Weiter denn, nur weiter! Das Herbstjournal des Montags, dem 7. September 2015.






[Arbeitswohnung, 8.42 Uhr
Bach, Sonaten & Partiten für Violine solo
Jean-Jacques Kantorow]

Weiter denn, nur weiter, mein treuer Wanderstab!
Wilhelm Müller, Das Wirtshaus


Daß ich keine Musik mehr hörte, sagte ich der Löwin gestern, nicht mehr in ihr wie immer sonst mir Ruhe fände. Imgrunde schon seit einem Jahr nicht mehr, oder ich habe einen Anlaß, oder Freunde legen auf. Die neuen Opernprogramme sind gekommen, ich habe nicht mal reingeschaut. War da nicht eine Leidenschaft?
Die Löwin wird zur >>>> morgigen Traumschiffpremiere nicht kommen; sie trauert;
sie sei nicht gemeint; ich wünschte jemanden andres hin;
gar nichts kann ich sagen, traure auch;
sie hat verweinte Augen in Facetime;
mir kommen auch manchmal Tränen, trocknen sprödschnell wieder ein
denn | alles steht auf Fassung | faß dich | laß
dir nichts ansehn, wenn du öffentlich wirst,
die Spaltung des geschriebnen Ichs ins, na ja | wär‘s denn eines | „Business“;
wir sehen uns an und können nichts sagen
Wiederholungen: jemand schrieb zum >>>> Sanften peinlich
meinte, glaub ich, mich, nicht ihn
getreten immer auf denselben Fuß die | selbe Stelle jahrelang
da >>>> griff der alte Herr zum Beil
aber | Wiederholungen | redundante Klagerei | „Du
mußt einfach weitermachen, durchhalten, dieses Buch ist
zärtlich | Frauen lieben es“ mein | >>>> treuer Wanderstab vielleicht
ein Lexotanil? heute mal? ir|gendwie Ruhe bekommen
Keine Rast | weiter denn, nur | weiter
habe mich geirrt
fehlgehofft weiter | dachte Ruhe
und haste bereits ins nächste Buch | hab dieses schon verlassen
auch so entsteht ein Werk
Dostojewski schrieb gegen seine Schulden an
Muß man wohl a u c h sehn daß | unter anderen
Umständen | ein wenig mehr Gewogenheit
und Geld kaum | ein Drittel meines Werkes stünde
(spielt aber schön, der Kontorow)
Ihr allerergebenster, Ihr demütigster Diener
Bachs Bettelbriefe | Haupt voll Sühne um paar Groschen
Kagel | >>>> Uraufführung 85 | quetscht dir das Herzl
Immer noch um die Miete das | mit Sechzig monatliche Bangen
weiter denn, nur weiter | dreißig Bücher aber
dem Sohn das Studium nicht finanzieren können
ja schämt der sich nicht? Was is‘ ‘n das fürn | Schlappschwanz
wird Zeit, dasser TRAUMSCHLAPP krepiert
Hättste dich mal angepaßt | o wir kriegen klein
was wir nicht biegen | können | sehr
intensiver Tatort war >>>> das gestern mit | drei
heftigen Regiemacken | oder | ideologischen:
Staatstragung, was | den Film fast kaputt
doch wie die verstörte verwundete Frau
dann seine Finger in ihre Hand nahm, wieder, die rechte
und wie gebrochen-wissend er, der Ermittler | schaut
am Ende – und | unzerstörbar blieb der Stolz
der in die Welt nicht paßt –

Um 14 Uhr Interview beim rbb; wird morgen vormittag ausgestrahlt
Die Sonne ist herausgekommen, nachdem der Morgen kühl
„Wer will“, fragt die Löwin, „denn Abschied nehmen?“
Weiter denn, nur weiter.
Seit fünfunddreißig Jahren.
„Dann eben noch mal zwanzig, nimm‘s in die Hand!“
Hab es und halt es.
Lexotanil?
Gleich sagt wieder jemand „peinlich“ | und
| feixt




*

Mir kommt es auf Erklärung allerdings nicht weiter an. Es wäre im Beisein der Freunde leicht gewesen, unter der Sonne zu sterben, mit ihrem warmen Licht auf den Augen. Man schließt sie vor Helligkeit sowieso. Dabei stört es auch nicht, daß der Besuch meine Hand hält. Es ist sogar sehr angenehm. Man ist locker daran festgemacht wie ein Boot auf einem so stillen See, daß man ihn für verwunschen hält. Am Ufer, mit einer Schnur. Da muß keiner fürchten davonzutreiben, oder nur kaum. Bei geschlossenen Lidern habe ich außerdem den Eindruck, daß es eine Männerhand ist, die mich hält. Eine, möchte ich fast sagen, Vaterhand. Es gibt Illusionen, um die ist es schade, wenn man sie stört.

>>>> Traumschiff, S. 270/271

[Bach, BWV 1003, Fuga]



3 thoughts on “Weiter denn, nur weiter! Das Herbstjournal des Montags, dem 7. September 2015.

    1. Wann die Löwin weint, geht Fremde nichts an, Poet! Weil aber des Trauerns müde, wird sie morgen Abend kommen: Manchmal geht’s um mehr als das Private.
      Und falls ihr wer vor die Pranken läuft, der die Fasson nicht wahren kann, kriegt er eine gewischt.
      Das gilt auch für Frauen.

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