yeah!” was Gea heißt, wie ich weiß, eine Beschwörung, ein Bannruf, es fehlten allein noch die Schweine, in die wir uns verwandeln würden. Ich spürte es, warf den Kopf hoch, wollte um Hilfe schreien. Aber da in der Tür stand keine Edith, nein, niemand pfiff mich heraus. Sondern Michael wieder, drohend, stand dort, düster, zornig, ja zornig rot, und sein rechter Flügel, dieser dunkle, nicht aus Federn gemachte, sondern aus Leder wie bei Fledermäusen, aber, weil er so riesig war wie die Nacht, einen furchtbaren Schatten warf, denn hinter ihm war das Licht – Erlösung war da, Befreiung, die er uns verwehrte… – dieser rechte Flügel bebte. Niemanden ließe der Erzengel durch, keinen von uns aus dem Pfuhl der Hölle von Pantin: l’enfer de Pantin, was, wie ich plötzlich begriff, nichts als eine Verballhornung von Paris war, die mich hatte täuschen sollen und auch h a t t e getäuscht, Pantin und Paris, eines, ein einziges war gemeint, eine Stadt, die unter der Stadt ist und unrein, je reiner es oben geworden…
Ich drehte mich, glitschte mich um. Jemand hielt mich fest oder versuchte es, glitt an mir aus, ich glitt ebenfalls aus, glitt auf einem anderen Körper herum, dessen Glied wie eine Fackel abstand, deren Flammen aus geballtem Fleisch sind, tropfendem Fleisch, blutendem Fleisch, das schon angärt. Ich kotzte, ich kotzte mich selber voll. Ich mußte um mich schlagen, hierhin, dahin, da hatte sich schon wieder eine auf mich draufgesetzt, draufgedreht und rotierte ihr Becken und nein, nein, sie fragte nicht, wer ich sei, nein, überhaupt nicht, ich kam, kam in solchen Stößen, solchen Schüben, mein ganzer Körper, doch wollte das nicht, kontraktierte. Dazu ging aus den Boxen das WUMPA-WUMPA! wieder los, „Yeah, Yeah, Yeah!” und „Offres spécials! Tout doit disparaître!” Dazu aber, das Fürchterlichste, die Gerüche. Die mir, während ich noch zuckte und weiterzuckte, ein zweites Mal den Magen drehten. Die Frau lutschte dabei meinen Schwanz ab, dann richtete sie sich halb auf, sah mich an, wie ich immer noch zuckte, mich gar nicht einkriegen konnte, wie diese Kontraktionen durch meinen ganzen Erdmantel gingen, schüttelte lächelnd den Kopf und sagte: „Es ist doch nur Sex.” Was ein Satz, begriff ich plötzlich, der Samarkandin war. Sie hatte ihn in dieser Nacht gesagt, vor Tagen, in Berlin. Es war wirklich die Samarkandin, die auf mir hockte. „Wir müssen hier weg”, stöhnte ich, nein, ich weinte, weinte wie in einem Raptus. Dabei wollte ich ihr doch Michael zeigen, ich mußte ihn ihr zeigen. Doch sie schüttelte nur erneut den Kopf, lächelnd, einfach lächelnd, als wär ich nichts als ein fieberndes Kind. „Nur Sex”, sagte sie, „es ist wirklich nur Sex.” Dabei beugte sie sich vor und fing an, links meinen Hals bis in die Schulter hinabzulecken. Dann biß sie zu.

