Das Irseer Arbeitsjournal (4). Dienstag, der 7. August 2012. Zur „phantastischen Allegorie“: Modernität der Schuldfrage.




5.40 Uhr:
[Kloster Irsee, 125.]
Es ist und bleibt hier (m)ein ständiges, wenn auch unterschwellig, Thema, daß dies ein Mord-Ort war; wir spachen diesmal, im Kreis einiger aus meiner Gruppe, abends noch lang darüber. Im sogenannten Felsenkeller, von dem ich immer wieder durch die Technikergänge zu einem Fahrstuhl ging, der von dem Keller zu dem Park 10 Zentimeter fährt, um draußen im Unterstand zu rauchen. Es regnete und regnete. Die filigrane, überaus schöne >>>> Christina von Bitter saß dabei. Wiederum wird es am Sonnabend, zum großen Fest des Kunstsommers, die Uraufführung eines Chorstücks geben, das im Beisein seines flämischen Komponisten >>>> Kurt Bikkembergs als Auftragswerk des Deutschen Musikrats, von den Teilnehmern des Kurses der Chorleiterin >>>> Tanja Wawras hier einstudiert wird. Und heute früh will ich, nach der Andacht und dem Frühstück und sowie ich meinen Leute ihre Aufgabe gestellt, durch die Kurse der Bildenden Künste gehen, um dort den Teilnehmer >>>> den unterdessen lebhaft gewordenen Literarischen Kursblog mit ans Herz zu legen; es wäre fein, wenn er sich auf die andren Kurse um etwa Fotografien hier entstehender Objekte, bzw. Bilder erweitern ließe. Die Ermordung, aber man muß von Hinrichtungen sprechen, von über 2000 Menschen bleibt das Thema; unterdessen weiß ich, daß auch Bikkenberg, der sich erst geweigert habe, an diesen Ort zu kommen, damit befaßt ist, kompositorisch. Ich will nachher Büning anrufen, ob ich wohl über die Uraufführung für die FAZ berichten könne.
Daß ich bei alledem, anders als vorgehabt, auch morgens nicht an Argo komme, wird Sie, meine Leser, nicht sehr wunden, wundert‘s ja nicht einmal mich selbst. Vielmehr stelle ich mir im Kopf meine Lesung, die heute abend stattfinden wird, zusammen, werfe um, entscheide mich schließlich; eigentlich hatte ich die Bamberger Elegien vortragen wollen. Das werd ich heute bleiben lassen, stattdessen >>>> die Vergana nehmen, da sie dem Thema meines Kurses sehr entspricht: autobiografisches Schreiben und seine Poetisierung, nämlich ein autobiografischer Ansatz, aus dem die Erzählung dann erst aufsteigt, die sich von einem völlig löst, aber ohne dieses Autobiografische nicht denkbar gewesen wäre. Zugleich operiert die Vergana mit einem extrem nichtsubjektiven Schicksalsbegriff, der vielleicht besser „eine phantastische Allegorie“ genannt werden sollte, unter deren Einfluß eine grundsätzliche moralische Frage gestellt wird nach sozuagen nichtindividueller Verantwortung und Verantwortlichkeit. Genau das scheint mir an einen Ort wie diesen zu gehören, vor allem, weil die Vergana-Erzählung sich nicht auf ein Geschehen bezieht, das historisiert werden könnte. Ihr Ahistorisches läßt die Frage nach Schuld modern bleiben, gegenwärtig. Daß dabei der erzählte Autor der Geschichte schließlich mit Überhebung, also unmoralisch, reagiert – und vielleicht, um irgend noch abwehren zu können, was ihm geschah – so reagieren m u ß, macht die Frage nach der Schuld, so glaube ich, nur um so schärfer.
Doch lasse ich die Elegien fürs Kloster Irsee nicht fallen, sondern werde übermorgen früh eine der Morgenandachten mit ihnen gestalten, also in der Kirche eine Elegie lesen, nicht vollständig, wahrscheinlich, ich werde etwas kürzen; aber mich interessiert es sehr, welche Wirkung sie in solch einem anderen und derart besetzten Raum entfalten. Zumal bin ich mir, nach meiner Lesung heute abend, sehr sicher, daß es auch frühmorgens dann vollwerden wird.

Ich geh mal runter und hol mir meinen Kaffee, der allmorgendlich im Restaurant für mich bereitsteht, so daß ich hier im Zimmer täglich vor Beginn des Kurstages arbeiten kann, ohne den gewohnten kleinen Kick, der einen wachhebt, entbehren zu müssen.

18.59 Uhr:
[Kloster Irsee, Vier Jahreszeiten 102.]
Eine ganz hervorragende, mich wirklich beeindruckende Textarbeit meiner Leute, die über diesen Tag aufgrund der gestellten Aufgabe entstand. Dazu ein junger Kulturjournalist, Sohn >>>> Joseph v. Westphalens, der einen kleinen Bericht über mein Seminar und das literarische Weblogprojekt für den Bayerischen Rundfunk zusammenstellt, Aufnahmen hier im Raum und gartendraußens im Gespräch. Jetzt muß ich etwas runterkommen und mich für meine Lesung vorbereiten, die in einer Stunde beginnen wird. Leicht nervös bin ich schon. Es ist ja einiger Sprengstoff drin >>>> in dieser Novelle. Wir werden sehen.

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2 thoughts on “Das Irseer Arbeitsjournal (4). Dienstag, der 7. August 2012. Zur „phantastischen Allegorie“: Modernität der Schuldfrage.

  1. Vergana Die Vergana zu lesen ist wirklich eine gute Idee. Da wäre ich gerne dabei, vor allem bei einer anschließenden Diskussion in einer Gruppe. Ich lese sie immer wieder, und verstehe sie letztendlich doch nicht durch und durch. Sie ist eine der wenigen Erzählungen, die man nie vergißt. Wie Kafkas “Verwandlung” oder Maupassants “La parure” oder auch Hausmanns “Achterbahn”.

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