[Ein recht gutes Beispiel, wie in einen fiktiven Text reale Ereignisse implantiert werden und dazu aber verwandelt werden müssen, hier nämlich → jenes (halb hinunter-
scrollen, bitte) und → dieses.]
[Anfang des siebenunddreißigsten Briefs:]
(…)
Nun bin ich, geheimnisvolle Frau Venus,
Montag, 22. August
Morgens auf der Terrasse schon Herbst,
doch steigt die Sonne, schleift sie den Hochsommer nach
Flixtrain (FLX11), 10.17 Uhr
bereits auf der Rückfahrt. Welch seltsam unorganische Strecke! Stell Dir nur vor, nach Basel von Kassel über Braunschweig und Berlin. Als würd man von an den Nordpol über Südafrika reisen. Aber nicht nur dieses kommt einem seltsam vor, zum Beispiel ist der Zug kaum besetzt – an einem Montagmorgen! Ich habe ein gesamtes Tischareal inklusive der vier Sitze ganz allein für mich, was mir, diesen neuen Brief zu beginnen, ausgesprochen bequem erlaubt hat. Zuvor waren die Korrekturen, die ich gestern abend handschriftlich an die Seitenränder schrieb, in die Datei zu übertragen. Wieder in der Seelingstraße werde ich die Blätter ein nächstes Mal ausdrucken, nunmehr auf neuestem Stand, und sie zu den anderen heften. Als wir unversehens halten. Wir halten quasi mitten in der Landschaft – wenn es auch einen schmalen Bahnsteig gibt, ist weder ein Bahnhof noch sogar ein Schild zu sehen, auf dem ein Ortsname zu lesen wäre. Es gebe eine Streckensperrung, teilt uns der Lokführer über die Bordlautsprecher mit, weshalb wir für „für unabsehbare Zeit‟ hier stehenbleiben müßten. „Wenn Sie mögen, dürfen Sie den Zug so lange verlassen und sich die Beine vertreten.‟ – Mit welcher Gelassenheit, ja Lockerheit dies nun geschieht! Niemand ist nervös, keiner schimpft, das Zugpersonal mischt sich unter uns, drei junge Männer balancieren auf der Handstange der niedrigen, doch wie bis an den Horizont reichenden Absperrung, hier und da telefonieren Frauen mit zuhaus, doch alles geht weiterhin locker vor sich, ja sogar heiter. Ich orte mal im iPhone, wo wir sind. Ah, Nennhausen, rund vierzig Kilometer östlich von Spandau. Plötzlich raschelt das den, nun jà, Bahnsteig säumende Buschwerk, und aus den Gleditschienbüsche und dicht an die Robinienstämme geschmiegten Farnen sowie dem insgesamt dichten Untergehölz, das ich nicht näher bestimmen kann, schlägt sich – ich fasse es nicht – die Lydierin heraus, jedenfalls gleicht ihr diese, wenn auch in Bluejeans und Bluse gekleidete Frau auf ersten Blick frappant, und setzt mit elegantem, die Hand nur leicht auf die Führung gelegt, Sprung über die Absperrung. Römersandalen, hellviolette Zehennägel. Aber was trägt sie da auf dem Kopf? In sich gewundene Schlangen? So sieht es aus. Schon ist sie in den Flixtrain hinein. War nur ein Kopftuch offenbar, auf das auch das, was ich für ihr Haar gehalten habe, seltsam dreidimendional gedruckt ist. Und überhaupt, die Frau wirkt sehr viel jünger, als sie eigentlich sein kann. – Ich bin jetzt wirklich verwirrt, indes fast genauso, auf zugegebenermaßen beklemmte Weise, begeistert. Zumal es jetzt fast zu schnell geht, daß wir anderen wieder hineingebeten werden. Ist der Zug in Wahrheit allein deshalb zum Stehen gekommen, um diese Frau aufzu-, nun jà, „sammeln‟? An abenteuerliche Agentenfilmen aus den Zeiten des Eisernen Vorhangs bin ich erinnert, aber nicht in Schwarzweiß, sondern voll – wohl schon des Flixtraingrünes halber – kräftigster Farben. Von Kassel nach Basel über Berlin. Oder wo noch ganz anders hin? Und an einen ganz anderen Zug muß ich denken, vor vielen, vielen, vielen Jahren, als ich im