An eine Gönnerin: Die Entwerdung der Welt.

Verehrte, liebe Frau v. Meck*),
von Herzen allen Dank für die Nachfrage. Ach, meine Ungeduld! Mir geht die, sagen wir’s euphemistisch, „Umstellung“ meiner Verdauungsorganik nach wie vor schwer auf den Senkel, weshalb ich mich, weil ich spüre, wie unwirsch und grantig ich manchmal darob bin, auch in den Korrespondenzen besser zurückhalte. Allzu vieles geht gegen mein Temperament, meine Mentalität, auch meinen, sagen wir, vitalistischen Glauben – und da ich aber keinen wirklichen Gegner, nicht mal mehr → meine Krebsin habe, gegen was ich mich auflehnen könnte, sondern einfach nur aushalten muß und als Adressaten meines Protestes immer nur mich selbst ansprechen kann, mache ich besser alles alleine mit mir aus. Wie schon mehrfach geschrieben: Ich muß mir immer wieder verdeutlichen, wie kurz → die OP erst zurückliegt und daß mein Körper selbstverständlich Zeit zu Heilung und Umstellung braucht – ein Umstand, der aber die normale Schnelligkeit meines Geistes schwer, schwer lähmt. Und also schreibe ich kaum mehr was. Immerhin, statt dessen, ich lese. Und dabei entdecke ich manches, das mir sonst möglicherweise verborgen geblieben wäre, etwa → Waltraut Lewin. Aber ich habe nicht mehr das Gefühl, auch nur entfernt noch ein Mitspieler zu sein, nicht mal wartend auf der Ersatzbank, sondern dem ganzen Betrieb den Rücken gekehrt. – Vielleicht aber wird sich das in Wien wieder ändern, keine zwei Wochen mehr, bis ich dortsein werde fürs Lektorat der → Béarts. Doch alles andere, was mich wieder hineinbringen hätte können, ist nun abermals coronahalber abgesagt, wie jetzt zum Beispiel sogar die Frankfurter Buchmesse, und meinen Lehrauftrag in Bamberg werde ich nun digital von hier aus wahrnehmen müssen, ohne daß ich eine Ahnung hätte, wie das funktionieren soll, ja ohne den Glauben daran, daß es funktioniert. Aber wir werden sehen. Daß „Dinge“ wie die für die Vermittlung von Bildung so notwendige Persönlichkeit, persönliche Ausstrahlung usw. komplett an Wert verloren haben, geht mit der von mir ja schon lange gesehenen Entkörperlichung von Welt ebenso einher wie die Nivellierung des Geschlechts bis hin zu seiner Diffamierung. Es entsteht eine andere Welt als die, die ich liebte und an die ich glaubte. Vielleicht ist es auch nur ein Indiz meines nun, seit dem Krebs, galoppierenden Alterns, aber vielleicht eben nicht, sondern die klare Sicht auf ein im Schulterschluß mit der entstehenden Konsensgesellschaft und einem zurückgehenden Intellekt, um von aufgefächerter Bildung zu schweigen, um sich greifendes, totales Replikantentum. Zu dem ich weder gehören will noch werde.
Ihr ANH
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*) Eine nächste Nadeschda, nicht → jene von vor vierzehn Jahren,
die sich schließlich, ich weiß nicht mehr warum, von meinem
Werk
zurückzog.

5 thoughts on “An eine Gönnerin: Die Entwerdung der Welt.

  1. (Falls die folgende Frage langweilig, übergriffig oder nervig ist, einfach elegant ignorieren, ich deute es dann dergestalt)

    Gab es innerhalb der letzten vier Wochen seit Lillis Explantation und den ersten Tagen zuhause schon einmal ein Empfinden von (wenn auch zeitlupenartig langsam) geringer werdender Zumutung, die (neben dem Wundheilprozess) auf routiniertes Handling verschiedener Aspekte zurückgeführt werden kann?

    Wenn ja, kann man die Dynamik nicht sportlich hochrechnen (z. B. Zumutungsfaktor-Reduktion innerhalb Zeitspanne 30 Tage: 10 Prozent, = Prognose Zumutungsfaktor-Reduktion innerhalb Zeitspanne 60 Tage: 20 Prozent, Dynamik steigernd)?
    Vitalistisch denkend, versteht sich. Immer, immer, immer…!

    Ich meine gelesen und gehört zu haben, dass Menschen, die sich zum ausschließlichen Zwecke der Gewichtsreduktion einer Magenverkleinerung unterziehen, ähnliche Herausforderungen haben, aber eher selten darüber sprechen, weil es nicht mit der ästhetischen Grundmotivation korrespondiert. Ja, ich weiß, die haben ihre komplette Bauchspeicheldrüse und alle Magensäfte, das ganze Enzympotpourri aus Eigenproduktion, was es dann wieder zum hinkenden Vergleich macht.

    Aber doch ist da auch langweilige Geduld gefordert, die nur aufgrund des sichtbaren Erfolgs eines als ästhetischer empfundenen Körpers, stumm und zähneknirschend durchgehalten wird, bis sich eine neue Routine eingestellt hat, und das Gewebe neue Flexibilität entwickelt.