*******

19.34 Uhr:
„Raffaela!” schrie ich. Nein, schrie ich nicht. Es war ein solcher Schmerz, daß ich schreien gar nicht mehr konnte, sondern momentlang wegsackte, einfach nur wegsackte, aber spürte, daß ich das nicht zulassen durfte, daß ich verloren wäre, weil jetzt das mit dem Blut kam, unweigerlich, unaufhaltsam, die Spirale entgrenzender Perversion, ich kenne sie allzu genau. Wäre ich ohnmächtig geworden, und wenn nur für Sekunden, man hätte auf mich ein Siegel geprägt wie Fleischbeschauer den Stempel. Dann mich weggeschoben mit den anderen Hälften, wegziehen lassen auf dem Fließband, in die man uns zerspalten hat, oder an Haken eingehängt, die uns die Schulter durchstoßen; ein Kettenwerk zieht sie zum Kühlraum. Ich riß die Augen auf. Die Samarkandin hatte einen blutigen Fetzen zwischen den Zähnen und schleuderte ihren Kopf hin und her. Ich glaubte, sie knurre, aber das wäre in dem Technolärm gar nicht zu hören gewesen. Doch unmittelbar dachte ich an die Löwin, nein, dachte nicht: ich konnte gar nicht denken. Sondern es war ein Bild, eine Art Erinnerungs-Flash, es waren diese riesigen Steaks, die wir gegessen haben, jedenfalls sie, ich konnte meines kaum anrührn nach dieser Presse in der Tour d’Argent. Aber ich war wieder klar genug, mir diese Entweihung nicht zu gestatten, ich hatte W u t genug, das ist besser, als daß ich auch شجرة حبة in den grausamen Strudel dieser Ereignisse hätte mit hineinziehen lassen, nur, damit diesem Elvis auch sie noch zum Opfer dargebracht würde, der, nachdem der Eimer mit den Kaulquappen ausgekippt war, jetzt rohe Fleischstücke zwischen uns warf. Eines davon hatte die Samarkandin zu packen gekriegt, sie war nicht zu retten. Ich holte aus, weil sie nicht von mir runterglitschte, holte weit aus und schlug zu. Sie kippte benommen zur Seite, die Augen, weil sie sich so verdrehten, ganz weiß. Ich weiß nicht mehr, wie ich hochkam, ich weiß aber, daß Michael mich nicht vorbeiließ. Diese Art Lächeln, diesen triumphierenden Haß auf seinen Lippen, will ich nie mehr vergessen.
Ich stand direkt vor ihm, hinter mir wogte es immer noch weiter, das WUMPA-WUMPA! brüllte. In meinem Rücken spürte ich Elvis’ Blick und spürte, daß er jetzt genau so grade dastand wie ich, aber anders als ich nicht den Kopf in den Nacken legen mußte, um mich zu beobachten, während ich Michael ins Gesicht sah, hochsah und standhielt. Ich spürte den Wind, mit dem mich sein rechter Flügel befächelte, meinen ganze Körper befächelte, und wie kühl mir davon wurde.
„Laß mich durch”, sagte ich.
Er reagierte nicht.
„Laß mich durch.”
Er bewegte keinen Muskel, auch nicht die Lippen. Sie blieben geschlossen. Dennoch hörte ich ihn Nein sagen. Dabei rührte er weder die Hand mit dem Schwert, noch nahm er den linken Arm aus der Schlaufe des linken Flügelschildes. Er stand wie ein faschistoider Koloß Arno Brekers, den jemand zur Abschreckung abergläubischer Wilder vor ein Heiligtum gemauert. Das Nein war ernstzunehmen, rein material, man hätte ihn allenfalls wegsprengen können.
Ich drehte mich um. Elvis sah mich immer noch an, aber rührte sich fast so wenig wie Michael, nur seine Rüschen vibrierten etwas, weil er offenbar zitterte, und die Pailetten seines weißen Hexenanzugs schillerten in allen kenntlichen Farben. Man darf Tieren keine Angst zeigen, man darf sie nicht haben, sonst riechen sie sie. Ich hatte keine mehr. Nur meine Schulter schmerzte, ich drehte den Kopf, sah die kleine Wunde, wirklich nur klein, doch blutete sie in zwei Rinnsalen, die mir über das Schlüsselbein gelaufen, drunter aber bereits angetrocknet waren.
Ich drückte mich an Michael vorbei in den Nebengang, der zu den Garderobenräumchen führte. Suchte meine Sachen zusammen, raffte sie zusammen, drückte sie an meinen Körper. So kam ich wieder heraus. Weder Michael noch Elvis hatten sich bewegt.
„Y a-t-il ici e n c o r e une sortie?” rief ich zu Elvis hinüber.
Er reagierte nicht.
Ich rief lauter, nein schrie durch das WUMPA-WUMPA!, aber fordernd: „E n c o r e une sortie?!”
Er wies mit der linken Hand, in der er den Fleischeimer hielt, schräg hinter sich in Richtung der Toiletten.
