Tabus in der Übersetzung.

In der Übersetzungsarbeit (vor allem literarischer Texte, aber nicht nur) werde ich nahezu auf Schritt und Tritt mit dem Unsagbaren der eigenen Sprache konfrontiert. Manchmal ist das Unsagbare auch das Unsägliche: Dinge, die meine eigene Mutter(-sprache) mir verschwieg.

(Das treibt mich im Moment ziemlich um: wie die intensive Zusammenführung zweier Sprachen die Löcher offenbart, die in ihnen klaffen – aber auch die bisweilen sehr filigranen Fäden, mit denen sie sie überspinnen.)

40 thoughts on “Tabus in der Übersetzung.

  1. @ hedinger: henze hat – kaum zu glauben – recht: es liegt am material. der/n sprache(n) nämlich, über die man nur dann etwas wirklich herausfindet, wenn man etwas ausdrücken muss, was nicht ursprünglich für sie und in ihr/ihnen gemacht ist.
    nun übersetze ich ohne jede literarische ambition. und doch kenne ich das, was Sie, herr hedinger beschreiben, ganz genau. die lücken, die plötzlich an orten klaffen, wo man sie niemals vermutet hätte, da man im steten flusse der ‘eigenen’ sprache einfach über sie hinweg gehoben wird.

    ob diese lücken schon die tabus der (dann eher vater- als mutter-)sprache seien, weiß ich nicht zu beurteilen. vielleicht haftet an ihnen je nur die erkenntnis, dass wenig selbst verständlich und noch weniger selbstverständlich ist.

    herzlich,

    A.

    1. und manchmal produzieren fliegende finger dinger
      und aus hediger wird
      dann schon mal ein hedinger.
      Sie verstehen.

    2. Wann wird denn aus Henze endlich ein angemeldeter und registrierter Hen-Tse? Oder hat der Herr, hat die Dame Schiss, sich verbindlicher zu äußern und tatsächlich zu kommunizieren, statt ständig nur kindische Rechthaberei zu produzieren!

    3. @Anima Töhr. Das Problem besteht darin, daß eine(n) Hen-Tse schon der Name davon abhielte, Rechthaberei zu betreiben, zumal kindisch. Ein Name verpflichtet. Deshalb möchte Henze gerne Henze bleiben. Und anonym.
      Ich finde das nachvollziehbar, wenn man sich solch einen Character einmal richtig vor Augen führt.

    4. @Aikmaier Ich habe natürlich ein bisschen überspitzt formuliert. Aber ich vermute – beweisen kann ich es Ihnen in einem kurzen Kommentar nicht -, dass das, worüber eine Sprache hinwegfliegt, schon Hinweise gibt auf wenn nicht Wunden so doch auf Vernachlässigtes, auf andere Gewichtungen.
      Ich staune immer wieder darüber, dass es im Brasilianischen kein “sitzen”, “stehen”, “liegen” gibt, nur ein “sich setzen”, “aufstehen”, “sich hinlegen”. Erstere müssen zum Teil umständlich umschrieben werden: “er ist gesetzt”, “er ist gelegt”, “er ist auf dem Fuss” – Sie können sich vorstellen, wie solche Formulierungen den Fluss eines Textes empfindlich stören können. In solchen Fällen, um der Schönheit oder des Rhthmus eines Textes willen, muss der Übersetzer dann in seiner Sprache eben jene Fäden spinnen, die eben kein Darüber-Hinwegfliegen sind.

  2. Und deshalb möchte Henze (.) Henze bleiben. Ich erinnere mich noch an Melusine. An die anonyme Melusine. Subtil, frivol, frech, witzig, manchmal anmaßend. Aus der Tiefe des Meeres (oder war es nur ein See?) kommend, in ihm wieder verschwindend. Ich weiß nicht, wie Sie es geschafft haben, sie mit einer Registrierung festzunageln. Anfangs zappelte sie noch, dann wurde sie müde, mehrfach von Ihnen geschurigelt, zog sie sich zurück. Und wenn sie dann und wann wieder einmal einen zarten Versuch unternimmt, sich zu beteiligen, eine Frage zu stellen, nur eine, sie kann lange warten. Arme Melusine, hätte sie ihr Meer doch niemals verlassen.