    Nun lese ich aufmerksam, und auch, dass Gewichtsreduktion nach Magenmaximalreduktion, nämlich Explantation, überhaupt kein Ziel sein kann. Ja, ja und ja, aber kann man nicht vielleicht mit der Vorstellung kokettieren, dass man eben aus ästhetischer Disziplin einen vergleichbaren Eingriff hatte, um von diesem physischen Vernichtungsgedanken wegzukommen? Falls das geschmacklos klingt, entschuldige ich mich.

    Mein Problem als Leserin ist, dass ich unter übersteigerter (physisch empfundener!) Empathie leide und einen Weg der Erleichterung suche!

    1. Liebe Gaga Nielsen,
      ja es gibt geringer werdende Zumutungen, etwa, daß ich, da die Bauchwunde langsam heilt, nachts wieder schlafen kann, in aller Regel jedenfalls. Denn ich muß nicht mehr dauernd auf dem Rücken liegen. Und was die ästhetische Dimension anbelangt, müßte ich aber tatsächlich noch weiter abnehmen (was ich klüglicherweise nicht tun sollte), da es ja um Verhältnismäßigkeiten geht. Und da ich enorm viel Muskeln meines vormals trainierten Körpers verloren habe, ist nun, wiewohl deutlich weniger Fett als vorher, dennoch im Verhältnis mehr als vorher da – was mich extrem stört. Ich habe bekanntlich Fett am Körper immer nicht nur nicht gemocht, sondern stets widerlich gefunden, besonders an dem meinen; und bei anderen war es geradezu instinktiv ein erotischer Ausschließungsgrund – etwas, das sich seit meiner Jungmannszeit nie verändert hat.
      Im übrigen gilt nun, fürchte ich, >>>> das dort.
      Herzlich, ANH

      1. Danke für die Antwort.

        Ich verstehe ästhetische Ausschlusskriterien. Jeder versteht sie. Es ist nur nicht en vogue oder gesellschaftsfähig sich darüber auszulassen, mir aber schnurzpiepegal. Wenn von innerer Schönheit die Rede ist, auf die es „VOR ALLEM“ ankäme, fällt mir immer eine alte Kabarett-Nummer von Lisa Fitz ein, die diesbezüglich in den Raum gestellt hat: „innere Schönheit, ja freilich! Aber wer wendet uns?“

        Ja mei, i denk halt, mir wenden uns selber! Sprich, wer sich äußerlich verwahrlosen lässt, ist leider auch innerlich oft verwahrlost, was bedauerlich ist, aber nicht zu beschönigen. Und ein attraktiver, vitaler, dem Schönen zugewandter, dynamischer Geist mit hoher Wahrnehmung seiner selbst und seiner Umgebung, berücksichtigt auch mitfühlend, den anderen Menschen um sich herum einen angenehmen Anblick zu bereiten. Das ist Empathie und Rücksichtnahme.

        Ob die persönliche Vorliebe bei mehr oder weniger gerundeter Silhouette liegt, ist ja individuell. Aber gepflegt muss sie sein. Ich habe erstmalig als ich 27 war, bei einem längerfristigen Liebhaber, den ich kennenlernte, als er Ende Vierzig war, in seinem 53. Jahr einen körperlichen Abbau bemerkt, der sich in einer ganz, ganz leichten Erschlaffung an den Oberarmen zeigte. Der Charakter hatte auch zunehmend von mir realisierte Schwachstellen, was dann mit der abnehmenden äußerlichen Attraktivität korrespondierte. Obgleich er Wert auf Fitness legte, er hatte schon zwei, drei Jahre dem Alkohol abgeschworen (was mich langweilte, fast nervte) und machte täglich seinen Dauerlauf. Aber das Bindegewebe wird auch bei Männern schlaffer.

        Als ich Anfang Zwanzig war, hatte ich mal eine Phase, wo ich so Bärentypen mitunter sexy fand, insgesamt kräftig, stark behaart und selbst das Bäuchlein störte nicht. Da war das Gesamtpaket einfach ein Kraftpaket.

        Schlimm fand ich immer schon ganz schmal gebaute Männer, die in jungen Jahren zwischen filigran und athletisch und auch anziehend waren, und dann später zu einer kugeligen Wampe neigten, wie im fünften Monat schwanger. Total abstoßend für mich. Am ehesten schaue ich mich nach Männern um, die eine hohe Körperspannung haben, bis in den kleinen Finger, und tendenziell athletisch, aber nicht mit Muskeln aufgeplustert. Sehnige Unterarme und schöne Knie und Waden finde ich auch sehr toll. Na ja, ein weites Feld.

        Aber ich kenne auch diesen strengen Maßstab an die eigene Erscheinung, der zunehmend arbeitsaufwändiger wird… Ich behaupte ja immer gerne, wer den Alterungsprozess beschönigt, hat ihn noch nicht erlebt.

  2. Ich denke, der Mensch bleibt immer derselbe, ob vor oder nach einem solchen „Eingriff“, vielleicht ist das alles eher ein Problem der Mitmenschen. es zählt halt das, was manche die Seele nennen.
    Die Radrennfahrerin, die nach einem Unfall im Rollstuhl sitzt, ist immer noch das, was sie zuvor war, eine überaus heitere Person. Sie kann eben nur nicht mehr Radrennen gewinnen.
    Und hier gibt es jemanden, der immer noch Bücher schreiben kann. Sorry, wegen meiner Meinung.

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