Folter und Kunst. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 3. August 2013: Dichters Zahlungsmoral. Sowie zur Schuld.

9.20 Uhr:
[Arbeitswohnung. Tschaikowski, Dritte (Stax-Hörer).]
Um Viertel nach sechs auf; gestern um dieser Zeit schwamm ich bereits.
Latte machiato, erste Morgenpfeife.
Als ich das Datum tippte, tippte ich versehentlich, aber wie selbstverständlich „3013“ statt „2013“, stutzte und mußte dann kurz über Eintausend Jahre nachsinnen: die „dunkle“ Zeit des Mittelalters, die groben Nibelungen, daß aber die antiken Helden nicht minder grob, nämlich so gut wie alle einfach schreckliche Schlächter sind; wie sich aber aus dieser Barbarei die Philosophie hob, nicht anders vielleicht, als das Märchenhafte aus den Brutalitäten der mittelalterlichen Recken entstand, und bei den Schlächtern stieg sofort >>>> diese Reportage der Süddeutschen in mich zurück; Broßmann schickte den Link. Wird man 3013 ebenfalls von 2013 als in einem dunklen Zeitalter gelegen sprechen? Sehr wahrscheinlich. Wir aber halten Gedichte dagegen, Romane und, ja, besonders, Musik. Die Kunst jedenfalls, anders als die der vergangenen eintausend Jahre, verherrlicht den Krieg nicht mehr, verherrlicht die Brutalität nicht mehr; noch vor dem Ersten, ja Zweiten Weltkrieg war das anders. Ihre Helden sind nicht mehr Helden, bzw. definiert sich Heldentum anders als darüber, daß man gut meuchelmorden kann. Nur im Spielfilm, allerdings, ist das noch anders. – Interessant die Ambivalenz, die der Autor der Reportage aufzeigt, wobei das verharmlosende Wort „Ironie“ ganz sicher fehl am Platz, weil – mit „bitter“ kombiniert – nichts als eine Stanze ist, die allerdings, eben als solche, die Hilflosigkeit des Autors verdeutlicht: „Es ist eine bittere Ironie, dass ausgerechnet diejenigen am entschlossensten gegen die Kidnapper und Folterer vorgehen, die weltweit als Terroristen gefürchtet sind: die radikalen Islamisten. (…) Für die Islamisten ist die Folter wehrloser Menschen haram – Sünde. Und während Europa wegsieht, halten sie sich nicht mit langen Reden auf.“
Eintausend Jahre.

Gestern endlich das zweite Exposé für den Sterberoman geschrieben. Bin einen ungewöhnlichen Weg gegangen, in dem ich direkt vor dem Text die Fragen der >>>> Marebuch-Lektorin beantwortet habe. Auf diese Weise ist das Exposé sehr persönlich geraten und allein für diesen speziellen Verlag verwendbar. Nachdem ich fertig formuliert hatte, schickte ich den Text erst einmal an die Löwin und zwei Freunde zur Durchsicht; jene antwortete sofort: Dieses Buch möge sie sofort lesen. Gerade wegen der angestrebten Einfachheit. „Für dieses Thema wäre deine Sprachgewalt unangemessen.“ Sie sagte es nicht, aber in dem letzten Wort steckt es: vermessen. Am Tod kann man sich nur überheben, wenn man ihn umfassend gestalten will; man muß darum aussparen. Aber das war mir vom Anfang meines Vorhabens an bewußt. Gut, daß das so nun auch hinüberkommt. – Jetzt warte ich noch auf die Meinungen Broßmanns und UFs; parallel muß ich mit einem anderen Freund sprechen, ich >>>> deutete das in Amelia schon an. Dann geht das Exposé an den Verlag ab. Imgrunde kann ich sofort zu schreiben beginnen. Aber vielleicht bekomme ich eine kurze Kreuzfahrt doch noch hin; das müßte, wenn es >>>> die Astor sein soll, noch im September sein.
So war es immer: der eine Roman ist noch im Druck, schon sitze ich am nächsten. Nein: Auf die mir neulich gestellte Frage, ob ich nach Abschluß der Anderswelt-Trilogie nicht das Gefühl hätte, in ein großes Loch zu fallen, muß ich antworten: nein. Die Löcher, in die ich falle, haben andere Gründe als Ideen- und Vorhabenleere.
Aber einiges ist liegengeblieben, etwa die >>>> Yüe-Ling-Erzählung; anderes geht nur sehr langsam voran, etwa die neue Gedichtsammlung, in die nun auch die >>>> Mauern Amelias hineinsollen und deren wichtigster Zyklus, >>>> Die Brüste der Béart, noch unabgeschlossen ist. Ebenfalls liegengeblieben ist die „Neue Fröhliche Wissenschaft“, deren Erscheinen >>> der Verlag und ich nun aber ohnedies auf 2015 verschoben haben; ich schrieb davon gestern schon, daß mir das entgegenkommt, weil Broßmann und ich eine ganz besondere Form für die Texte erarbeiten wollen, die zumal ihrerseits noch gar nicht wirklich „stehen“ -…. und eben kam mir eine Idee zu dem Text über Dichterfreundschaften, um den mich Manuela Reichert für >>>> Gutenbergs Welt gebeten hat; das Dingerl werde ich gleich, wohl auf einen Streich, herunterschreiben; dann ist das schon mal erledigt. Darauf entweder Mauern Amelias 3, oder ich setze den Torso des letzten Béart-Dithyrambus fort, bevor ich mich zum Sport aufmachen werde, heute wieder Krafttraining: da darf es ruhig tüchtig heiß sein, weil ich ja doch zwischen den einzelnen Sätzen immer kleine Pausen mache, in denen die Muskulatur sich erholt. Beim Langlauf ist das anders; da scheue ich Temperaturen über, sagen wir, 30 Grad Celsius. – Nach meiner Rückkehr will ich dann mit dem Nibelungentext anfangen.

