Jamesville (2). Das Arbeits- und Reisejournal des Donnerstags, dem 26., auf den Freitag, dem 27. Juli 2012. Mit einem schweren Traum. Doch dann die Elf.

9.28 Uhr:
[Dschanna, Loggia.]
Ich habe verschlafen, nachdem ich aber gestern nacht erst sehr spät, bzw. früh zu Ruhe, also in mein Haus zurückkam, aus dem die junge Dame mich mitternachts abgeholt hatte. Schwere, sehr schwere Träume, gestern bereits, von den Zwillingskindlein, die plötzlich allgegenwärtig waren, auch von लक्ष्मी und von meinem Jungen sowieso, der zu seiner neuen Schule gebracht werden mußte; ich aber war unterwegs, kam zu spät an, wollte ihn noch abholen in der alten – aber fand sie nicht mehr. So irrte ich über eine riesige Berliner Brache, die voller ausgebombter, nicht sehr hoher, doch extrem langer Gebäude stand, kasernenartig verlassen und, ja, ausgeschlachtet. Plünderer striffen über das Feld. Ich fragte nach dem Gymnasium, ein Penner wußte Auskunft. Es ging mit einem Mal einen rasenbewachsenen, ziemlich tiefen Hang hinab. Und dort unten stand das Gebäude dann, das aber an die backsteinerne Wirklichkeit des Schliemann-Gymnasiums in gar keiner Weise erinnerte. Dennoch wußte ich, daß ich hier richtig war. Betrat das Gebäude, wußte bloß nicht mehr, wo sich das Sekretariat befand, wollte irgendwo fragen, klopfte an die Tür eines Klassenzimmers. Alle Schüler saßen drinnen, vorn die Lehrerin. „Entschuldigen Sie bitte: wie komme ich zum Sekretariat?“ Daraufhin sie, mit deutlich angemaßter Arroganz: „Denken Sie doch einmal nach.“ Es war dazu aber keine Zeit, ich war ohnedies so spät, und es gab mehrere Möglichkeiten, meinen Sohn, bräche er alleine auf, zu verpassen. „Es eilt, wirklich“, bat ich, „helfen Sie mir bitte.“ „Wenn Sie das vergessen haben, dann ist Ihnen nicht zu helfen. – Nein, da müssen Sie selbst drauf kommen.“ Bereits Amusement bei den Schülern. Die Frau spielte ihre Macht gegen mich aus, die Schüler gehörten plötzlich zu ihr, zur siegenden Partei. Ich wurde wütend. „Jetzt werden Sie auch noch primitiv“, sagte sie. Es hatte keinen Sinn. Ich ging und knallte die Tür.
Kam zu spät, fand meinen Jungen nicht. Dann ein Traumschnitt, Elternkonferenz. „Stehen Sie zu dem, was Sie sind“, sagte ein schon alter, tolstoibärtiger Mann, eine Mischung aus indischem Guru und europäischem Machtmensch, der sein Teil längst heimgebracht hat und völlig einverstanden dem Tod entgegensieht. Von seinem Blick wachte ich auf.

