P ä o n e: Nakokov lesen, 17. Im Arbeitsjournal des Sonnabends, den 4. Januar 2019. Darinnen nun “Die Gabe” (2).

(…) die geöffneten Arme einer inneren Umarmung,
der heilige Schauer des Klassizismus (…)

Die Gabe, 249

[Casa di Schulze, Kaminraum, ore 16.47]

Mit seitenlangen Diskussionen zur Metrik habe ich in einem Roman nicht gerechnet, obwohl mir freilich schon → dort Nabokovs formales Interesse, Grundlage jeder guten Musik, scharf ins Auge fiel. Er wird aber stetig präziser:

(…) so war mir schon bei der Wahl der Adjektive klar, daß Wörter wie “bedeutungsschwer” oder “verzweiflungsvoll” einfach und bequem die nach Gesang verlangende gähnende Lücke zwischen der Zäsur und dem Schlußwort der Zeile füllen würden (“Dann träumen wir bedeutungsschwere Träume”); und ebenso, daß man für das letzte Wort ein zusätzliches Adjektiv mit nur zwei Silben nehmen konnte, um es mit dem langen Mittelstück zu kombinieren (“Von Schönheit satt, verzweiflungsvoll und zärtlich”), eine melodische Formel, die im übrigen sowohl in der russischen als auch in der französischen Dichtkunst ein ziemliches Unheil angerichtet hat. Ich wußte, daß es im Russischen eine Unmenge handlicher Adjektive des amphibrachischen Typs gab (ein Dreisilber, den man sich in Form eines Sofas mit drei Kissen vorstellen kann, das mittlere eingedellt) – und wie viele solcher “betrüblich”, “verzaubert”, “rebellisch” habe ich vergeudet (!); daß wir reichlich Trochäen hatten (“zärtlich”), aber viel wenige Daktylen (“sorgenvoll”), und diese standen alle irgendwie im Profil; daß anapastische und jambische Adjektive wie “unbedingt” oder “getreu” eher selten und außerdem ziemlich langweilig und starr waren. Ich wußte ferner, daß lange Adjektive wie “vergänglichkeitsbewußt” und “unwiederherstellbar” ihr eigenes Orchester in den Tetrameter mitbringen würden und daß eine Kombination wie “voreilig und unüberlegt” der Zeile eine gewisse Moiréhaftigkeit verlieh; von der einen Seite her sieht man Amphibrachen, von der anderen Jamben. Etwas später hypnotisierte mich Andrej Belyis monumentale Untersuchung über die Halbbetonungen (das “wie” und das “cher” in der Zeile “unwiederbringlicher Moment”) mit ihrer Methode, die unbetonten Hebungen graphisch darzustellen und zu berechnen, so daß ich umgehend alle meine Tetrameter unter diesem neuen Gesichtspunkt noch einmal las und mir ihre Modulationsarmut schrecklich weh tat. (…)
Wohl infolge der schwachen Triebkraft meiner kleinen lyrischen Walzen interessierten mich Verben und andere Wortklassen weniger. Etwas anderes waren die Fragen des Metrums und des Rhythmus. Meine angeborene Vorliebe für Jamben überwindend, war ich hinter den dreisilbigen Metren her; später fesselten mich Abweichungen vom Versmaß. Das war die Zeit, als Balmont in seinem Gedicht “Ich will vergessen, ich will beherzt sein” jenen künstlichen Tetrameter mit dem Höcker einer zusätzlichen Silbe nach dem zweiten Versfuß in Umlauf brachte, in dem, soviel ich weiß, niemals auch nur ein einziges gutes Gedicht geschrieben worden ist. Ich gab diesem tänzelnden Buckligen einen Sonnenuntergang zu tragen oder ein Boot und wunderte mich, daß jener verlosch und dieses versank.
Die Gabe, 245-247 (dtsch. v. Annelore Engel-Braunschmidt)

So daß er schon hier zugleich in Distanz geht, also sie seinen jungen Dichterheld Godunow-Tscherdynzew einnehmen läßt:

Während meine Jagd nach Reimen voranging, setzten diese sich in einem praktischen System etwa nach Art eines Zettelkatalogs fest,
247

(wozu noch einmal bemerkt werden muß, daß Nabokov seine Romane auf Karteikarten skizzierte.)

