„Die Tränen der Béart“. Im nervösen Arbeitsjournal des Dienstags, dem 24. September 2013.



aber ich hab Gottfried Kellers Ruhe nicht. Es sieht auch nicht aus, als könnte heute die Sonne durch den Dämmer brechen, „weiß und sonderbar“. Vielmehr regnete es die ganze Nacht lang so sehr, daß ich mich, anstatt nachher laufen zu gehen, was „drangewesen“ wäre, um zehn vor sechs ins Schwimmbad aufmachte und anderthalb Stunden schwamm. Ich war ein wenig benommen, weil ich nachts von den Statistiken geträumt hatte, zum ersten Mal diese Arbeit verträumt: Ich legte 28 Länderkarten, die wie sehr große Spiel-, Skat- oder Quartettkarten waren, an einer Wand entlang und formte sie zu einem, wie für Memory, Quadrat. Dann versuchte ich, mich in die Karten „hineinzuversetzen“, als wären es Wesen und ich wäre ein Medium. Davon wachte ich erstmals um fünf vor fünf auf und schlief dann nur noch sehr unruhig bis zehn vor halb sechs weiter.
Ich bin nervös, >>>> „mein Ruh ist hin, mein Herz ist schwer“, Franz Schubert, op. 2, D. 118:


(Eigentlich hätte ich gerne eine Männerstimme hiergehabt;
ich habe auch eine Aufnahme mit Fischer-Dieskau, aber
bei Youtube findet sie sich nicht. Daß ich nun dieses Video
gewählt habe, weist allerdings auf auch eine Wahrheit.)


Was ist wirklich, was ist Projektion? Jedenfalls habe ich die beiden >>>> Αἰαιαη-Erzählungen, weil ich fürchte, daß sie es, Erzählung, bleiben werden, in eine gesonderte Datei kopiert und abermals überlegt, ob ich nicht ein Gedicht schreiben sollte, das den >>>> Béart-Zyklus fortsetzen könnte (>>>> „What then? Write it, damn you, write it! What else are you good for?“), den ich gleich wieder vornahm. Wie groß da mein kleines Erschrecken, als ich feststellen mußte, >>>> den begonnenen Dithyrambos II als Tränen der Béart beieseitegelegt zu haben! Wie nahe doch unsre Erhebung immer bei unserer Not ist! Manchmal versteh ich sie gut, die vielen Menschen des Mittelmaßes, denen Intensität als genau das Entsetzen gilt, das sie auch sein kann. Und doch ist sie alles, auf was es ankommt.
Eisenhauer, gestern abend beim Billard, sah mich wie erstaunt an. „Wie ein ganz junger Mann“, sagte er. „Manchmal beneide ich dich darum, daß du so wenig reserviert bist, wenn es um Gefühle geht, daß du immer noch unbedingt sein kannst, egal, was dir in deinem Leben schon an Schrecken widerfuhr.“ Ich habe lange, sehr lange keinen Queue mehr in der Hand gehabt, er schlug mich und schlug mich Partie um Partie. „Noch fünf Abende, aber, und du hast es wieder im Körperinstinkt.“ Wir setzten uns noch an die Bar, ich trank einen ausgezeichneten Rum, keinen Vodka, was nähergelegen hätte, aber deshalb nicht, weil man den kippen muß; ich jetzt wollte aber nippen. Eisenhauers Distanz tat mir gut, tut mir gut, seine liebevoll ironische Distanziertheit, auch sein immer scharfes Urteilsvermögen. „Du bleibst nicht stehen, gehst ständig weiter.“ „Ich wollte eine Weltreise machen, wenn mein Junge achtzehn ist. Einfach so, ohne Geld, mich treiben lassen. Das würde nicht mehr gehen.“ „Dann machst du sie halt zwanzig Jahre später.“ „Dann werd ich achtundsiebzig sein!“ „Soll ich dir einen Spiegel holen?“
Mein armer Sinn
ist mir zerstückt
Und sowieso, ich begehe einen Fehler nach dem anderen, rein mal so „als Mann“ gesprochen, der sich mit Mefistofeles ja nun auskennt und >>>> seine Lehren zu beherzigen weiß. Wobei dies Wort, beherzigen, eben das falsche und aber genau das treffende ist. So einer, ein Fehler, wurde mir gestern nacht bewußt, als ich mich mal wieder auf ausgesprochen heftigen Pornosites herumtrieb. Aber wie >>>> bei Fichte steigt abermals Kalkreuth in mir auf. Kindheit, immer, währt, wenn wir uns öffnen, in uns weiter. Geht es um solch ein Öffnen nicht aber?Ich möchte schwimmen, hinausschwimmen, in weiten, sicheren Zügen dorthin gelangen, wo Kalkreuth und Fichte eines werden, hochgehoben vom Meer, fallengelassen. Aufgelöst, ineinander wieder, ganz wie sich die Küsten übers Wasser berühren, das Mittelmeer hier vor Sizilien, Dein arabisches Meer, Irene, und der Blick in den Iran, die verlorene Heimat. Und die Ostsee vor meinem polnischen Kliff.
>>>> Meere, 223.
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Nun aber ist erst einmal die Finanzamtssache abzuschließen: zwei Anschreiben sind zu schreiben, eines nach Frankfurtmain, eines nach Berlin, dann muß ich zum Kopierladen, um Zweitschriften für meine Akten zu haben. Und wiederum dann, ein kleiner Auftrag kam herein, will ich eine kurze Rezension über den >>>> Fahlmann schreiben. Danach liegt wahrscheinlich Nachricht aus Vilnius vor. Falls nicht, setze ich entweder den Dithyrambos fort oder fange ein neues Gedicht an.