Speisewagen in quasi der Gegenrichtung saß und die, auf die ich seit je gewartet hatte, zu mir an den Tisch gekommen war und, nachdem sie einen Campari bestellt, nicht nur gefragt hatte, wann wir Göttingen erreichten – da waren wir hier längst durch! –, sondern sich überdies nach dem Ring erkundigt, den ich damals trug. Nun gibt es in meinem heutigen Zug keinen Speisewagen, aber da doch alle andren drei Sitze meiner Tischgruppe frei geblieben … und, ja, ich meine, nein … die Frau trägt jetzt keine hohen Abendsandalen, nicht mal einen Chignon, sondern ist genau das geradezu jugendliche, in Bluejeans und Bluse gekleidete Geschöpf, das mit diesem eleganten Satz über die Absperrung fast mehr geflogen als gehüpft war; dennoch, „Aldona‟, mußte ich denken, “Alda” also, oder ihre Tochter vielleicht, es könnte sogar schon die Enkelin sein. – „Ist hier noch frei? Darf ich mich dazusetzen?‟ Genau in diesem Moment setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Und aberwitzig matriarchal, wie diese ja offensichtlich eben a u c h eine Sídhe nun einen Satz ihrer Großmutter im Tonfall des geradezu selben Spottes wiederholt und dabei auch genau denselben, scheint es, schmalen hübschen Zeigefinger ausstreckt: „Das wird ein langer Brief, was Sie da schreiben.‟ Wobei der Spott sich darin versteckt, daß es damals ein Brief gar nicht war, vielmehr erst heute einer ist. Aber durch die Wiederholung ist plötzlich genau dieser nach Triest gemeint – meine Güte, derselbe lange Hals, nur das hellblonde Haar halt nicht hochgebunden, sondern in einem Pferdeschwanz zusammengenommen, wie Svenja ihn zu tragen liebte, für eine solche Reiterin mehr, fürwahr!, als angemessen; und eine ebenfalls wie bei Alda fast schnippisch aufgeworfene Nasenspitze am Ende des gradlinig schmal aus der Stirn geflossenen Stegs. Das schlangenbedruckte Kopftuch hält sie als kleines Knäuel, Seide offenbar, in der rechten Hand, legt es aber neben sich auf den Sitz. Aus Erfahrung seh ich davon ab, auch dieser Elbe die Scheidung der Feste vom Wasser am Beispiel von Essen und Trinken erklären zu wollen. Die Meeresscheidung von Triest oder des Karstes mit der Stadt als Zwischenreich. Wie alt ich mir ihr gegenüber mit einem Mal vorkam! Wie aus dem Spiel genommen, geradezu, oder, anders herum formuliert und quasi einverstanden: Der Altersunterschied – der zwischen Dir und Lars, zwischen Lenz und der Lyderien, auch zwischen mir und Dir – hat sich eingerenkt und spielt im selben Maße eine Rolle wie absolut gar keine mehr, alles wird zur Frage der Hinsicht … denk auch bitte an die sieben Jahre des Venusbergs. Wie unsre Alter komprimieren. „Du bist jetzt nicht wirklich überrascht, oder?‟ – „Ähm, Sie zu sehen ..?‟ „Dich.‟ „Aber nicht tatsächlich, Alda, Du? Oder Du lebst Dich wie Merlin zurück durch die Zeit.‟ Sie muß auflachen, unfaßbar hell. Als würden meine Ohren von innen geküßt. „Aber wie denn? Doch nicht La Grande-Mère Aldonà! Soll ich jetzt etwa beleidigt sein … – alter Mann?‟ „Aber nein doch‟, ich lache notgedrungen mit, „nur wüßt ich Ihren Namen dann gern.‟ „Kann ich mir denken. Und hör mit der Siezerei auf, ich komm mir auch fast schon so alt vor.‟ „Sie haben … tschuldigung, du hast angefangen.‟ „War ein Zitat. Von mir aus hätte die Nonna auch ‚du‛ sagen können, ‚… was du da schreibst‛, also. – Geschenkt.‟ Einmal abgesehen davon, daß selbst, wenn sie denn ihre Enkelin ist, nicht heraus ist, woher sie unseren damaligen Dialog eigentlich kennt, ist mir nun aber erst recht nicht klar, was sie jetzt hier, siebenunddreißig Jahre später, in meinem Flixtrain auf einer Rückfahrt nach Berlin will. „Onkelchen, ich denke, du hast da – wie damals schon einmal – etwas in Gang gebracht, das du besser gradebiegen solltest.