Sie waren in kleine Familien – Reimbüschel, Reimschaften – eingeteilt. Letutschij (fliegend) zog sofort tutschi (Wolken) nach sich über die krutschi (Steilhänge) der sbgutschej (brennenden) Wüste und eines neminutschej (unvermeidlichen) Geschicks. Nebosklon (der Himmel) schickte die Muse auf den balkon (Balkon) und zeigte ihr den kljon (Ahorn). Zwety (Blumen) und ty (du) riefen inmitten der temnoty (Dunkelheit) metschty (Phantasien) hervor. Swetschi, pletschi, wstretschi und retschi (Kerzen, Schultern, Empfänge und Reden) schufen die längst vergangene Atmosphäre eines Balls auf dem Wiener Kongreß oder beim Geburtstag des Stadtgouverneurs. Glasa (Augen) leuchteten blau in Gesellschaft von hirjusa (Türkis), grosa (Gewitter) und strekosa (Libelle), und es empfahl sich, sich in diese Reihe nicht hineinziehen zu lassen. Derewja (Bäume) fanden sich öde gepaart mit kutschewja (Nomadenlagern), wie in dem Spiel, in dem man Karten mit Städtenamen sammeln muß und nur zwei Karten Schweden vertreten (aber Frankreich ein Dutzend!). Weter (Wind) hatte keinen Partner, abgesehen von einem nicht attraktiven Setter, der in der Ferne herumlief, doch wenn man in den Genitiv hinüberwechselte, konnte man Wörter, die auf “meter” enden, dazu bringen, aktiv zu werden (wetrageometra). Es gab auch gewisse sorgsam gehegte Sonderlinge, bei denen die entsprechenden Reime – wie seltene Briefmarken in einem Album – durch Leerstellen repräsentiert wurden. So brauchte ich lange, bis ich entdeckte, daß ametistowyi (amthystfarben) auf perelistywaj (blättere um), auf neistowyj (rasend) und den Genitiv eines vollkommen ungeeigneten pristaw (Polizeiwachtmeisters) gereimt werden konnte. Mit einem Wort, es war eine wunderbar etikettierte Sammlung, die ich stets bei der Hand hatte.
245-249

Und auch, wenn er – egal ob nur der sich erinnernde Dichter oder sein Autor – diese Selbstschule “widerwärtig und lähmend” nennt,

mit der ich mich wohl kaum abgegeben hätte, wäre ich ein typischer Dichter gewesen, der niemals der Verführung durch wohlklingende Prosa erlag,
249,

(einer so boshaften Beifügung, wie sie zugleich schrecklich wahr ist) – so ist doch zu konstatieren, daß das nahezu mechanische Aneignen der Handgriffe sowie die trainierende Fähigkeit des Umgangs mit verschiedenen Werkzeugen von Hammer über Schraubendreher, Kelle und, ja, sogar Beil, weil

Augen, die für die Literatur zu gutmütig waren,
152

geschärft werden müssen, damit sie zustechen können, ohne Zweifel notwendig ist, um zur virtuosen Handhabe von Präzisionsinstrumenten auszureifen – eines, wie Nabokov tatsächlich wurde, Feinchirurgen nämlich nicht nur der Sprache, sondern der Hinsicht auf Wirklichkeit damit zugleich, und also des Urteilsvermögens –, — daß also solche Exerzitien für die nichtnaive, mithin die Möglichkeit gelingender Dichtung unerläßlich sind, inklusive ihrer Irrtümer.
Daß Nabokov es selber so sah, zeigt eine Stelle des in den Roman eingeschobenen, als “Biografie” verstellten Binnenromans Godunow-Tscherdynzews (dessen Stil dem der auktorialen Rahmenerzählung Nabokovs durchaus nicht gleicht) über → Tschernyschweskij, der in der brodelnd das Kapitel 4 durchdringenden, euphemistisch gesagt, “Auseinandersetzung” mit dem “dialektischen ‘historischen’ Materialismus” — mehr noch als ‘historischen’ müßte der in dem in Anführungszeichen stehenden Satz genannte Materialismus-selbst in zusätzlich solche gesetzt werden (ganz wie sowieso → “Realismus“) — eines kompletten Fehlens solch vorangegangener Exerzitien überführt wird und damit der poetologischen Komplettignoranz:

