Das Arbeits- und Reisejournal des Donnerstags, dem 17. Juni 2010. Von Dublin in Frankfurtmain nach Paris. Les secrets de Paris (1).

6.54 Uhr:
[Frankfurtmain, C’s Schreibtisch.]
Seit sechs auf, ein wenig nervös bin ich nun doch: wie vor jede Reise-direkt, aber es ist auch ein wenig mehr. Weil nämlich Nachricht kam aus Frankreich, worin mir nun die Gräfin-selbst – ich will mir angewohnen, sie „die Gräfin” nennen – schreiben ließ, jaja, wiederum: ließ, wer mich abholen werde; indes Prunier sehr freundlich schrieb, er schlage das Wochenende vor für unser Treffen: ob ich nach Laon kommen möge; er aber tue die Reise nach Paris a u c h gern usw. So weiß ich also noch gar nicht, wo ich unterkommen werde. Die Angelegenheit hat den Geschmack jener kleinen Abenteuer, die ich immer gemocht habe; sie haben aber a u c h immer, vorher, ein wenig nervös gemacht. Es ist, als träfe ich einen alten Bekannten. Um 9.30 Uhr, wenn meine Planung nicht durch Busunglücke, eingestürzte Tunnel und dergleichen auseinanderfällt, werde ich am Flughafen Rheinmain sein, mein E-Ticket holen, einchecken und um 10.40 Uhr, so es nicht eine Verspätung gibt, abheben. Gegen zwölf ist die Ankunft an Charles de Gaulle avisiert. Eine halbe Stunde noch, vielleicht, um meinen Rucksack entgegenzunehmen, und dann… die Gräfin, bzw. ihr Chauffeur oder was immer er (oder sie) sein wird. Der Profi, als wir gestern noch telefonierten, zog am Mobilchen ein spöttisches Gesicht. Sah ich. Dachte ich. Stellte ich mir vor. Es war da was in seinem Ton.
Das >>>> Heidelberger Seminar gestern war einmal wieder fein, nachdem ich zu den beiden „Real”sitzungen davor ein wenig den Eindruck gehabt hatte, es laufe sich allmählich tot, sei zumindest ins Stocken geraten. Gestern nicht. Gestern hat es glaube ich: allen wieder Spaß gemacht. Vorher mit E. Eis gegessen und Zeuge einer Heidelberger Denkwürdigkeit geworden dabei (eine erste Heidelberger Denkwürdigkeit stammt aus dem vergangenen Herbst: da hatte es einen Laternenumzug gegeben, die ganze lange Einkaufs- und Altstadtsstraße entlang, lauter Knirpse zwischen drei und fünf… und v o r diesem Martinsumzug fuhr ein, ich faß es immer noch nicht, Polizeiwagen mit rotierendem Blaulicht und hinter dem Umzug auch…): gestern aber gab es nicht mal die Martinsassonanz (Martinsumzug und Martinshorn), sondern in dieser netten Zentralkirche aufm Platz gibt es kleine Seitenlädchen. Eins davon wird von einer schmalen Asiatin unterhalten, die auf einer Banca auch Modeschmuck auf die Straße gestellt. Links daneben noch etwas Raum, da führt ein Steintreppchen zu einem der Kirchenaufgänge. Davor parkten drei Autos, die das nicht durften. Ein Polizist schrieb sie auf, fotografierte sie zudem, steckte die Knöllchen hinter die Scheibenwischer. Dann aber sah er die Pflanze. Also. Die Asiaten hatte zur Beschmückung ihrer Banca links neben sich auf einem wadenhohen Rattan-Hockerchen eine Topfpflanze hinausgestellt, der Topfboden vielleicht zwanzig, vielleicht fündundzwanzig Zentimeter Durchmesser und die Pflanze selbst vielleicht dreißig Zentimeter hoch, insgesamt also nicht wesentlich größer als eine, die man auf einen Wohnzimmertisch stellt. Sò. Tritt doch der Polizist auf die Asiatin zu und sagt: „Diese Pflanze steht im Halteverbot.” „Die kriegt gleich auch ein Knöllchen”, sagte E. zu mir. „Geht nicht”, entgegnete