‟ „Was meinst du mit ‚da‛?‟ „Na-in-Triest doch!‟ „Du weißt davon?‟ „Also wirklich, der Meinen halbe Tagesklatsch zur Zeit. Nur ihr Menschen, wieder einmal, bekommt kaum etwas mit.‟ „Ich schon.‟ „Na klar, von dir ging es ja aus.‟ „Nein, von meinem Freund.‟ „Ach, der … Da hättest du einfach Nein sagen können, und gut wär’s gewesen. Wobei ich, daß du dich trotz deiner Erfahrung – da nimmt man doch an, ein Mensch von sechzig wird endlich etwas weiser …‟ „Siebenundsechzig.‟ „Nicht, als du die Briefe begannst. – Sieben Jahre: Merkst du nichts? Wobei ich, daß du dich dich trotz deiner Erfahrungen noch einmal auf so etwas eingelassen hast, richtig ein bißchen süß finde.‟ Sie spitzt das Mündchen. „Du darst mich also Nimueh nennen.‟ „Nimueh?‟ Sie spitzt die Lippen noch mehr. Ich tu den Teufel, ihr meinen Mund hinzuhalten; besser nicht mal eine Wange, würd mich eh zu weit vorbeugen müssen und beobachte außerdem, was nicht sehr angenehm ist, daß meine wenn auch im Großraumwaggon eher verstreuten Nachbarinnen und Nachbarn zwar nicht gestört hier herschauen, aber wie aufgestachelt nachrichtengierig. Na gut, ich übertreibe wahrscheinlich, die denken sicher nur, mal wieder junge Frau und alter weißer Mann, der halb schon auf der Jenseitsrampe, deren Rutsche in den Mißbrauch allein der erbkolonialistische Wohlstand noch schmiert. Völlig sinnlos, sich dagegen aufzulehnen, schon gar nicht, wie geradezu entgegengesetzt die Mächte hier verteilt sind, schon weil jetzt meine Sídhe – unterdessen nach Anschaun und Wirkung durchaus berechtigt ein „Mädchen‟ zu nennen; die junge Dame verjüngt sich quasi jede Sekunde – älter war als wahrscheinlich wir im Waggon alle zusammen, als Geistin … Darüber viel eher sollten sich die Leute das Maul zerreißen, was indes, und zwar tuschelnd, nur wenige tun; die übrigen sperren es in ihre verklemmten Gedanken ein. Bis auf eine, ich will sie Signora Invidia heißen, die bislang am hintersten Ende des Waggons – dem sozusagen untersten Thale des Flixtrain-Orcus – direkt zur Rückwand einer der Zugttoiletten wie in einer nie besonnten und nie gelüfteten Wohnung gehockt hatte und aber wahrscheinlich das Natternfleisch schon zu benagen begann, als sich Nimueh zu mir gesetzt hat. – „Jedenfalls‟, hebt diese keine Sekunde später an, „mußt du das hier unbedingt ihrer Besitzerin …‟, stockt kurz, enorm süffisantes Lächeln, „selbstverständlich meine ich: ihrer Eigentümerin, zurückgeben.‟ und legt auf den Flixtrainstisch, und zwar völlig offen, eben jene Dessous der Lydierin, nach denen die Venere di Carsomare, als sie dem Hafenbecken entstiegen war, so vergeblich auf dem angrenzenden Parkplatz der Riva Tre Novembre geschaut hatte, bevor sie zu Lenz in den Karst fuhr, um wirklich Statue zu werden. Und alles das nachts. – Ich bin ein bißchen vor den Kopf geschlagen, auch wenn ich sehr schnell mitbekomme, daß ausgerechnet diese Unterwäsche von keinem Mitreisenden bemerkt wird … – das „Mädchen‟ freilich nach wie vor und ihr angeblicher Flirt mit mir und daß ich sie wahrscheinlich „aushalte‟ und also, dem unterdessen üblichen öffentlichen Vorausurteil nach, mißbrauchte; die konkreten corpora delicti aber nicht, so reizvoll sie als Reizwäsche immer auch sind, AUBADE Sensory Illusion in Silk, – wie ist sie, Nimueh, da bloß drangekommen? – Besser, ich frag sie erst gar nicht. – „Also, Onkelchen, Du versprichst mir das?‟ – V e r s u c h das, Schönste einmal, einer Sídhe etwas nicht zu versprechen …! Allemal wichtiger, Slip und BH so schnell wie möglich vom Tisch zu bekommen, bevor sie denn doch noch jemand bemerkt. Daß alles nur Einbildung ist, davon kann ich kaum mehr ausgehn, eben weil das, nun jà, „Mädchen‟ so auffällt und jetzt sogar beginnt, ein wirkliches Aufsehen im Waggon zu erregen, an dem sie aber keine Schuld trägt, erst recht nicht ich und auch keines der – dies freilich irrerweise – beiden immer noch frei auf dem Tisch liegenden Dessous, sondern diese ihrem Akzent nach Norditalienerin, eben jene Signora Inividia, die von ihrem abgelegenen Platz aufgestanden und aus ihrer sozusagen Orcushöhle herausgekrochen ist, in der’s ganz sicher nicht gut roch; sie steht sogar schon bei uns und empfiehlt dem, jetzt wird der Ausdruck bizarr, „Mädchen‟, sich doch besser um Männer ihrer Generation zu kümmern, ich sei doch nun wirklich ein Greis. Woraufhin Nimueh ihr Aussehen insoweit moderiert, als sie jetzt erst recht nach allenfalls vierzehn, doch schnippischsten Frühreifsjahren wirkt, und mit vorlauter Eleganz pariert. Was die ausgetrocknet glanzlosen Füße der Signora, denen ich, obwohl in den Geschäftspumps natürlich nicht zu sehen, den Hallus Vagus geradezu anspüren kann, auf der seidenglatten, gut durchfeuchteten und samtweich schimmernden Haut der jungen Frau schrecklich ausgleiten läßt. Um es anders auszudrücken, verliert die Frau die Balance. Das macht sie aber erst richtig wütend, ihre Stimme schwillt an, doch klirrt in den Spitzenfrequenzen auseinander und schrammt in mehrmals aufeinanderfolgenden Wutschaumwellen quer durch unsern Waggon, wie nämlich sie, Signora Inividia, in einem fort nur kotzen könne, wenn sie uns sehe. „Mi viene da vomitare solo a vedervi !“ – Jetzt steigt auch mir die Galle. So daß ein Wort das andere gibt und sich alles derart aufpeitscht, daß offenbar irgendein sich belästigt fühlender Mitreiender oder eine Mitreisende das Zugpersonal hergerufen hat. „Bitte‟, druckst der junge, eher verlegene als eine Anordnung gebende Mann, „könnten Sie zwei vielleicht mit dieser Streiterei aufhören?‟ Er nämlich sieht die Sídhe nicht; das tun nur die Reisenden, vielleicht aber nicht wirklich alle, doch selbstverständlich diese schimpfende Frau und ich, die ich überdies schon wegen ihrer angesetzten Wohlstandskopulenz übergriffig finde, ästhetisch übergriffig – nicht so die Geistin, deren Vergnügen es jetzt geradezu entfesselt, die Empörung der Mißgunstsharpyie mehr und mehr noch aufzudrehen. Die fängt auch grade wieder, den Flixtrainmitarbeiter nicht einmal beachtend, loszukeifen an. Solch ein Altersunterschied sei einfach nur ekelhaft, ekel-, ekel-, ekelhaft! Sie könne nur noch kotzen, kotzen, kotzen. Und obwohl mir, wie Dir soeben geschrieben, völlig klar war, entgegen jedem Augenschein sei die mir gegenübersitzende junge Dame erheblich älter als ich, was selbst den konkreten, rein faktischen Grund dieses neidischen Aufstands aus seinen Schienen hebt, in mir den machistischen Patriarch erkennen zu dürfen, der sein Charisma und sein Konto mißbraucht, gelingt es der Signora doch, mir eine kleine bleibende Verletzung zuzufügen – der Sídhe hingegen kaum, die süffisant erklärt, sie habe immer schon ein gutes Verhältnis zu älteren Männern gehabt, „auch schon als kleines Mädchen‟, und pflege es weiterhin mit allergrößtem Genuß. „Soooo zärtlich können diese Männer sein …‟ Indem sie sich also durch die ordinären Angriffe