Ich folgte dem Zeichen, schritt an den Toiletten vorbei, kam durch vierfünf andere Räume, teils völlig leere, teils stand Sadomaso-Mobiliar da herum, Andreaskreuz, Bock, ein Holzpranger, alles auf Mittelalter altgemacht; an den Wänden, blitzend vor Pedanterie, Ketten, Feststelleisen, außerdem das übliche Peitschzeugs. Niemand war hier, die Leute lagen ja sämtlichst am Dancefloor. Dann eine Tür, vor der eine abgehärmte Frau in ihrer Plastikschürze saß und auf ein paar wenige Münzen in eine Untertasse starrte. Sie hatte Gummihandschuhe an. Als sie mich sah, stand sie auf, wobei sie sich den Rücken hielt, sie hatte Wirbelschmerzen, spürte ich. Es roch nach spitzen Desinfektionsmitteln. Offenbar gab es hier weitere Toiletten. Aber direkt hinter der Klofrau glomm über einer Feuerschutztür der eingefleckte eckige Schirm, rot daraufgedruckt Sortie de secours, einer stumpfen Neonleuchte. Ich nickte mit dem Kopf, sie wollte die Tür aufziehen, schaffte es nicht, entweder war sie abgeschlossen oder zu schwer.
Sie war nicht abgeschlossen, aber auch ich mußte sehr ziehen, vor allem, weil ich wegen meines Zeugs, das ich weiter an den Körper preßte, nur eine Hand nehmen konnte. Hinter der Tür eine steile Betontreppe hinauf. Es war schon Tag, irgendwo zwitscherten Vögel. Ich nahm die erste Stufe, barfuß, völlig nackt. Hinter mir donnerte die Tür wieder zu. Ich schritt weiter hoch, das Geländer war rostig, auch oben das Geländer, das zu drei Vierteln um den schachtartigen Hinuntertritt ging, war verrostet. Völlig nackt trat ich in die enge Straße.20.53 Uhr:
Ich hätte in die andere Richtung gehen können, wo das Sträßchen auf eine größere Straße führte. Ich hätte mich anziehen können, ja müssen, denn es war von der Nacht noch kühl. Doch beides tat ich nicht. Stattdessen schritt ich auf die hohe Mauer zu, von deren fahlen, bröckligen Ziegeln die Gasse dort begrenzt wurde, und zwar reichte das über die beidseits nicht sehr hohen Häuser Hunderte von Metern, so schien’s mir, hinaus, ja reichte bis in den Himmel, dessen Wolkendecke entfernt auf mich heruntersah. Nein, ich mochte auch keine Schuhe tragen. Es war gut, diesen Stein unter den bloßen Sohlen zu fühlen und unter den Zehen, diese Folge von Steinen, und zwischen ihnen die Fugen zu spüren. Ich ging sehr langsam, es hatte, merkte ich, etwas Feierliches, wie als ginge ein Mensch Prozession, aber für sich und unbeobachtet. Was, wie ich grad merke, nicht stimmt, sonst könnte ich mich nicht selbst jetzt derart deutlich sehen. Schon wenn sich einer ansieht, ist er nicht mehr allein.
Es ging aber darum. Es ging darum, allein zu sein, nur mit sich, mit etwas, das sich überhaupt erst ist oder es wird. Vielleicht ist dies der Zustand der Meditation, der Zustand, den Zen-Mönche herzustellen versuchen und auch, heißt es, herstellen können. Vielleicht ist dies das, was sie das Nichts nennen, von dem Buddha gesagt haben soll: dies ist das Glück.
Eine Gasse kann kaum schmuckloser sein. Schmucklos, besonders, war die Mauer, die eine Hauswand, nein, die Außenwand eines Gebäudes war, zu dem es mich als Gebäude so hinzog. Ich wußte nicht, weshalb, ich dachte auch nicht nach, sondern ergab mich. Aber selbst das ist falsch. Es ist falsch, daß mich etwas gezogen hätte. Es ist falsch, daß ich eine Ahnung gehabt hätte. Es ist sogar, und besonders, falsch, daß ich von „ich” spreche. Wahrscheinlich läßt sich gar nicht in wirkliche Worte fassen, was geschah. Man bräuchte vielleicht einen Namen.
Rechts zwischen dem letzten Haus und der Gebäudewand gab es einen kurzen toten Gang, der neben einer rechtsseitig eingelassenen Metalltür endete. Es ist wahr, daß sie dem Notausgang der Hölle von Pantin sehr ähnlich sah. Aber es führten keine Stufen zu ihr hinunter, sondern sie war ebenerdig. Ich baue hier keine Spannung auf. Ich erzähle schlicht das, was war.
Die Tür war nicht verschlossen. Ich zog sie auf. Drückte immer noch meine Kleidung an meine Brust. Ich trat in die Sainte Chapelle. Hinter mir schloß ich die Tür. Ich mußte ein bißchen ziehen, sonst wäre sie offengeblieben. Ich legte meine Kleider am Boden ab. Als ich langsam, nackten Fuß vor Fuß, bis in die Mitte des Kirchenschiffs trat, brach draußen die Sonne durch die Wolken. Sie flutete die farbigen Fenster, und durch die sämtlichen Fenster gossen sich sämtliche Farben auf mich.

