Unruhig. Verdi. Ach, Verdi vor der Serengeti. Das Arbeitsjournal des Sonntags, dem 9. Januar 2011. Darin eine Frage nach der Hundertköpfigen. Außerdem von Falten und Narben.

9.22 Uhr:
[Arbeitswohnung. Verdi, Simon Boccanegra.]
Vergil hat erreicht, was >>>> sein nächtlicher Anruf offenbar wollte; ich bin, im Wortsinn, fickrig. Dabei wollte ich mich wieder auf den Jungenroman konzentrieren. Stattdessen hab ich ein bißchen bei Spielzeug rumgesurft; es kann nichts schaden, immer ein bißchen davon bei sich zu haben. Aber das meiste ist zu grob und zu schwer; Leute, die mit Koffern rumreisen, finde ich absurd. Wer eine Gerte braucht, schneidet sie sich sowieso selbst; Parks und Gärten sind überall nah, man wird sogar in den cleangenormten Arealen neben Bänken und Sandkästen fündig. Dann braucht’s nur ein fein geschliffenes Messer und, am besten, Olivenöl.
Typisch für mich – und hinterhältig, ahne ich, von Vergil bedacht -, daß mich Abschlüsse längerer Arbeiten, die ja immer den Beginn eines nächsten Projektes bedeuten, so unruhig machen. Nein, ich bin wirklich nicht das, was man sich unter einem soliden Familienvater vorstellt, der seine Hörner abgestoßen hat. Ich habe die meinen, d a s meine, geschärft. Verdi ist da als schützendes Futteral nicht wirklich geeignet. Welche Spannen das Leben hat, welche Keller, welche Dachterrassen! Und zwischendrin Saunen und Schwimmbäder… – Dennoch immer die (Jugend)Hoffnung auf Einheitlichkeit, die sich den meisten, mit steigendem Alter, durch Abfindung ersetzt oder, je nach Perspektive, erlöst. Mit Verantwortung, übrigens, hat das alles nichts zu tun. Die läuft selbstverständlich nebenher. Was wiederum bedeutet, daß ich mich jetzt nicht etwa mit >>>> Melusine Walser beschäftigen muß oder sollte, sondern mit ganz besonderer Konzentration hat es mit dem Jungenroman weiterzugehen – einfach, weil ich in diesem Zustand nicht in Gefahr bin, sentimentale Kinderphilosophien zu vermitteln. Das neue Biedermeier unsrer nachpostmodernen Ära, die totalkapitalistische „reine Wirklichkeit im Lichte milder Verklärung” (Eckermann), ist meines nicht. Besser, eben doch, Vulkane, also Aufladung statt Verklärung. Rolligkeit statt Entsagung. Ein von Wollustgier getriebener Dalai Lama beschreibt ungefähr die Spanne: Geilheit und Güte, sowie sämtliche Zustände dazwischen und nichts davon unter den Tisch gekehrt, sondern stolz gegen die Menschen vertreten. So meint es >>>> das Abschiedslied der Elegien. Ein Zukunftslied, auf das wir alle schon für unsere Kinder verpflichtet sind. Inklusive unserer Irrtümer. W e n n ich eine Botschaft habe, dann diese. – Ach, dieser Verdi! Vielleicht hätte ich gestern nacht einfach nicht eine Räuchermakrele im Backofen erhitzen und sie dann auch noch verspeisen sollen. Zuviel Eiweiß, werden sie sagen, die modernen Fouchés, und ihre kalte Haut mit dem matten Glanz der Intrige behauchen. Übrigens fehlt mir die Anwesenheit >>>> femme100têtes. – Wo, verehrte Frau, sind Sie? Sie fänden in der Löwin eine respektable Freundin, die Sie beim Tennis manchmal schlägt. Dasselbe gilt für >>>> June. Ich aber wär ja doch nur auf das Weib in Ihnen aus.