Außerordentlich bezeichnend für all dies ist Tschernyschewskijs Versuch(,) zu beweisen (…), daß der dreisilbige Versfuß (Anapäst, Daktylus) dem Wesen der russischen Sprache angemessener sei als der zweisilbige (Jambus, Trochäus). Der erstere schien Tschernyschewskij natürlicher, “gesünder” <zu sein> (außer wenn er für den edlen heiligen – und daher verhaßten – Hexameter verwendet wird), wie einem schlechten Reiter Galopp “leichter” <zu sein> scheint als Trab. Das Entscheidende lag jedoch nicht so sehr hieran als vielmehr in jener “allgemeinen Regel”, der er alles und jedes unterwarf. Verwirrt durch die rhythmische Emanzipation von Nekrassows breit dahinrollendem Vers und Kolzows elementarem Anapäst (“Wie, du schläfst, mushitschók?”), witterte Tschernyschewskij im dreisilbigen Versfuß etwas Demokratisches, etwas das Herz Bezauberndes, etwas Freies, aber auch Didaktisches, im Unterschied zum aristokratischen Wesen des Jambus. Er meinte, daß Dichter, die überzeugen wollten, den Anapäst gebrauchen müßten. Jedoch nicht genug: In Nekrassows Versen mit dreisilbigen Metren geschieht es besonders oft, daß ein- oder zweisilbige Wörter in den unbetonten Teilen der Versfüße vorkommen und ihre akzentuierte Individualität verlieren, während andererseits der Grundrhythmus verstärkt wird. Das einzelne wird dem Ganzen geopfert. (…)
Alles, was ich soeben gesagt habe, ist natürlich nirgends von Tschernyschewskij  selber untersucht worden, aber es ist sonderbar, daß er in seinen eigenen Versen, die er in den sibirischen Nächten und in jenem schrecklichen dreiteiligen Metrum verfaßte, dessen hochtrabender Ton einen Beigeschmack von Irrsinn hat, ohne es zu merken Nekrassows Kunstgriff parodiert und bis zum Absurden treibt, indem er in die Senkungen zweisilbige Wörter zwängt, deren Betonung normalerweise nicht (wie bei “Wolga”) auf der ersten Silbe liegt, sondern auf der zweiten; und das dreimal in einer Zeile — wahrhaft ein Rekord: “Allein hier, allein dórt, beglückt núr, wenn dir náh.”
(…) Dabei war ihm das echte, violingleiche Wesen des Anapästs verschlossen, auch den Jambus verstand er nicht, das geschmeidigste aller Metren, wenn es darum geht, Hebungen in unbetonte Silben zu verwandeln, in jene rhythmischen Abweichungen vom Versmaß, die Tschernyschewskij in seinen Seminarerinnerungen unerlaubt vorkamen; letztlich verstand er auch den Rhythmus der russischen Prosa nicht;
393

so daß – trotz des brüllenden Lachens, den er auslöst (eigentlich läßt sich’s mit solch durchzittertem Bauchfell nicht einmal gehen) – der folgende Satz ohne jedes Problem den tschernoschewskijschen Gipfel des eignen Schicksals erklimmt:

Seine Liebe zum Materiellen wurde nicht erwidert.
366

Denn die Materie — r ä c h t sich:

Insgesamt scheint uns (sowohl Godunow-Tscherdynzew mit seinem Einflüsterer Schulter an Schulter als auch ihm allein im Dichter-Maiestatis), daß Materialisten dieser Art

eben! – dieser “A r t” – 

einem verhängnisvollen Irrtum verfielen. Indem sie die Natur des Dings selbst vernachlässigten, wandten sie ihre höchst materialistische Methode immer wieder bloß auf die Beziehungen zwischen den Objekten an,

__________________________________________________________
genau wie heuzutage dort :

 

 

 

Wie bizarr das an Tschernyschewskis Dummheiten erinnert, welch feixender Veitstanz der Gesinnungscorrectness sich in solch gutgemeinten Statements abspielt! Was bleibt uns, ihrer angesichts? Nichts als Nabokovs, seines auf immer Verlorenen halber, ätzender Spott.
__________________________________________________________

auf die Lücke zwischen ihnen und nicht auf die Objekte selbst; d. h. gerade dort, wo sie am meisten auf festem Boden zu stehen wünschten, waren sie die naivsten Metaphysiker.
394

>>>> Bestellen

_________________
>>>> Nabokov lesen 18
Nabokov lesen 16 <<<<

Doch eben h i e r, sogar schon eine Seite davor, erwischte mich Nabokov bei einer poetologisch e i g e n e n Lücke, einer meinen also, die es nun zu füllen gilt. Denn nicht nur der arme Tschernyschewski, sondern ich selbst

zog die Hauptsache nicht in Betracht: die Päone!