    1. Henze wimmert um Beistand. Versucht, Melusine für sich herbeizuhöhnen, anstelle bei ihr direkt zu schreiben. Da hält er sich aber bedeckt. Weil er weiß, daß sie anonyme Schlammwerfer verachtet. Dem mag er sich nicht aussetzen. Er müßte sich sonst täglich achtmal waschen, und wir wissen ja, wie sowas nicht mal von den Händen abgeht. So daß wir Verständnis haben. Denn wir wissen zudem, als Wurm sich für einen Menschen zu geben, ist schwer. Und dann noch: Beileid von so einem Schwänzchen. Das grenzt schon an Beleidigung.

      MelusineB hat >>>> eine sehr gute eigene Site. Wie schnell da das Henzchen abblitzen würde, benähm es sich dort so wie hier.

    2. Oder nehmen Sie “sowieso” Ich erinnere mich: was für ein furioser Auftakt, was für eine anarchistische Zeit. Ich weiß wiederum nicht, warum sie sich “adeln” ließ, in Ihrem Tagebuch schreiben zu dürfen. Bekommen ist ihr, wie frau das nachlesen kann, nicht. Ihre Rückkehr als anonymer “Gast” bleibt blaß und fahrig, fast so als sei sie ausgebrannt.

    3. Ist natürlich Ihre Seite, Herr Herbst.
      Aber warum nehmen Sie sich überhaupt die Zeit, so ein Phänomen zu erklären. Sie haben doch Besseres zu tun (z.B. Schreiben)
      So ein Phänomen ist doch flach. Erklärt sich von selbst.

    4. Oder nehmen Sie sich einfach selbst, Henze.
      Haben Sie kein eigens Innen?
      Bringen Sie das einfach mal privat zu Papier. Vielleicht vergeuden Sie hier nur einfach Ihre Zeit. Allein, das Sie sich von Herbst so provozieren lassen, lässt ahnen, dass Sie eigentlich mehr auf dem Kasten haben, als Sie hier zeigen. Also abtreten und:
      Ans eigene Werk!

    5. @egal Sie mißverstehen da etwas. Das ist doch das Konstitutive dieses Blogs. Was ist Fiktion, was fiktional? Sie können nie sicher sein, wer wer ist. Nicht einmal, daß Herbst selbst den Gast spielt, um die Handlung voranzutreiben. Literatur eben.

    6. Entschuligen? Dieses “Entschuligen” deutet – wie übrigens auch der Gähnreflex – auf übermäßigem Alkoholkonsum hin.

    7. @egal @Henze Egal, Henz-schen, Sie haben das Ganze falsch verstanden, obwohl Sie gelegentlich, selbstverständlich, auf der richtigen Fährte waren. Herbst, wie Sie sicher wissen, hat längst eingeräumt, dass er bloß ein (zweitklassiger) Schauspieler ist, der den hypermaskulinistischen Schriftsteller im Auftrag eines gewissen Deters (Sie erinnern sich?) spiele. Das allerdings, wie Sie ohne Mühe sich selbst hätten entschlüsseln können, war und ist ja nur eine weitere Finte. Zweifellos braucht in finsteren Zeiten wie diesen, in denen Demeters Ur-Gewalten endgültig verraten scheinen an Frauen in bonbonfarbenen Hosenanzügen, die sich mit herabhängenden Mundwinkeln wenig dekorativ ins Gruppenbild mit Investmentbankern drängen, der smart-ass-take-no-shit-anarcho-orgasmische Feminismus (also: die einzig WAHRE Religion) ein klares Feindbild. Hierzu also engagierte vor Jahr und Tag bereits M.B. (aka Derennamenichtgenanntwerdensoll) Deters und dieser wiederum Herbst. So also. Jedoch: Die Mittel gingen uns zwischenzeitlich aus. Auch dies blieb nicht unbemerkt. Wir wussten uns zu helfen. Herbsts Ego tat ein Übriges. Er ahnt allenfalls noch, wen er spielt und wähnt sich autonom, selbstverständlich. Gerade dieser Einschätzung verdanken wir die possierlichsten und ergiebigsten Aus- und Einfälle. Und selbst Sie, Henz-schen, müssen sich verneigen, vor dem poetischen Werk in seiner Strahlkraft, das unsere Inszenierung in all den Jahren befördert hat. Frohgemut räumen wir daher ein: Wir wissen selbst zwischenzeitlich kaum mehr zu sagen, ob es nicht doch mittlerweile Herbst selbst ist, der sich sich schreibt.