„Bitte folgen Sie mir.“
„Jetzt?“
„Jetzt.“
Ich nahm meine Pfeifen, das Notizbuch, das mir die Löwin geschenkt hat, nahm meine Lederjacke, weil es hier nachts durchaus frisch ist. Aber dachte, es wäre besser gewesen, ich hätte Anzug und Krawatte getragen. Damit hatte ich recht. Immerhin habe ich einen mit und werde mich, sowie dies hier geschrieben und eingestellt ist, in ihn kleiden. Wobei ich wegen des Verschlafens nicht viel Zeit habe, da doch der Text zwischen elf und halb elf in Der Dschungel eingestellt werden muß. Man lasse davon keine Abweichung zu, hatte Jamil erklärt, in seiner orientalisch freundlichen, dabei freilich unbedingten, fast muß man, glaube ich, schreiben: extremistischen Art. Das eben will man von mir: Unbedingtheit. Wie ich jetzt weiß, da aber schon gefühlt habe. Auf keinen Fall ausweichen, auf keinen Fall einknicken. In diese Richtung geht die Prüfung. Aber wer ist der Gräfin, sich das anzumaßen? Manchmal schäumt wieder Wut in mir. Doch ich weiß ja, >>>> wer er ist.
Wir gingen durch die Nacht zur Hazienda zurück, dort durch den Empfang, aber vom Speiseraum aus, der ebenfalls auf die Loggia führt, in der ich dies hier, jetzt am Morgen, tippe, durch einen hinabführenden Seitengang direkt vor eine schmale Stahltür.
„Bitte“, sagte die junge Dame und öffnete.
Es war nicht mehr als eine Kammer. Ein Sessel darin, daneben eine Ablage mit Aschenbecher und Feuerzeug, nichts weiter. Der Sessel läßt auf eine Scheibe blicken, hinter der es noch dunkel war.
„Wählen Sie“, sagte die junge Dame, schloß die Tür wieder; selbst blieb sie draußen. Ich saß im Dunklen, versuchte, einen Lichtschalter zu finden, es gab aber keinen, oder ich fand keinen. Doch nach vielleicht zwei Minuten, die mir aber wie zehn vorkamen, wurde es hinter der Scheibe hell, so daß das Licht auch in meine Kammer fiel.
Der Raum dahinter war weit und voller Säulen, dazu aber fast überlaufen ausgestattet mit Sitzmöbeln und Schränken, Sekretärchen, Barockhockern, die gleichsam sinnlos, derart beliebig, herumstanden, sowie vor zweien der Säulen mit Büchern hinter einem Glas, das bis zur Decke langte, deren Mitte, aber eben nur dort, ein enormer Kronleuchter beschwerte, Muranoglas, dachte ich sofort, art deco, barock zugleich wie ziseliert. Das Licht, das er abstrahlte, hatte freilich etwas Künstliches, ebenfalls Übermäßiges, ja Grelles. Es schüttete Fieber in den gesamten Raum, zwischen alle Säulen, ein, der farbigen Kristalle wegen, in dem es sich brach, farbiges Fieber. Der Boden blankes Parkett, scharf widerspiegelndes Parkett, in dem es vier wassergefüllte, aufeinander zulaufende Rinnen gab, die das einzige sind, was den Raum oder Saal wirklich strukturiert.
Dann kamen die Frauen, eine nach der anderen, herein; eine nach der anderen, nachdem sie sich ja: vorgeführt hatte, und zwar dazu direkt über dem Zusammenlauf der Rinnen stehend, stellte sich rechts in der Riege auf, wirklich aufgereiht standen sie da, den Vorderkörper je zu mir, wartend. Sie stellten sich, wenn sie an der Reihe waren und aus ganzverschiedenen Tiefen des Säulensaales gleichsam auftauchten, vor: was sie im bürgerlichen Leben seien, welchen Ausbildungsweg sie genommen, in welchen privaten Verhältnissen sie lebten. Immer, wenn neu eine der Frauen hereinkam, ging rechts oben an der Scheibe in Form einer Zahl ein Licht an. Es waren dreizehn Zahlen und also dreizehn Frauen. Jede war von europäischer Herkunft, europäisch gekleidet auch, von verspielt, auch je nach Lebensalter, bis elegant, sportlich, pfiffig in einem Fall, mit gepiercter Unterlippe und rotgesträhntem strohigen Haar, klassisch in dem anderen. Während sie sich vorstellten, entkleideten sie sich, jede, vollkommen, drehten sich langsam vor meinen Blicken herum, erzählten dabei geradezu sachlich weiter. Doch hatte ich, obwohl ich hinter dieser Scheibe in der abgedunkelten Kammer saß, den unabweisbaren Eindruck, daß sie mich sehen konnten und in Wirklichkeit nicht ich sie, sondern sie mich fixierten. Zwei sahen sogar unentwegt in meine Augen, als nähmen eben s i e Maß und nicht ich. S i e prüften, gar keine Frage. Eine von ihnen fiel mir besonders ins Auge: eine hochgewachsene, überaus kühl wirkende Blondine mit im Nacken gebundenem Haar, die mich auf ihren hohen Schuhen ganz gewiß überragte, stünde ich direkt neben ihr. Als sie sich umwandte, sah ich, daß sie im Nacken ein Tattoo trug; ich konnte aber das Motiv nicht erkennen, nur, daß es ausgesprochen fein ausgeführt war und an eine arabische Kalligraphie erinnerte, an ein Schriftzeichen also. Die Frau erschien zur Zahl Elf. War das, dachte ich kurz, eine Elf auch im Nacken?
Es wurde wieder dunkel, so daß es sich durch die Scheibe nicht weiter blicken ließ. Ich blieb ganz allein mit mir, zehn Minuten lang wohl, aber wahrscheinlich waren es auch diesmal nur zwei. Dann öffnete sich die Tür, und die so sehr junge Frau bat mich wieder heraus.
„Ich darf das nicht fragen“, sagte sie, als wir, ich ziemlich benommen, zu meiner Bleibe zurück über die Sandwege schritten, „aber: haben Sie gewählt? Ich wußte auch gerne, wen. Aber wenn Sie‘s mir sagen, dann schickt er Sie zurück – und mich auch.“ Sie mußte nicht erklären, wen sie mir „er“ meinte, und auch nicht, was mit „zurück“.
„Für was denn wählen?“ fragte ich.
Da kicherte sie, ja bekam sich gar nicht mehr ein vor Erheiterung.
„Aber gut, daß Sie‘s mir nicht gesagt haben“, sagte sie zwischen zwei Wellen ihres wirklich kindlichen Kicherns.
Wir standen bereits vor meiner Tür.
„Darf ich heute nacht bei Ihnen bleiben?“
Da war ich wie gewarnt. Blumenmädchen, dachte ich. Parsifal. Sowas. Absurd, aber auch wieder passend. Nein, ich such mir Kundry aus. ‚Dienen, dienen‘ dachte ich.
“Besser nicht”, sagte ich. Das machte sie weder traurig, noch war sie erbost. Immerhin hörte die Kicherei damit auf.
„Wie alt sind Sie?“ fragte ich. „Doch sechzehn, allerhöchstens siebzehn…“
„Fünfzehn“, sagte sie. „Finden Sie, daß es auf so etwas ankommt?“ Sie lächelte, wünschte mir eine gute Nacht und ging.
Wenn ich nicht von meinem Jungen geträumt hätte, wäre ich geneigt, von einem libanesischen Traum zu sprechen, den ich gehabt. So aber ist mir völlig bewußt, daß alles real ist.