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8 thoughts on “Der Paris-Erzählung letzten Teiles Anfang, nachts in der Bar Frau v. Samarkand erzählt. Sowie davor an Charles de Gaulle, Terminal 2D, Paris. Vom Boot der Apokalypse und seiner Wahrheit. Das unbekannte Wort freilich bleibt. Les secrets de Paris (10).

  1. elegant, anh! wie sie hier die realität wieder reinholen und trotzdem immer weiter die geschichte erzählen. ich finde nur die sache mit betty b bissi nervig, aber die steht ja jetzt im arbeitsjournal. gut, dass sie das jetzt trennen.

  2. verwebungen die verwebung von realem und fantastischem und der lockere sprachstil sowie das sujet, das vor und zurueck, gefallen mir ausserordentlich. ich hoffe, Sie beenden die erzaehlung nicht so schnell…

  3. “…denn inniger ist achtsamer auch” Du edles Wild.
    Aber in Hütten wohnet der Mensch, und hüllet sich ein ins verschämte Gewand, denn inniger ist achtsamer auch und daß er bewahre den Geist, wie die Priesterin die himmlische Flamme, dies ist sein Verstand. Und darum ist die Willkür ihm und höhere Macht zu fehlen und zu vollbringen dem Götterähnlichen, der Güter Gefährlichstes, die Sprache dem Menschen gegeben, damit er schaffend, zerstörend, und untergehend, und wiederkehrend zur ewiglebenden, zur Meisterin und Mutter, damit er zeuge, was er sei geerbet zu haben, gelernt von ihr, der Göttlichsten, die allerhaltende Liebe.

    (Friedrich Hölderlin)

    Ich irrte mich. Verzeihen Sie. Sie können es doch: sich ergeben. Das heißt: Ich weiß nicht, ob Sie es können. Aber Sie können es schreiben.

    (Ich komme diesmal nicht “geschickt” mit Milton. Es passte. Aber zu arg.)

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