      Die Wasserfrauen

    8. mindfuck Das ist es doch, was hier by the by abgeht & alle Herrschaften sollten sich mal zusammenreissen. Hier gehts ernsthaft doch um die Tabus in der Übersetzung & um Hedigers Willen & nicht um diesen Hinz und jenen Kunz. [POPendingEYE]

  3. @ hediger und wer mag ich glaube, es hat nicht so sehr mit der anderen sprache zu tun, als vielmehr damit, daß in Ihrem fall der zu übersetzende text Ihre sprache oder Ihr sprachselbstverständnis (nicht wie vorher: sprachvermögen (weil’s irreleitete)) hinterfragt. ich kann’s ungefähr nachvollziehen, weil ich ähnlich wie Sie in zwei sprachsphären lebe. meinen frieden machte ich damit, beide als sich nicht gegenseitig ersetzbar anzuerkennen, als ich versuchte mich selbst zu übersetzen. es kam in der regel ein anderer text, weil es immer klang- und wortweichen gab, denen ich mich nicht widersetzte und die den zug in die richtung laufen ließen, die ein solches weichenstellen dann unvermeidlich zur folge hatte. also ein „stare seduto“ muß schon als ein „sitzen“ gelten (ähnliches problem mit den zustandsverben im italienischen), weil nicht ein deutschsprachiger liest, sondern der anderssprachige, dem das in dieser formulierung selbstverständlich. wo ich allerdings gemerkt habe, wie sehr die sprache fallen stellt und zu formulierungen führt, die man nicht so erwartet hat, war meine erfahrung mit dem experiment, von Heines >>> Lyrischem Intermezzo nur die endreime zu benutzen, um ihnen einen anderen vortext zu geben. da war ich gefangen. ansonsten denk’ ich, lassen Sie es klingen, ohne den inhalt zu verraten. es wird dann in gewissem sinne Ihr text, den ein anderer geboren hat und dessen gene Sie dennoch nicht zu leugnen vorgeben. also ich sehe keine tabus.

    1. @parallalie “lassen Sie es klingen, ohne den inhalt zu verraten. es wird dann in gewissem sinne Ihr text, den ein anderer geboren hat und dessen gene Sie dennoch nicht zu leugnen vorgeben.”

      Ja. Das geht anders gar nicht, wenn man einen Text nicht nur so treu und so gut wie möglich “wörtlich” übersetzen, sondern ihn auch zum Klingen bringen will. Ich merkte das wieder einmal bei der Übersetzung von ANHs Erzählung “Initiation” (ebenfalls aus dem Bändchen “Die Niedertracht der Musik”), die sich auf Anhieb – mit einigen wenigen Ausnahmen, wie dem letzten Satz zum Beispiel – ganz leicht ins Portugiesische übertragen liess. Dann aber, als ich meine Übersetzung las, von Wort zu Wort stolperte.

      Aber nochmals zu den Tabus: Sie haben recht. Ich sah Tabus, wo keine sind. Zeichnen sich Tabus doch dadurch aus, dass sie eigentlich in der jeweiligen Sprache ganz einfach auszusprechen wären und es etwas Vor- oder Nachsprachliches ist, das versucht, ihr den Mund zu stopfen.

    2. @ hediger ich versuche gerade, den tabubegriff weit zu fassen. wenn es nämlich bei den australischen aborigines tabu war, die namen der toten zu nennen, und die mit ihnen verbundenen begriffe durch andere worte ersetzt wurden (deren hunde etwa durften auch nicht mehr heißen wie zuvor, obwohl diese grad angelesene information recht postkolonial ist, denn hunde (dingos) kamen erst mit den engländern), um jede assoziation mit dem toten zu vermeiden, dann ist übersetzen ein tabuisieren der eigenen sprache, sofern der übersetzer aus seiner muttersprache übersetzt, denn er muß etwas ihm lebendiges für tot erklären und in ein anders lebendiges versetzen und für allein lebendig erklären. fiel mir jetzt – überspitzt vielleicht – dazu noch ein. gruß!

    3. @parallalie Tolle Überlegung! Manchmal ist das mit dem “für tot erklären” aber gar nicht so einfach… Bisweilen trifft man auf Passagen, die derart voller Leben sind, die derart stark in die Sprache hineingreifen, in der oder aus der sie entstanden sind, dass sie sie am Leben erhalten – sich gleichzeitig aber, gerade deshalb vielleicht?, der Zielsprache verweigern. Eine solche bereitet mir gerade ziemliches Kopfzerbrechen:

      Am Ende von ANHs Erzählung “Initiation” heisst es: “Zu ihrer Beerdigung erschienen um die einhundert Männer. Es gab weit und breit keine Frauen. Zum großen Teil kannte ich die Leute nicht, außer den sieben Kameraden der Schulzeit. Wir sahen uns nur an und gingen, ohne miteinander gesprochen zu haben, auseinander, nachdem wir der Tante unsere Seelen mit Händen voll Erde ins Jenseits hinterhergeworfen hatten.”

