III, 386 – Stein und Bein

Aus dem Fenster schauen. Wie sie sich erheben, dann endlich am späten Nachmittag, den sie auf der Bank verbracht haben. Vorsichtiges Bücken zur Gießkanne die eine, Hände Halt suchend die andere, und grad die mit all den Blumen noch auf dem Kleid, das Gesicht ein Lavafeld, auf dem nicht mal mehr Ginster blüht: le sorti dei decenni ormai. Secoli di vita paesana. In diesen alten Frauen. Kein ironischer Gesichtszug mehr beim Sprechen wie bei den anderen, nur noch das, was vielleicht noch zu sagen ist, wenn überhaupt. Wahrscheinlich das Umherirren im jeweiligen Geflecht verwandtschaftlicher Beziehungen. Die erstaunliche Körperfülle zuweilen.
So alte Männer sieht man nicht. Es gab welche. Zwei sind dieses Jahr gestorben. Und was sonst an Älteren herumläuft, scheint jünger zu sein als diese Frauen, die keine Männer mehr haben.
Saß heute selbst in der Sonne auf dem Rathausplatz auf einer Bank. Vor mir ein dicker BMW, dem sich eine sehr alte Dame näherte und eine jüngere, die scheinbare Chauffeurin, beide mit ihren Smartphones beschäftigt. Eine jede sprach für sich ins Gerät hinein, auch noch lange, nachdem der Motor angelassen war. Eine jede schaute zur jeweils anderen Seite.
Ich wartete auf die Ex-Schwägerin, sie sei, als ich anrief, im Rathaus, wenn ich Lust hätte, könne man ja in der Bar auf dem Platz etwas zu sich nehmen. Mir war danach. Hatte sie seit einem Monat nicht gesehen, seit sie angefahren worden war von einem Auto und sich bei meiner Ex, ihrer Schwester, verkrochen, weil eben Gehen manchmal ein schwieriges Ding, wenn der Knöchel angeknackst.
Und man fängt an, sich selbst beim Gehen zu beobachten, sofern man es sich verordnet. Wie in meinem Fall. Hügelauf merkt man schon die Waden. Und ich habe es ja als Jungmensch immer gehaßt, die Alten über ihre Zipperlein reden zu hören. Es gab nichts Deprimierenderes, als dabeizusitzen und ihnen zuhören zu müssen.
In der Bar gab es dann aber doch ein bißchen Koffein und Adrenalin. L’ami belgique avec sa fille, deren Neugier sich der Krücke widmete, die die Ex-Schwägerin bei sich hatte. “Wehgetan”. Weiteres Adrenalin seit gestern: Pläne für September: ein face â face a l’infini. Ich sollte mich eigentlich fürchten. Immerhin ein vor- (vor-, vor-?) letzter Versuch: der eine, in eine Vergangenheit einzutauchen, die mehr als vierzig Jahre zurückliegt, der andere, im hic et nunc eines Jetztseins sich zu versuchen, das sogar etwas hervorruft wie eine Spichernstraße (obwohl auch die fast ebensolang zurückliegt)!:


[Damals in der Spichernstraße (ums Jahr 80 herum)]. Aber dennoch weit entfernt davon, ein Stein sein zu wollen, selbst wenn es Momente gibt, in denen eine Untätigkeit zum Wunschpflaster für die Wundenwünsche wird, die sich zuweilen sogar bewahrheiten. Man fällt aufs Knie, es tauchen rote Flecken auf den Unterarmen auf. Und in einer Wüstenei zu leben, wie der Apotheker in ‘Apatit’. Dessen Ende ich mich nähere. Das sich nicht regen wollende. Das sich nicht erklären lassen wollende. Und deshalb Streiche spielende. Eine Art Matera mit seinen illegalen Fremdenführern und illegalen Taschenlampen, die auf Dinge hinweisen, die man nicht sieht: “Vedete, non si vede niente.” So dort damals in den Osterferien.
Die Hotelbeschreibung am Anfang. Ich dachte noch: “Das Schloß”, “Die Tatarenwüste”, aber dann weiß man nicht mehr so genau, wo man ist. Und am Ende dieser Apotheker (Apotheker in der Weltliteratur: Schule der Atheisten, bei Handke irgendwo (Der Chinese des Schmerzes?)), in Beipackzetteln, wenn empfohlen wird, den Arzt oder den Apotheker zu fragen (also doch nicht unbedingt Weltliteratur)), der darüber spricht, wie’s mit seiner Apotheke in der Wüstenei dort weitergehen soll. Und ich dachte: Bernhard! Und nach dem Gedanken tatsächlich so ein Bernhard-Satz, in dem ganz naturgemäß ein “naturgemäß” auftaucht:

Kein junger Mensch mit einer solchen Studienabschlussheilungswut werde an einen Ort gehen, wo es eigentlich nichts zu heilen gebe und die höchste Aufmerksamkeit der Unmöglichkeit zu heilen, der Unheilbarkeit gelten müsse, an der es sich zu messen gelte, der seine Nachforschungen hinterherhechelten und die der Wesensgrund dieser Landschaft sei, was ja nur die höchste Herausforderung darstelle, der er sich als Apotheker stellen könne, denn die Unheilbarkeit sei naturgemäß nur die Unheilbarkeit der Menschen, und die Unheilbarkeit des Menschen sei letztendlich die Unheilbarkeit des menschlichen Denkens, was wiederum nur eine Diagnose des unheilbaren menschlichen Denkens sei, das sich so selbst als unabdingbares Allheilmittel verschreiben wolle…

Der Satz geht noch weiter, und wenn ein Buch so eine Wüstenapotheke ist, die nur Handgriffe für Wunden und Überlegungen über Beobachtungen beim Gehen oder Nichtgehen bereit hat, die jeweils über beides und gleichzeitig über etwas reflektieren, was nach Zeit-, Vergangenheits- und Zukunftsverlust schmeckt, dann – ich bin noch nicht am Ende – treffen einen die Steine, die sie zuvor aufgesammelt, die ihnen Kinder in den Rücken werfen, die sie einmal gewesen sind. Aber nie mehr wieder werden können.
Das kann zu einer Krankheit werden. Aber wie sagte H.J.R. damals in Berlin: Auch Hypochonder können krank werden. Irgendwann hatte er mal zwei Stückchen Löschpapier bei sich. Darauf jeweils ein dunkler Fleck. Er behauptete: LSD. Ich schluckte es, merkte aber nichts. Fake? Wir schrieben auch mal gemeinsam eine Glückwunschkarte an Arno Schmidt zu seinem 65., Alice antwortete stellvertretend, Pech nur, daß die Postkarte an seine Adresse ging. Na, immerhin habe ich eine Fotokopie. Kurze Zeit später dann in Celle… entzog er sich dieser Welt.
Den dicken Stein in Bargfeld noch mal sehen

III, 385 – Stationäre Kreisfahrt

4 thoughts on “III, 386 – Stein und Bein

  1. Mit Hausmitteln.
    — Je cours, dit l’apothicaire, chercher dans mon laboratoire, un peu de vinaigre aromatique.
    Puis, comme elle rouvrait les yeux en respirant le flacon :
    — J’en étais sûr, fit-il ; cela vous réveillerait un mort.
    “Ich laufe”, sagte der Apotheker, “und will ein wenig aromatischen Essig aus meinem Laboratorium holen.”
    Sie schlug die Augen auf, als man ihr das Glas unter die Nase hielt.
    “Ich wußte”, sagte er, “daß das auch einen Toten aufgeweckt hätte.” (René Schickele)

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