Jetzt les ich dies erst einmal korrektur, dann wird Jamil hereinkommen, meinen Text durchsehen und ihn mich, hoff ich, unverändert einstellen lassen. Er ürigens ist es, der die Hazienda „Dschanna“ nennt, was eigentlich „Garten“ bedeutet: das Paradies in der Wüste.

Auch an Argo war ich gestern noch. Läuft sehr gut, auch das, was schon vorlag. Deutlich: Coda. Ich werde mich von meiner Arbeit nicht ablenken lassen, nicht zur Gänze jedenfalls.

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4 thoughts on “Jamesville (2). Das Arbeits- und Reisejournal des Donnerstags, dem 26., auf den Freitag, dem 27. Juli 2012. Mit einem schweren Traum. Doch dann die Elf.

  1. entkleidete sich Was wird das jetzt? Ein erotischer Roman? À la “Shades of grey”- aus der Sicht eines Mannes?

    1. @Cellofreund zu “Shades of Grey”. Jetzt habe ich mich, um Ihnen noch antworten zu können, wirklich beeilt, >>>> den nächsten paradiesischen Text einzustellen.
      Dabei k a n n ich Ihnen nicht antworten; ich weiß nicht, was es wird. Aber es könnte erfahrenes Material werden für den Melsuine-Walser-Roman, von dem ich nun schon oft geschrieben habe und für den mich die Löwin tatsächlich überzeugen konnte, er müsse die Perspektive eines dominanten Mannes haben. Vielleicht gehört diese bizarre Prüfung tatsächlich schon dazu; >>>> der Gräfin liest ja, oder läßt lesen, wahrscheinlich ständig mit.
      Wegen “Shades of Grey” aber… es war ausgerechnet die Löwin, die mir das Buch da ließ, wozu sie allerdings bemerkte: “Leider sehr schlecht geschrieben.” – Ich wiederum meine, daß dieses schlecht geschrieben Sein (ich kann das nicht wirklich beurteilen) sehr möglicherweise einen Teil des Erfolges begründet. Ein anderer Teil bedient – ein gutes Wort in diesem Zusammenhang – ganz unabbhängig davon, daß solche Bücher tatsächlich Befreiungen sind, männliche Phantasien. Der wiederum nächste wichtige Teil i s t die Befreiung.
      Mich aber interessiert, immer zugleich und vor allem, ihre Poetisierung.

      Gleich geht wieder der Computer aus. Die sind echt radikal hier.

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