      Für diesen letzten Nebensatz finde ich keine Übersetzung – “hinterherwerfen” gibt es auf Portugiesisch nicht, was furchtbar ist, da in diesem Verb sich die ganze Erzählung wie ein letztes Mal verdichtet. Und jeder Versuch, ein ähnlich gewaltiges Bild zu finden, sind bisher gescheitert.

    4. @ hediger schöne verbindung des “für tot erklären” mit dem problematischen satz. ich hab’s gerade selbst versucht und fand: dopo aver gettato, con le mani piene di terra, addosso alla zia in partenza, le nostre anime come se fossero già arrivate nell’aldilà. ein rückübersetzen fällt mir schwer. addosso meint das körperliche: an etwas heran. in partenza meint das scheidende und will ein hinterher rechtfertigen. irgendwie eine hase&igel-situation, was da die hände voll erde vollziehen.

    5. @parallalie Eine elegante Lösung, die auf Portugiesisch leider nicht funktioniert. “jogar” – “werfen” evoziert, sobald es in Zusammenhang mit einer Person verwendet wird, im Portugiesischen sofort die Konnotation von “bewerfen”: “Nachdem wir die Tante mit Händen voll Erde mit unseren Seelen beworfen hatten”.
      Ich brauche also ein anderes Verb… diese Änderung macht dann aber das ganze Bild zunichte. Auch sehr schön an Herbsts Formulierung ist, wie sie Erde und Seele durch dieses “hinterherwerfen” innig verbindet. Diese Verquickung und Abhängigkeit ist ja in ANHs Denken von fundamentaler Bedeutung, dass ich es unbedingt in der Übersetzung erhalten möchte. Ich werde mich also weiter daran versuchen.

    6. “Sei allem Abschied voraus …” (Hölderlin) Nein. So geht das nicht. Dieses Hinterherwerfen ist kein Programm. Läßt sich nicht in sprachliche Schubladen sperren. Hat keine Insignien und keine verläßlichen Ausmaße und meisten verwechseln Sie es mit simplem Kitsch. Nur selten sieht man es einen der “sieben Kameraden” an der Nasenspitze an. Aber das, was sie da hinunterwerfen und polternd auf dem Sarg fällt, ist nicht die “reine” Erde, sondern der Dreck, wenn Sie so wollen, der Schmutz der Seelen. Von ihm, und damit von ihr befreien sie sich. Zurück bleiben “sieben saubere Kameraden” (und Gott, der Herr, wird die “Tante” schon sauber waschen.).

    7. @Henze Ja. Aber:

      “Nicht am Fleisch, an der Seele riecht man den Tod.” (Borges, nicht J. L., sondern mein Schwager).

    8. Mögliche Lösung? “após, com mãos cheias de terra, termos jogado nossas almas na cova da tia e de lá para o seu além.”
      :
      “nachdem wir, mit Händen voll Erde, unsere Seelen ins Grab der Tante und von dort ins Jenseits geworfen hatten.”

      oder:

      “após, com mãos cheias de terra, termos jogado nossas almas sobre a tia para o além.”
      :
      “nachdem wir, mit Händen voll Erde, unsere Seelen auf die Tante ins Jenseits geworfen hatten.”

      Die zweite Version ist mir lieber, auch wenn sie sprachlich ans Limit des im Brasilianischen Möglichen geht. Im ersten Lösungsansatz wird die “Flugbahn” der Seelen in zwei Etappen geteilt, im zweiten geschieht alles in Einem. (Es wäre streng genommen grammatikalisch notwendig, ein “und” zwischen “die Tante” und “ins Jenseits” einzufügen, wodurch aber wieder diese Zweiteilung entstünde.