(Warten auf eine wichtige Antwort. Und schon die leichte Furcht, sie – ist die Email erstmal eingegangen – zu öffnen. Ein nicht geringer Teil meines künstlerischen Lebens hat immer darin bestanden, Ansprüche des Alltags wegzublenden, weil die den Lauf der Imaginationskraft andernfalls grob gehemmt hätten. Dieses, sagen wir, Filtern funktioniert erstaunlich lange gut, aber irgendwann kommt der Moment, an dem es gefährlich wird. Auch pochen immer mal wieder „Altlasten“ an die Tür, was sich ebenfalls nur eine bedingte Zeit lang überhören läßt. In der Zwischenzeit räumt man ins Regal Buch für Buch sein Werk, das da dann immerhin steht und eben nicht da stehen würde, hätte man anders gehandelt, weil man diese Befähigung – auszublenden – nicht besaß.)

[Brahms, Violinkonzert (Menuhin/Furtwängler).]
Übrigens habe ich mich geirrt, als ich >>>> vorgestern schrieb, die nichtideologischen Beethoven-Sinfonien erinnerten mich an Tschaikowski I; es handelt sich vielmehr um Tschaikowski III, ein weitgehend unbekanntes Stück in D-Dur, das man quasi nie, leider, auf den Spielplänen findet. Beim Wiederhören wurde mir aber bewußt, daß mein Eindruck täuschte: die Erinnerung täuschte; sie rückt Phänomene aneinander, die sich allein der eigene Geist verwandt gemacht hat. Alle Wirklichkeit ist subjektiv konstruiert, unabhängig davon, daß sie, siehe die Reportage in der Süddeutschen, furchtbar objektiv ist: zum Fürchten objektiv. Ob wir es wollen oder nicht, wir alle machen uns so sehr schuldig, daß die Vornahme, erst einmal vor der eigenen Türe zu kehren, genau zu einem Teil unserer Schuld wird.

(Es ist bereits so warm, daß ich, besonders mit den gepolsterten Stax auf den Ohren, ziemlich schwitze; dabei sitze ich nur in Unterhose und losem Hemd am Schreibtisch. Meine Temperatur. Deshalb rast das Gehirn heute morgen so entschlossen in viele mögliche Richtungen; ich muß es richtig an den Zügeln reißen, um es durch ein Ziel zu bringen.

: 8.55 Uhr.
Zweiter Latte macchiato, Zweiter Brahms-Satz: der klingt aus meiner Jugend herüber: Der erste „Held“ meines allerersten Romans – ein wildes Abenteuerding, das ich mit vierzehn/fünfzehn schrieb – war eine Mischung aus Zorro und Geigenvirtuose.)