ich, „die hat kein Nummernschild.” „Oh, auch das noch.” Während wir Kumpanen so spotteten, wurde die Sache für die Asiatin aber ernst. Wir sahen gestikulierte Drohung, ein Ordnungswidrigkeitsbuch wurde, imaginär, in die Höhe gehalten, das StGB war leider nicht zuständig. Das andere Buch reichte aber völlig, um der Asiatin die volle schwere der deutschen Gesetzlichkeiten bewußt zu machen und daß es hier um Prinzipien gehe, vielleicht gar Fluchtwege, die insbesondere vor zugeschlossenen Kirchenseitenpforten freizuhalten seien für all die Menschen, die in der, ebenfalls geschlossenen, Kirche gar nicht darin. Halteverbot ist Halteverbot, das gilt für Autos wie für Pflanzen. Sehr bestätigt ob seines Machtsiegs begab der Polizist sich hinfort. Die Sache wurde dann noch einige Zeit von den Kleinhändlern am Platz diskutiert, es waren da richtig kleine Wogen. E. und ich brachen auf, ich hatte mein Seminar diesmal s.t. angesetzt, um hernach den guten Zug nach Frankfurt noch zu bekommen –
bekam ihn, während der ICE-Fahrt hierher hatte ich „meinen” Joyce mit Bleistift durchrhythmisiert, erfuhr dann nach der Veranstaltungen noch einiges von Klaus Reichert, der seinerzeit, als Wollschläger an seiner Übersetzung arbeitete, ihm die ganzen mittelhochdeutschen Stellen recherchiert und zugespielt hat. Wollschläger, offenbar, hat „Haps” gemacht, rein in den Kropf mit dem Futter und, wieder am heimischen Schreibtisch, dies alles rückerwürgt und zu Text gekaut.
Ich liebe dieses Ochsenkapitel des Helios, aber die Mehrheit, gestern abend, glaube ich, hatte ich n i c h t hinter mir. Was ja nix Neues ist. Es gibt so Bedürfnisse nach Einfachheit, die ich nicht teile. Ich mag’s, wenn es wühlt.
Ah ja, Eva Demski als Molly. Das war nun fein. Interessant dabei, wenn Molly von diesem Frauengefühl erzählt, körperlich erzählt, sofort nachfühl- mitfühlbar, „daß seine Frau gefickt wird jawohl und zwar verdammt gut gefickt bis rauf in den Hals”… dieses „bis rauf in den Hals”, diese Lust am Penetriertsein und steckt da fest und jault wie Katzen sich rollen… interessant also, daß Demski diese Art Erfahrung erzählen kann, ohne daß sich irgend eines Unmut rührt, im Gegenteil bleiben alle Sympathien bei ihr, wie ich das auch bei >>>> Phyllis Kiehls Beiträgen immer wieder lesend miterlebe, auf die sich >>>> im selben Verstand MelusineB bezieht: Kiehl kann provozieren, >>>> wie immer sie will, stets wird freundschaftlich, oft flirtend geantwortet, immer bleibt der Ton im Tanzschritt und ihr äußerst gewogen, indes, wenn ein selber Text bei mir erschiene, sofort die Wutwellen branden oder Abwehr und dergleichen. Ein wirklich interessantes Phänomen, und eben auch bei Demski gestern abend derart deutlich… Wie etwas aufgenommen wird, hängt ganz offenbar von der Bereitschaft ab, mit der man schon hingeht, mit der man sieht und liest: man w i l l gut aufnehmen, oder man w i l l schlecht aufnehmen, das ist alles, imgrunde, immer schon vorentschieden und hat mit den Dingen selbst schließlich kaum noch zu tun.Jedenfalls hat mir selbst mein Vortrag ausgesprochen viel Freude gemacht, auch und gerade w e i l dieser Text so saumäßig schwer vorzutragen ist, aber wenn man ihn mal im Griff hat und spielen kann, ist er einfach nur hinreißend, urkomisch, brüllend bizarr und voll von sattem Leben – was es ja ist, das ich an Joyce sowieso liebe.