Verdi! Ach Verdi! Hörte man Sie so wie ich, es käme Ihre späte Musik auf den Index. Daß ich der den Boccanegra zurechne, ist entstehungsgeschichtlich allerdings falsch. Ich tu’s trotzdem.

13.12 Uhr:
[Verdi, Don Carlos (italienische Fassung).]
Mühsam, sehr mühsam heute die Arbeit. Unterbrechungen sind n i e gut, wenn man grad so richtig in eine Erzählung hineingefallen war. Jetzt geht das nur Satz für Satz voran, nicht Absatz für Absatz oder gar Seite für Seite wie in den vergangenen Tagen. Cigarillo. Tee. Aber es ist ein gutes Gefühl, daß ich June >>>> noch nicht ganz verloren habe, allerdings bloß unter ihrer, sozusagen, Beobachtung stehe. Momentan steckt Kaiser mit dem Kopf in der Waschmaschine von Frau Schneider, und Menne hält ihn fest, damit sie, die Maschine, ihn nicht reinsaugt. Blöderweise kam ich auf die Idee, daß sie’s dennoch tut, einfach, weil Mennes Vater plötzlich im Zimmer steht. Immerhin ist es bereits kurz vor Mitternacht, und die Knaben gehörten eigentlich ins Bett, zumal Kaiser in das einer ganz anderen Wohnung. W i r d Kaiser aber reingesaugt, widerspräche das dem, was zwei Seiten vorher erzählt wurde. Außerdem: was macht er dann da drin? Mir fiele gewiß was ein, aber das würde die ganzen Erzählstränge durcheinanderbringen. Im übrigen ist es in dieser Waschmaschine auch nicht besonders wohnlich. ’ne Metalltrommel halt. Wiederum ist es, so drückt Menne sowas gern aus, „absolut” irre, wie anders Verdis Don Carlos auf Italienisch von der von mir deutlich favorisierten fanzösischen Fassung klingt. Es sind geradezu zwei verschiedene Opern. Wobei auch „La forza del destino” bereit auf dem Schreibtisch liegt, was aber ebenfalls meine Erzählung >>>> momentan nicht weiterbringt. Meine Linksetzerei sagt was über meinen soebigen Zustand. „Soebig” ist ein unbedingt zu verwendendes Wort. Und jetzt macht meine Aufnahme aus der Met auch noch die zweite große Pause. Häßlich, dieses Amerikanisch, „absolut” häßlich.

Vielleicht leg ich mich mal zum Mittagsschlaf, neben ihn. Und wenn er ein Einsehen hat, nimmt er mich in den Arm.

19.16 Uhr:
[Verdi, La forza del destino.]
Immerhin, zwei Seiten neu geschrieben und, vor allem, den total verratzten Schreibtisch saubergemacht; der war, seit ich mit >>>> dem Hörstück angefangen hatte, einem ständigem Mißbrauch meiner inneren und äußeren Tabacheria ausgesetzt: in die Krümel- und Ascheschichten konnte man schon Wörter schreiben – sofern dafür zwischen den ganzen Papieren, geöffneten, teils aber auch ungeöffneten Briefen, Büchern, Visitenkarten, Notiz-Backern, Stiften, Feuerzeugen und dem übrigen Kram noch Quadratzentimeterchen Platz waren. – Nun werde ich, wenn ich aus Serengeti und Heidelberg zurückkomme, einen sauberen Arbeitsplatz vorfinden. Das ist für poetische Klarheit wichtig, zumindest am Anfang eines Projekts. Gut, ich bin mittendrin in einem, aber durch die kleine Reise wird es am Donnerstag wie ein Neuanfang sein.Nur ich selber, horribile dictu, bin noch nicht sauber. Das geh ich aber nachher an. Und meinen Ofen, der sein übriges zu dem massivem Staubbefall tut, laß ich langsam erlöschen.