: 10.30 Uhr.
(Einige Zeit in FB mit >>>> Prunier gesprochen und ein bißchen was in Gang gesetzt: Ich möchte gerne, daß er sich >>>> Gedichte von Schultens anguckt und sie vielleicht übersetzt. Mal sehen, was er sagt. Und über >>>> Argo will er schreiben, in >>>> L’Atelier du Roman („Les romanciers d’abord“), Flammarion. – Ist das bei Ihnen übrigens auch so, daß Facebook das ganze System extrem langsam macht?)

14.58 Uhr:
[Espresso nach dem Mittagsschlaf.]
Draußen gewesen, Kopierladen, Post, aber auch bei लक्ष्मी, die noch einen Anzug von mir gefunden hat und meinen geliebten Trenchcoat; ich hatte diese Sachen beinah vergessen, bzw. über den Mantel im letzten Jahr gedacht, ich hätt ihn irgendwo hängen lassen. Aber er paßt jetzt ausgezeichnet: Es regnet und regnet. (Etwas zu essen gab es im alten Daheim… wiewohl „daheim“? – das war ich immer wohl hier, auch, als ich noch auf klassische Weise als ein Vater in seiner Familie lebte. Die ich damals freilich selbst aufs Spiel gesetzt habe. Wie war das? Polyamorie?)
Jetzt an den Text zu >>>> Fahlmann. Ich mag das Gefühl haben, heute etwas zuwegegebracht zu haben. 1000 bis 1400 Zeichen, vorgestern abzugeben.

16.03 Uhr:
Fertig, aber etwas zu lang geworden. Mal sehen, was mein Auftraggeber sagt.
Gleich kommt mein Sohn her, der sich drei Finger geprellt hat und jetzt eine Schiene trägt: Es klingelte Sturm an der Tür, er springt endlich auf, verheddert sich in seine Kopfhörerkabel, schlägt hin… reinster Slapstick, aber ziemlich schmerzhaft. Jetzt soll ich mir die Schiene angucken. Also werd ich noch einen Espresso trinken, weil er Espresso immer haben möchte, wenn er hier ist. Ein junger Mann halt schon. Vaterstolz.

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3 thoughts on “„Die Tränen der Béart“. Im nervösen Arbeitsjournal des Dienstags, dem 24. September 2013.

  1. Familienleben … … halt. Manchmal beneide ich Sie darum. Meistens aber nicht.

    Ich hoffe, Sie haben über all dem nicht vergessen, Herrn Leucht wegen der Lesung anzurufen.

    Gute Besserung für den Sohn
    PHG

    1. Familienleben@PHG. Nun ja, Es wär dann eine Familie, wie sie kernhafter nicht geht: Sohn und Vater. Das ist unverbrüchlich fest. Zu dem andern aber, was einst war, besteht das lockere Verhältnis eines, ich möcht es einmal nennen, sorgfältigen Hinsehens aus der Distanz und also der Bereitschaft, da zu sein, wenn man mich braucht. Darüber hinaus aber nichts mehr.

      Herrn Leucht vergaß ich nicht, mochte nur noch nicht anrufen, weil mich andere Belange besetzten. Ich werde es heute nachholen.

      (Der Sohn weist seinen Gips, wie zu erwarten war, als einen kleinen Triumph vor, den er allerdings schnell auch wieder loswerden will, nachdem er ihn nun einholen konnte. [:Autorenmacke: Selbst an solchen kleinen Sätzen bastel ich so lang herum, bis der Rhythmus stimmt.])

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