16.45 Uhr:
Gut vorangekommen mit dem Dichterfreundschaftstext, aber noch nicht fertig geworden, sondern um ein Viertel nach zwölf unterbrochen und ab zum Krafttraining. Man glaubt ja nicht, wie drei direkt aufeinanderfolgende Sätze Kniebeugen wirken können! Knapp zwei Stunden trainiert, incl. des Warmlaufens, das bei dieser Witterung freilich schnell erledigt ist. Dann war ich erstmal fertig, zumal ich dreiviertel Wegs wieder zurückradeln mußte, weil ich mein Fahrradschloß hinten aus dem Korb verloren hatte. Es fand sich, ebenfalls ein bißchen schlapp, am Wegesrand wieder. – Früchte in mich eingesogen, dazu ein Joghurt. Dann geschlafen, dann geduscht, geht’s jetzt weiter mit dem Text. Leider haben sich bisher weder UF noch Broßmann zu dem Exposé geäußert, und in Die Dschungel mag ich es nicht stellen, weil es wirklich, da direkt an die Lektorin gerichtet, sehr persönlich ist. Sollte Mare wider Erwarten „nein“ sagen, müßte ich’s für einen anderen Verlag noch einmal grundsätzlich umarbeiten – dann allerdings zur Vermittlung an >>>> Stang geben. Aber ich habe das gute Gefühl, daß Mare zugreifen wird.
So. -:

Wissen Sie… Dichterfreundschaften sind so eine Sache. Also was meinen Sie? Meist sind es Mentorschaften: der jüngere Dichter wendet sich an den älteren. Das ist selten frei von Bewunderung, ja von „Fan“tum, und der ältere ist eine Art Lehrer – sogar Vater kann er werden, und Sie werden es immer wieder erleben, wie sich eines Tages der jüngere, und sehr oft schroff, vom älteren abwendet, ja ihn bekämpft – bis man schließlich gleichgezogen und seinen Frieden miteinander gefunden hat oder sich in Ruhe läßt. Freundschaft kann man das nicht nennen, wie wichtig die beiden immer auch für einander gewesen sein mögen.

7 thoughts on “Folter und Kunst. Das Arbeitsjournal des Sonnabends, dem 3. August 2013: Dichters Zahlungsmoral. Sowie zur Schuld.

  1. Sie haben ja letztens schon aus 2015 das Jahr 1915 gemacht, nun gar 3013! Sicher eine Folge Ihrer schriftstellerischen Arbeit, die Zeitgrenzen naturgemäß nicht als solche anerkennen d a r f – ich empfehle in diesem Kontext immer Franz Werfels grandiosen Roman ‘Stern der Ungeborenen’ zur Lektüre!

    1. Franz Werfel Franz Werfels “Die vierzig Tage des Musa Dagh” kennen Sie aber, nicht wahr? Der Roman hat mich einmal unglaublich fasziniert.

    2. @Cellofreund. Nein, auch d e n Roman kenne ich nicht. Meine Franz-Werfel-Zeit war um meine Zwanziger herum; das letzte Buch von ihm, das ich las, war der Falun-Roman. Meine Großmutter hat viel Werfel gelesen. Für mich spielte er erst später wieder eine, allerdings auch nur indirekte Rolle: weil er nach Mahler selbst der Gatte Alma Mahler (und dann eben -Werfels) wurde. Literarisch reizte mich dann anderes: Musil vor allem, immer wieder Kafka, dann Thomas Mann, auch Rilke (sein Malte besonders).
      Offenbar muß ich nachholen.

    3. Nachholen Ja, vielleicht.
      Es ist in den “Vierzig Tagen” sehr beeindruckend das Schicksal der Armenier dargestellt. Eine armenisch-französische Freundin hatte es mir geschenkt, gleich nachdem ich sie kennengelernt hatte. Das Dorf ihres Vaters war um 1915 von Türken überfallen worden. Als er von einem Besuch im Nachbardorf zurückkam, lagen die meisten seiner Verwandten aufs Bestialischste ermordet im Garten oder im Brunnen. Er hatte nur noch seinen Cousin, mit dem zusammen er in einem Waisenhaus in Korfu aufwuchs. Er wanderte dann nach Marseille aus, wo er eine Schneiderei hatte und wo auch diese Freundin geboren wurde. Sie- eine exotische Schönheit und überaus charmante Persönlichkeit- wurde Pianistin und heiratete später einen Deutschen. Hin und wieder erinnern sie und ihr Mann durch Vorträge an dies Massaker an den Armeniern. Die Türkei leugnet bzw. verharmlost diesen Völkermord noch heute.

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