Ah! Mein französischer Kaffee wird mir gebracht, in französischer Schale…

19.58 Uhr:
[Paris, La Nonchalante, Am Fenster.]
Unfaßbar! Aber ich habe keine Zeit jetzt, ich berichte morgen oder heute nacht…

>>>> Les secrets de Paris 2

14 thoughts on “Das Arbeits- und Reisejournal des Donnerstags, dem 17. Juni 2010. Von Dublin in Frankfurtmain nach Paris. Les secrets de Paris (1).

  1. geben sie ihr … gescheitert sein doch endlich zu!

    was hilft es ständig mit seinem schicksal zu hadern. entweder ich werde als teutscher schriftsteller im ausland anerkannt, oder aber es wartet immer nur ein ausrangierter vw-bus mit porösen dichtungen auf mich, und eben leider kein moulin rouge girl!

    1. @frenchman. Was soll einer wie ich mit einem Moulin-Rouge-, zumal: -“girl”?

      Und: gescheitert worin, wobei? Als Poet ganz sicher nicht. Da scheitern andre. Menschlich aber, das mag sein, doch menschlich..: là, je suis comme tous.

    2. hört, hört bdsm-anhänger verfügen rein tiefen-psychologisch betrachtet nicht selten über eine leicht verkrüppelte seele; drum sei es ihnen gegönnt im land des vive l’amour neue erfahrungen zu sammeln …

  2. Gestern noch gepflegtes Miteinander, viel Anregendes, in jedem Fall Konstruktives, hinreißend heiter Kiehls Argumente, unwiderstehlich vernünftig Melusine, tolerant und durch und durch optimistisch read an, einfach mitreißend das herzliche Lachen beim Anblick der Zeehrosen … und heute wieder die hysterische Rauferei eines zu kurz gekommenen frenchman. Lieber Herr Herbst, ich spreche sicher im Namen meiner freundlichen Mitstreiterinnen, unsere Ergebenheit ist Ihnen (auch in Paris) sicher!

    1. @Edith88

      ihre lob-suddelei in allen ehren, doch sie enthält absolut nichts konstruktives, ausser dass sie sich als Fan ohne eigene intellektuelle Meinung geoutet haben! –
      der einzelne spricht übrigens niemals als Gruppe – sondern stets als Individuum – zumindest das sollten sie bei der allgemeinen reifeprüfung gelernt haben!

    2. schon recht so denn ich stehe auch nicht auf Perlen (Umgangssprachlich für Putze!)

      zumindest ein Kügelschen Gehirn sollte bei der Angebeteten schon früh in den vererbten Genen erkennbar sein.

    3. @ frenchman Kugeln in den Genen. Man wirft auch Putzfrauen nicht vor die Säue, sondern räumt, bevor sie tätig werden, wenigstens auf. Als Frau finde ich es übrigens sehr angenehm, eine Perle zu haben. Wenn du dein Badezimmer liebst, aber verheiratet bist, weisst du warum.

    4. @Kathrin

      heiraten ist etwas für das kleinbürgertum- und mein badezimmer teile ich mit niemanden (wie ordinär!)

    5. @ frenchman; so schlicht kann man Einsamkeit zusammenfassen. besten dank für diesen Einblick in Ihre Seele.

    6. schwach duelliert @Beckmesser

      ich bin zwar nicht besonders gut in Sachen Einsamkeit im Allgemeinen informiert, doch ich unterstelle trotzdem, dass sich die Ihrige nicht sonderlich von der anderer besonders unterscheidet – es sei denn, sie sind ein Rinotzerus und kein menschliches Wesen!

  3. Helios Ich wollte mich nochmals für Bloomsday bedanken – ich bin bis jetzt unter dem Eindruck der Joyce’schen Sprachevolution in Ochsenkapitel. Das tat gut.

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