„Heiterkeit auf dunklem Grund.“ Untriest 79: Sonntag, der 3. Mai 2015.


Arbeitswohnung, 6.47 Uhr
Thomas Tallis: Spem in alium


Ruhiger Tag, Liebste,

gestern; ruhiger Tag wohl heute. Ich spiele mit dem Gedanken, ihn in der Sauna zu verbringen; vorher schwimmen, dann >>>> den Witzel dabei, um ein großes Stück weiterzulesen zwischen den Gängen. Man kann hier, im Thälmann-Bad, auch draußen liegen. Ebenso lesen morgen auf der Frankfurtfahrt, damit ich sehr bald die Rezension für >>>> Volltext schreiben und abgeben kann. Mit Freude las ich, daß er, Frank Witzel, in der Woche >>>> nach meiner eigenen und Daths und Popps Veranstaltung >>>> ebenfalls im Literaturforum lesen wird. Denn ich befürchte ein wenig, >>>> auch dieser Roman könnte zu den Büchern gehören, die der Betrieb abstößt. Aber vielleicht, hoffentlich, irre ich mich. („Sie haben keinen Stallgeruch“: Kühlmann, um 1995).
Hab mich ein wenig nach Literaturpreisen umgesehen, nach etwas, das meine derzeitige Finanzenge, bevor sie zu -not wird, wenden könnte. Nix gefunden. Es dreht sich nur das Karussell;: bedacht wird, wer schon draufsitzt. Die Löwin führt es aufs Sicherheitsdenken, das wohl mehr ein -fühlen ist, zurück. Niemand will ins Risiko laufen, sich zu irren; also wird der eigene Geschmack am gewissermaßen sozialen auf- und ausgerichtet. Das entspräche, wenn sie recht hat, der Bewegung in die Konsensgesellschaft, von der ich Dir schon mehrmals geschrieben habe; letztlich geht es auch hierbei um die Äquivalenzform, ist also internalisierter Kapitalismus. Man kann das den Menschen wahrscheinlich nicht übelnehmen, sondern es ist ein Ergebnis ihrer Prägungen, aus denen sie sich möglicherweise selbst dann nicht lösen könnten, wenn sie es wollten. – Nur hilft mir, dies zu wissen, nix.
Weitermachen, Geliebte, bis über einem alles zusammenbricht. Einfach weitermachen. Die Freunde haben mich gefragt, ob ich in den letzten beiden Maiwochen, wenn sie auf Reisen sind, ihr Haus beaufsichtigen wolle. „Wir packen dir den Kühlschank voll.“ Es wäre eine Möglichkeit, die Triestbriefe wenn nicht abzuschließén, so doch ein gut Stück dem Abschluß entgegenzubringen. Hier in der Arbeitswohnung falle ich ja nach wie vor immer wieder in schwer melancholische Erinnerungszustände, die meine Arbeit zwar nicht völlig lähmen, aber doch arg arg verlangsamen. Trauer, nach wie vor. Der erscheinungshafte Moment unserer, wie ich ihn nannte, Erleuchtung. Ihre intensive, doch so kurze Wirklich- und Wirklichkeitswerdung. Die, wie Du es nanntest, Notbremse dann. Das persönliche Schweigen, die Leere, als wäre einem ein halber Leib genommen und fast die ganze Seele. Dieses Gefühl der Unfertigkeit: Man wird fortan als ein Fragment durch die Welt gehen, als ein, sozusagen, Provisorium, das immer wieder gekittet werden muß, die losen Glieder mit dem befestigt, was grad zur Hand ist: Tesafilm, mal zweidrei Tropfen Sekundenkleber, hier und da wohl auch mal eine Schnur. Schienungen. Es liegt auf der Hand, daß solches Reparieren Freunde braucht, die helfen, und sei‘s nur, um beim Verbandswechsel das Bein gerade zu halten.