***

Maria, was war das, i s t das? … Bloß schnell → nachschlagen. – auch wenn mir, was ich, Göttin, lesen werde, absehbarerweise alle Planung durcheinanderbringt. Denn bevor ich mit —◡◡◡ und möglichst den drei weiteren Varianten → ein Béartgedicht zu bauen versuche, sollte ich’s an einem andren, weniger heiklen ausprobieren, am besten einem völlig neuen, das allerdings in mir als “Einfall” vorbestand:

Es geht um mein währendes Thema, mit dem ich seit nun über zwei Jahren hadre. Nicht noch mal Vater zu werden – nicht, weil ich nicht mehr fähig dazu wäre, gar krank oder irgendwie gebrechlich. All das trifft nicht zu. Sondern unterm Strich alleine, weil Mütter pragmatisch sind und es auch sein müssen, auch solche, die’s erst werden (bzw. würden, denn alles dies ist kaum rational, vielmehr ein genetischer Code, der den “Correcten” nicht im entferntesten bewußt ist — und wenn sie etwas ahnen, leugnen sie’s entsetzt, die nichts von den Objekten wissen, aber

in dieser Mischung von Ignoranz und Logik
352

meinen, es von ihren Beziehungen untereinander zu tun, als wären Relationen von jenen unberührt:

Die ständige Berufung der “Materialisten” auf Bäume ist besonders ergötzlich, weil sie alle die Natur so schlecht kennen, besonders Bäume.
196

Aber zurück — und, ohne auf die ideologische Parallelität des “historischen Materialismus” mit der gegenwärtigen Gender”correctness” noch weiter einzuhacken, kurz  —: Hätte ich “Ruf”, gar Macht, und Wohlstand noch dazu, mein Alter wäre gar kein Problem. Indem mir beides versagt ward, tauge ich nicht mehr zum Partner, der Vater werden soll (und der gesegnet würde, es zu werden). Denn s’ist de facto unwahrscheinlich, daß sich nach all den Jahren an meiner Situation noch etwas ändert.  Dies ist das einzig wirklich Bittre meines beginenden Alterns. Begüterte und sonstwie Einflußreiche trifft es nicht, sofern sie ihrem Körper gut gewesen sind und auf ihn geachtet, ihn in Form gehalten haben. (Ich denk an meine → Trainingsphasen und frag mich längst: Wozu?) – Sie wissen Freundin, wie oft ich hierüber persönlich schon schrieb. Nun will ich ein Gedicht draus machen, und der Päon kommt mir grad recht, weil (Die Gabe, S.22) “der Geist der Parodie ja stets die wahre Poesie begleitet” und es eben darum vor der Klebrigkeit bewahren kann, die andernfalls der Klage nachtretend eigen wäre.

Ihr ANH
[ore 23.13]

 

P.S.:
Aus dem Geschilderten ergibt sich sofort, wie sehr der von mir ansonsten geschätzte Bonaventura irrt, wenn er  → in seiner Besprechung der “Gabe” meint, das Buch sei, sogar “sicherlich”, “für Kenner der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts vergnüglicher zu lesen als für den gewöhnlichen deutschen Leser”, um obendrein hinzuzusetzen, es seien besonders die frühen Passagen der Tscher­ny­schew­ski-Bio­gra­phie etwas – ich kann es gar nicht fassen – “zäh”. Das Buch aber einen “routinierten Künstlerroman” zu nennen — routiniert, Nabokov! —, ist pure Blasphemie. Wobei ich ihm zugute halte, daß er die grundlegende Auseinandersetzung mit dem, zumindest sowjetischer Couleur, Kommunismus und seiner als Realismus getarnten Kunst-, nicht nur -fremdheit, nein -feindlichkeit offensichtlich nicht mal bemerkt hat.

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahren Sie mehr darüber, wie Ihre Kommentardaten verarbeitet werden .