  4. übersetzen als Verrat! Sobald es von Übersetzung die Rede ist, denke ich sofort an Verrat… nicht nur im Sinne des italienischen Wortspiels, sondern auch im Sinne eines Verrats an der Mutter. Die « Mutter »sprache wird in Frage gestellt, sie ist keine Evidenz mehr, und eine Stimme sagt mir : « Ich habe mir nicht die Mühe gegeben, dich aufzuziehen, damit du mich verrätst !! » Dieses oedipische Raunen hört man, sobald man von der Übertragung sprechen will. Ich bin mit der Milch der Muttersprache ernährt worden, und jetzt gehe ich über die Grenze meiner eigenen Sprache hinüber, um eine andere Milch zu kosten, was für die Mutter ein Skandal ist. « Gefällt dir meine Sprache/Milch nicht ? » Die Antwort des verlorenen Sohns klingt so : « Nein, Mutter, ich gehe hinüber, um die Sprache der anderen zu uns nach Hause zurückzubringen ». Die Bemerkung der Mutter geht weiter : « Ja, aber, unsere Sprache soll geehrt werden, nicht die Sprache der anderen… die sog. Fremdsprache !! Meine Milch ist die beste !!» usw… Unendlicher Streit desjenigen, der in eine andere Welt eintritt, die die Mutter nicht geahnt hätte, von der die Mutter nichts hören wollte. Deswegen ist der Schriftsteller wohl nicht weit von dieser inneren Zerrissenheit und Übersetzer und Schriftsteller haben in diesem Sinne das gleiche « Problem ». (In « Le Temps retrouvé » sagt Proust seitenlang, Dichten sei Übersetzen… Kafka spricht irgendwo(?) von den dunklen Umarmungen mit der Muttersprache).
    Die Mutter erzog ihn für die Normalität, den Anstand. Und jetzt schreibt er : er respektiert nicht den Vertrag der Generationen. Der Schriftsteller stellt sich ausserhalb der Gemeinschaft, spricht für das Allgemeine, das völlig andere… Der Übersetzer ist in einer noch schlimmeren Situation : er steht in der Welt des anderen und versucht mit einer anderen Milch die Milch der Mutter zu « bereichern » !

    Sobald ich aber mit der Übersetzung anfange, vergesse ich das alles und arbeite mit grossem Vergnügen !!

    1. @prunier. Verrat ff. Ihre Bemerkungen gehen mir na(c)h, Herr Prunier. Seit ich Ihren Kommentar vor wenigen Stunden las, lässt er mich nicht mehr los. Er hat ein Gefühl in mir geweckt, dem ich nachzuspüren versuche und langsam glaube ich, den Punkt ins Blickfeld zu bekommen, den er berührt hat.
      Die Übersetzungsarbeit setzt nicht nur über, sie setzt auch aus. Wenn ich einen Text aus dem Deutschen (meine Vatersprache, wie ich sie nenne) ins Brasilianische (meine Muttersprache, meine Muttermilch) übersetze, setze ich die Muttersprache immer auch der Gefahr aus, nicht zu genügen. Oder besser: ihr vor Augen zu halten, dass es Dinge gibt, die sich zwar im Deutschen, nicht aber im Brasilianischen ohne Verluste ausdrücken lassen (siehe die in diesem Kommentarstrang mit parallalie diskutierte Passage aus ANHs Erzählung “Initiation”).

      Es ist für die Muttersprache aber auch eine Gelegenheit, zu zeigen, dass sie nicht nur “Milch”, sondern auch “Fleisch” zu bieten hat…

      (Natürlich gilt dasselbe auch umgekehrt – es gibt Dinge, die lassen sich im Brasilianischen nuancierter, reicher vielleicht auch ausdrücken als im Deutschen.)

  5. @Markus A. Hediger Ihre “bisweilen sehr filigranen Fäden” finde ich äusserst schön !! Danke für diesen Ausdruck, die ich mir notiert habe !
    Diese Fäden sind unsere Hoffnung !!

    1. @syra-stein “após, com mãos cheias de terra, termos lançado nossas almas para o além da tia.”
      Fast… Noch fehlt der körperliche Aspekt, der in diesem “hinterherwerfen” enthalten ist. Vielleicht so:
      “após, com mãos cheias de terra, termos lançado nossas almas no ventre ulterior da tia”
      :
      “nachdem wir, die Hände voll Erde, unsere Seelen in den jenseitigen Unterleib der Tante geworfen hatten.”

      Tönt im Portugiesischen eleganter und mystischer als im Deutschen, trifft es aber auch noch nicht ganz…

    2. @Markus A. Hediger

      mal eine grundsätzliche Frage: Ist es denn in Brasilien üblich?, ich mein, kennen die Menschen diese Sitte, dies zu tun? Oder macht man in Brasilien in einem solchen Moment etwas anderes.