Deshalb, sagt die Löwin, scheuten sich die meisten Menschen vor der Intensität: weil ein einziger Blick genügt, um, wenn man ihn erwidert, jahrzehntealte Lebenskonzepte umzuwerfen, auch wenn sie sich bewährt haben. Bewährtheit lasse sich nur schwer aufgeben. Wobei in der Tatsache selbst, daß so etwas nämlich möglich ist, doch auch eine riesige Hoffnung aufscheint: daß wir uns nämlich lösen können, daß Prägungen eben n i c h t absolut sind, sondern daß wir aus unseren Programmen hinausgelangen können, um eines Tages vielleicht wirklich selbständig zu sein, unabhängig, frei. Nein, meine Schönste, dies verliere ich ebenso wenig aus dem Blick wie den Umstand, daß auch Leid ein enormes Energiepotential birgt; ich muß mich nur erst wieder instandsetzen, es auch zu nutzen. Vielleicht ist es noch zu früh dafür; ich meine, denk nur an den Satz der großen Dietrich, sie habe dreißig Jahre – dreißig! – gebraucht, um die Trennung von Gabin zu verarbeiten. Wohl dann der und dem, die Künstler sind und diese Verarbeitung in ein Werk flößen können! All die anderen, ja, da verstehe ich, daß sie Erleuchtungen fürchten; wie sollten sie denn anders klarkommen, wenn sich die Erleuchtung wieder entzieht? Da bleibt nur die Verdrängung.
Außerdem muß ich zugeben, daß mein intensives Leereempfinden auch damit zusammenhängt, daß die Lektoratszeit vorüber ist, des >>>> Traumschiffs. Da war ja etwas, an das ich mich halten, auf das ich mich ausrichten konnte. Nun ist auch dafür Schweigen geworden, und ich kann nur noch warten – warten auf erste Reaktionen auf die gebundenen Fahnen, warten auf die Leseexemplare, warten auf die Reaktionen auf diese; doch fürchte ich, es wird so wenige geben, oder keine, wie auf die, zum Beispiel, >>>> Elegien oder gar >>>> Argo. Auch bei diesen Büchern hatte ich gehofft, sie würfen das Ruder herum, und nichts geschah. Kaum was, jedenfalls. Da ist es schwierig, sich den Optimismus zu bewahren; andere als ich hätten schon vor Jahren aufgegeben. Ein bißchen komme ich mir wie jemand vor, der dreißigmal auf eine heiße Herdplatte faßt, die ganze Hand auf sie legt, und es nun, dennoch, das einunddreißigste Mal versucht, weil er vielleicht n u n ohne Verbrennung davonkommt. Ein bißchen irre, oder?, ist das s c h o n. „Du hast keine Chance, aber nutze sie“: Sätze, die uns weitergehend geformt haben, als wir, da wir sie erstmals hörten, haben ahnen können. Und immer noch mag ich in die Oper nicht mehr gehen. Für Filme bevorzuge ich neuerdings Komödien. Ablenkungsstrategien.
Große Freude, ja Glück bereitet mir mein Sohn. Er war gestern mit auf der Feier. Ich seh ihn an und denke: Meine Güte, wie toll! Es gefällt mir, wie er unterdessen zu einer Gruppe gehört, in ihr Inneres. Einmal k e i n Außenseiter. Was doch zu befürchten stand, schon bei diesem Vater. Sondern ein wiewohl eigenwilliger pars inter pares. Es ist also nicht so, daß ich permanent im Unglück schwimme; nur meine >>>> Grundierung hat sich melancholisch eingefärbt; über ihr lächle ich nach wie vor, auf ihr steht die Bereitschaft noch immer: um Gradheit zu kämpfen. Wenn ich das nicht mehr kann, erst dann, Geliebte, wär um mich zu fürchten.

Hab einen wundervollen Sonntag, auch wenn Du heute, >>>> wie ich eben sah, wirst auf die Bläue eines von der Sonne beleuchteten Meeres verzichten müssen. Ich meinerseits schiebe gleich die Teiglinge zweier Ciabatte auf den vorgeheizten Backstein, und wenn sie fertig sind, packe ich mein Schwimm- und Saunazeug, schnappe mir den Witzel und werde dann bis zum Abend nicht mehr erreichbar sein, nicht einmal für Dich. Vorher allerdings will ich noch einem Wiener Freund schreiben, dem ich nun schon lange Antwort schuldig bin.

A.

[Beethoven, Erstes Klavierkonzert (Kempff)]

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .