Paul Reichenbachs Freitag, der 13.Oktober 2006. Schattenlektüre.

THE PAST
SURE IS TENSE
(aus: S. Anderson. Crime Sites. Nach Heraklit.)

Trotz Einäugigkeit, die >>>Verletzung an meinem linken Auge heilt schlecht, vielleicht bin ich auch zu ungeduldig, also trotz eingeschränkter Lesefähigkeit konnte ich der Lockung der grauen Seiten vom >>>Gutleutverlag nicht widerstehen und liess mich von Sascha Andersons Novelle >>>Totenhaus in scheinbar längst vergangene Zeiten und Orte entführen, die noch immer ihre Schatten auf das Leben meiner Familie werfen. Zum Inhalt der Novelle will ich hier nichts schreiben, um die neugierigen Leser nicht vorweg der Spannung zu berauben. Nur soviel sei gesagt: Beim Lesen, ich konnte nicht aufhören, kam mir mehr >>>Bruno Schulz in den Sinn als Dostojewski, an dessen >>>„Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ Andersons Titel offenbar anknüpft. Die Wirklichkeit ist Schatten des Wortes, schreibt Schulz. In Andersons Novelle verwandeln sich Realitäten in Worte, die übermächtige, lange Schatten in die Gegenwart werfen. Im Spannungsfeld zweier Pole, zweier sehr unterschiedlicher Autoren, die untergründig die Handlung und Psychologie des Textes begleiten, entwickelt der Dichter Anderson eine gespenstische Geschichte von Verwicklung in Schuld, die aufmerksame, vorurteilslose Leser, zwischen Ablehnung und Hinwendung, fast die eigene Balance verlieren lässt. Novalis Suche nach der blauen Blume im Heinrich von Ofterdingen und das Tagebuch>>> Paul Schrebers liefern den Lesern mögliche Erklärungen für die Hybris des Protagonisten und sein depressives Laissez faire. Friedrich Weisz, die Hauptfigur der Novelle, landet in einem selbstverschuldeten Desaster, das an >>>Raskolnikow erinnert. In Sätzen, wie folgenden, bereitet der Autor jene unerhörte Begebenheit vor, von der sich die Leser, gegen Ende der Erzählung, eine Erlösung durch Katharsis erhoffen: „…Die Frauen sind keine Frauen, sie sind Schauspielerinnen, und… er spürte, dass die Leere in ihm mehr zählte als er selbst… oder Der Defekt selbst ist ja keine Deformation. Er ist nur das sichtbare, lebenslange Vorzeichen ihm folgender, lebenslanger Vorsichtsmaßnahmen, die mich Schritt für Schritt aus dem Gleichgewicht werfen.
Katharsis, die Reinigung von schwerer Schuld durch Furcht und Schrecken, muss jedem zugestanden werden. Auch dem Autor Anderson. Selbstgerechtigkeit hat nicht die Sache der Kunst zu sein. Wer Steine werfen will wird es tun. Benn hat man verziehen, Becher wird man vergeben, Céline und Ezra Pound’s Kunst hat sich selbst rehabiltiert. Mit dieser Novelle und dem >>>Gedichtband Crime Sites. Nach Heraklit. meldet sich der Poet, Herausgeber, Schrifsteller und Künstler Sascha Anderson in die Literatur zurück.

Martin Kippenberger: „Portrait of Paul Schreber“

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