      “in den jenseitigen Unterleib…” Hmm…. der Körper der Tante besteht ja nicht nur aus dem Unterleib, die Erde wird ja der Tante hinterhergeworfen.

      Und wie wäre es damit?:

      “nachdem wir, mit Händen voll Erde, unsere Seelen auf den Körper der Tante ins Jenseits geworfen hatten.”

      “nachgeworfen…” gibt es das in dieser Sprache?

    3. @syra-stein: Grabsitten Nein, diese Sitte gibt es nicht. Aber ein brasilianischer Leser würde wissen, was gemeint ist.
      “nachwerfen” – nein, man würde einfach sagen “werfen auf”, selbst wenn das Nachgeworfene das Ziel verfehlen würde.
      Mal sehen, wie Ihr Vorschlag funktioniert:
      “após, com mãos cheias de terra, termos lançado nossas almas sobre o corpo da tia para o além.”
      Das geht, ja. Nur fehlt noch immer das “hinterher”, das ich im Original so stark finde.

    4. Und Seelengepflogenheiten. @syra-stein Sie machen mich mit Ihrer Frage aber auf etwas anderes aufmerksam.
      In Brasilien pflegen die Seelen nicht ins Jenseits zu verschwinden, sondern den Umgang mit den Lebenden weiter, bisweilen sogar intensiv, zu pflegen.
      Hätte ich das Ende der Geschichte als Brasilianer geschrieben, hätte ich die Männer eine Handvoll Erde vom Grab mit nach Hause nehmen lassen, als Pfand dafür, dass die Seele der Tante in ihrer Nähe bliebe.

  6. @Markus.A. Hediger Vielen Dank ! Es hat mir auch geholfen, das zu schreiben !

    Mein Vorschlag für diesen Satz ist folgender:
    “après avoir jeté nos poignées de terre qui comme nos âmes accompagnèrent ainsi la tante dans l’au-delà”: nachdem wir unsere Hände voll Erden geworfen hatten, die wie unsere Seelen die Tante ins Jenseits begleiteten”…
    Es ist nicht völlig befriedigend, aber der Ausdruck “poignée de terre” hilft mir (zwingt mich?) ein “wie” einzuführen, das im Deutschen gar nicht vorhanden ist…
    Im Französischen klingt das Ganze ziemlich lesbar… aber trotzdem. Ich zögere noch.
    Sie haben Recht zu sagen, dass unsere Muttersprache auch ihre Vorteile hat, und bisweilen besser klingt als der Text in der Originalsprache… das habe ich sehr oft erlebt. Ein Irrtum, den wir sehr oft begehen: Wir denken nur an das, was wir vom Originaltext nicht behalten konnten, aber sehr selten an das, was uns in der Muttersprache gelang.
    Mir scheint, dass eine Übersetzung nicht in einem einzigen Satz kommentiert werden kann, sondern im ganzen Text… wie das Ganze klingt, scheint mir wichtiger.
    Wenn wir aber bei diesem Schlusssatz bleiben, hört man in der französischen Fassung dieselbe Bewegung, wie im Deutschen… aber troztdem anders. Das kommt von der regressiven Form der deutschen Sprache, die wir in unseren romanischen Sprachen nicht wiederfinden. Wir (Portugiesisch, oder Französisch) drücken uns in einer analytischen Form aus: Element +Element…Aber in diesem besonderen Fall ist es für uns sehr günstig, weil wir mit dem “Jenseits”die Erzählung schliessen können…

    1. @prunier. Ihre Lösung auf Portugiesisch “após termos lançado punhados de terra que, como nossas almas, acompanharam a tia para o além.”
      Das funktioniert rein inhaltlich. Ich werde Ihren Vorschlag einmal in die vollständige Übersetzung ein”bauen” und sehen, wie das Resultat dann aussieht, besser: sich anhört.

      Ich habe – auch im Hinblick auf eine mögliche Lehrtätigkeit an der hiesigen Universität – damit begonnen, auf meinem >>>Weblog meine Übersetzungsarbeit und die Hürden, auf die ich darin stosse, zu dokumentieren.

    2. @prunier. Danke! Ihr Lösungsansatz hat mein Problem gelöst! Ihr Vorschlag fügt sich nahezu perfekt in den Duktus des Gesamttextes ein. Was für eine Musik jetzt. Toll!

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