Meine Augen. Wie geht das im Stuwwelpeter? „Nein, meine Brille trag ich nicht!” Und die Lektorin schaute stumm im ganzen Typoskript herum. – Wird Zeit für die Augen-OP. Ich h a s s e Brillen. Aber mit den Kontaktlinsen kann ich nicht lesen, also schon gar nicht arbeiten. Was haben Männer für ein Glück, daß Falten auf viele Frauen anziehend wirken; meine mit dem ganzen Gesicht zusammengezogene Augenmuskulatur schnitzt mir nämlich grade viele davon ein. Die Löwin hat völlig recht, es für ungerecht zu halten, daß das umgekehrt nicht gilt: Männer ziehen, meist, ungefaltete Frauengesichter vor. Deshalb hat man das Wort „Teint” erfunden. (Ich vermute auch hier eine Mischung aus Genetik und sozialer Erfahrung: Frauen mit junger Haut signalisieren Empfängnisbereitschaft, Männer mit faltiger: daß sie das Nest schützen können – übrigens auch, vielleicht sogar besonders, wenn sie sich im Kampf Narben zugezogen haben; die zeigen, sie haben den Kampf überlebt. Möglicherweise gibt es eine visuelle Äquivokation von Falte und Narbe.)

15 thoughts on “Unruhig. Verdi. Ach, Verdi vor der Serengeti. Das Arbeitsjournal des Sonntags, dem 9. Januar 2011. Darin eine Frage nach der Hundertköpfigen. Außerdem von Falten und Narben.

    1. Sie vergesse diesmal bitte das feste Schuhwerk nicht. Sonst müssen wir im Hotel bleiben. Die Stöckel waren aufregend letztes Mal, das bestreite ich nicht. Aber für die Safari sind sie nicht wirklich geeignet. Sie erinnere sich einfach an dieses Flußpferd.

      Weiß sie, daß Lamas – spucken?

    2. Wie er wohl weiß, geht ihr pragmatisches Schuhwerk entschieden gegen den Strich. Pfui! Sie ist kein Huftier. Also wird er sie tragen.
      Sollten Lamas auftauchen, wird er sie absetzen: mal sehen, wer schneller spuckt.

    3. Lamas sind nicht das Problem, sofern das Makeup nässefest ist. Außerdem kommen diese Tiere in der Serengeti allenfalls versuchshalber vor, um die leone Speisekarte exotisch aufzulockern.

      Anders das mit den Flußpferden. Wie konnte sie das vergessen, wie schnell die Viecher sind? Um so lieber ich sie trage, um so gefährlicher werden Flußpferde deshalb.

  1. Ich bin da, lieber Alban, ich bin da. Ich halte es nur momentan sehr mit Ihrer Löwin: Ich schweige lieber.
    Wünsche Ihnen aber von Herzen nachträglich ein schönes neues Jahr.

    1. @June. Ihr Zeitbegriff scheint aus den Kategorien der Astronomie erstiegen zu sein wie aus dem Meer des Botticelli Venus. Denn jene pflegt Entfernungen nach Jahren zu messen, des Lichtes; Augenblicke aber, also Momente, sind zu kurz, um selbst in einer solchen Muschel Bestand zu haben.

    2. @June Wie arg verbrennt man sich die Lippen in der Serengeti: also schweige ich. Meistens. Außer, wenn mich der Mutwillen reitet.
      Warum schweigen Sie?

  2. Mit lese ich auch, lieber homme/automne, mit mindestens einem der zweihundert Augen.

    Und höre. Ihr Hörstück zum Beispiel habe ich mir, da in der Fremde, aufnehmen lassen. Es ist sehr dicht geworden, und in aller Dichte nur eine >>> Romantikerin (original, meine ich, also vor 1900). Wie ist das zugegangen?

    Nehmen Sie mein Schriftschweigen nicht übel, aber es herrschte eine Zeitlang Trockenheit im Dschungel, so Staub und Saxophonklänge, dass sich mir einfach nichts anbot… Und Tennis? Das war nie mein Sport. Aber vielleicht Schach?

    PS. Einen schönen Mann entstellt keine Brille!

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