dieser Frau nur noch mehr bestätigt fühlt, steigt in mir selbst ein böser Zweifel an meiner Selbstwahrnehmung auf. Es ist dies jetzt kein Spiel mehr, obwohl ich mich, meine Ferne, im Spiel doch immer noch glaubte; in Berlin vergeht kein Tag, an dem ich nicht wie früher angeflirtet werde – ganz wie ich es mein Leben lang gewohnt war. Gut, nicht so sehr wie Lars – doch nun hatte ich das Gefühl, den „alten Mann“ schon im Aussehn zu tragen und mich also, flirte ich mit jungen Frauen, lächerlich zu machen. Wie ich davon wieder wegkommen soll, weiß ich momentan noch nicht, zumal ich zwar gut im Verzeihen, im Vergessen aber schlecht bin und im Verdrängen geradezu disabelt. Zugleich ist diese Signora, wie immer sie sich auch aufführen mag, für die Sídhe kaum mehr als ein völlig wehrloses Opfer, dem ich eigentlich beispringen müßte. Doch allein meine sanften Versuche, sie, die reale Frau, wenigstens ein bißchen sich mäßigen zu lassen, provozieren sie besonders. Und als die Sídhe jetzt tiriliert, sie könne die Not der Frau ja verstehen und wie es sie ganz sicher schmerze, daß nicht auf sie meine Augen gefallen… bruchteilssekundenschnell zu mir, Lulus Ripper travestierend: „Armes Tier‟ … – als da ihr, der Frau, Kopf rot wie ein Feuerlöscher anläuft, der aber Brandsatzzünder ist, da nun brüllt der wirklich kaum dreiundzwanzigjährige Flixschaffner, was seine Stimme nur hergibt, in seiner ungeerdeten Autoritätspflicht los: „Nun halten Sie endlich Ihre Klappen!‟ Anders weiß er weder sich selbst mehr noch seiner im inneren Andruck reißenden Stimme zu helfen. Wobei er nur diese Frau und mich meint, weil er die Sídhe natürlich immer noch nicht wahrnimmt, die jetzt einfach nur loskichert. Doch erblickt er etwas anderes, das wiederum nur sie, die Sídhe, und ich sehen können: „Und räumen Sie endlich‟, erstimmbricht er, „diese Unterwäsche vom Tisch! Also wirklich, wo sind wir denn hier?‟ Immerhin ist ihm eine Kollegin zu Hilfe geeilt, die es tatsächlich fertigbringt, die mehr als nur gleichsam raptische Signora an ihren gebuchten Platz nicht nur zurückzuleiten, sondern sie zu überreden versteht, den gesamten Waggon zu wechseln, so daß sie zumindest nicht mehr in ihren toilettennahen Orcus muß; der Zug ist ja nicht ausgebucht. Nur daß, als ich erneut zu Nimueh sehe, sie gar nicht mehr dasitzt; sozusagen mit der Kontrahentin ist sie verschwunden. Wobei ich zum einen zwischen dem Kopftuch der Sídhe und der Natternkeife einen Zusammenhang ahne, den ich jetzt sogar eine Inszenierung nennen muß, zum anderen mir aber nicht sicher bin, ob ich nicht einfach nur eingedöst war, um all das schlummernd halbzuträumen – hätten nicht, ja hätten nicht nach wie vor diese Dessous auf dem schmalen Waggontisch gelegen. Nur sie. Ein schimpfender Schaffner war auch nicht mehr da, und meine Mitreisenden und Mitreisendinnen schienen rein mit sich selbst oder einander oder mit ihrem Smartphones beschäftigt zu sein; auf mich fiel nicht mal ein Blick. Besser, das blieb so. Schnell strich ich die AUBADE-Gewebe ein; sie fanden, ohne im mindesten aufzutragen, in meiner linken Jackettasche Platz – derart fein sind sie gewirkt. Da waren wir fast schon in Spandau. Die zwanzig Minuten Verspätung erwiesen sich als insofern praktisch, als ich schon hier aus- und in den in drei Minuten Richtung Jungfernheide abgehenden RE2 einsteigen konnte, um von dort bequem nach Charlottenburg zu kommen: da von der SBahn heim sind’s zehn Minuten nur zu Fuß.
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Briefe nach Triest 57 <<<<