Das LiebeLeserinnen-Journal des Montags: 7. Juni 2010. Was mir in Gütersloh geschah, und wie. Aus einem Apfelfaß im Holiday Inn.

10.37 Uhr:
[Holyday Inn Express, Gütersloh. Zimmer 128. Latte Macchiato.]
Wie ich denn, liebe Leserinnen, >>>> aus der Putzkammer heraus- und, dann o h n e den Profi, in einer Stauhöllenfahrt von Berlin hierher dann d o c h noch gekommen bin, dies zu erzählen, bleibt, denke ich, jetzt keine Zeit… oder doch… denn, müssen Sie wissen, ich saß in dieser Kammer geschlagene anderthalb Stunden fest, immer lauschend, immer den Atem haltend, daß mich keiner höre… es gab draußen eilige Schritte, v i e l e eilige Schritte, bisweilen harschten böse Stimmen durchs Amt, die aus den Schritten unwiderleglich militärische Vor-Einsätze machten, kurz: ich mußte einfach ahnen, daß der Profi nicht unrecht gehabt hatte, mich aufs Verstecken einzuschwören. Irgendwas ging vor, das nach Alarm klang. Einmal glaubte ich sogar, an ihrem typischen Woolworth-Schritt nämlich, Frau Merkel selbst zu erkennen, die meine Kammer, die ich besser ein Apfelfaß nennte, um das herum die Piraten sich ungeduldig fläzten, um ihre Meuterei weniger zu planen, als eben genau das Gegenteil zu tun, nachdem ihnen vermittels Herrn Köhlers Rücktritt schon ein solcher Terraingewinn gelungen… die also Frau Merkel, mußte ich ahnen, zur Wand einer Verschwörung diente, so daß die Piraten tatsächlich nur auf einer Seite des Fasses lungerten: Parlamentäre, Geheimdienstler, Diözesler … aber Sie kennen ja die Geschichte: wie Angela Silver ihre Korsaren oder, im Staatsdienst, Freibeuter, die man besser nicht mit Schweizerkrachern noch -garden verwechsle, kräftigst auf Disziplin zurückgeschworen; viele unterschätzen, noch immer, dieser Frau, deren Schlußverkaufs-Tüten voller C&A allein der Tarnung dienen, so, wie das konziliante Lächeln, der gezogene Dreispitz des Einbeins und seine vollendet spätfeudale Höflichkeit Trelawney täuschte, selbst Dr. Livesey und uns Hawkinse sowieso… aber das, alles und vielleicht, dann später. Nur, daß mit einem Mal Schweigen ins Kanzleramt kehrte, als hätte jemand hindurchgefegt, dann riß sich die Tür meines Apfelfasses auf, der Profi rief „Schnell jetzt!” und riß mich heraus. „Und still!” Wir hasteten durch die Gänge, ich erwischte durch ein Fenster den Blick auf die vatikanischen Gärten, dann schlagwechselte die Szenerie in den Realismus zurück: Eis hörte man, wie es geleckt, Kameras hörte man, wie sie gezückt, aber das war der normale Touristenbetrieb jenseits der hellen hohen Mauer, darunter in den Gang und zum Auto und weg.
„Ich kann nicht mitkommen”, sagte der Profi.
Ich schwieg.
„Ich besorge dir einen Fahrer, Dienstwagen, du verstehst?”
Kein Wort. Aber was schon hätte Verständnis geändert?
So kam ich auf die Autobahn. Was noch nicht stimmt. Woran mein Fahrer keine Schuld hatte. Ich dachte nur: Also wenn schon so ein schwarzer Mafiawagen, weshalb nicht gleich einen Helikopter? Da wäre doch alles im Nu zu schaffen gewesen! Ein Dichter, außerdem, der mit einem Hubschrauber eingeflogen wird, würde selbst in Gütersloh zur Legende. Allein, auf diesen Gedanken kam ich viel zu spät. Denn wir, im Wortsinn: saßen bereits im Stau… dem ersten einer unablässigen Kette von Staus, die mein Fahrer, ein kurzgewachsener hagerer Mann mit dem Lächeln eines Nagels aus Nickel, zwar einmal mit einigem Geschick umfuhr… dennoch kamen wir zu spät, dennoch betrat ich das kleine Theater erst eine Sekunde vor Beginn der Pause und bekam gerade noch die letzten beiden Undinesätze des Monologes mit. Aber noch saßen wir im ersten Stau, nämlich in Tempelhof, immer noch. Dann der zweite auf der Stadtautobahn. Dann der dritte vor Braunschweig, was den Nickel veranlaßte, der Autobahn, indem er furchtbar Gas auf der Standspur gab, zu, gleichsam, enthüpfen, um mich eine Reise in meine Vergangenheit, landschaftlich gesehen, unternehmen zu lassen; ich erkannte sogar die Straße wieder, auf der ich oft mit Freunden, da war ich sechzehn gewesen, radfahrend gesonntagsausflugt war. Den nächsten Stau, knapp hinter Hannover, durchlebten wir, bereits erschöpft. Aber die Sonne schien prall auf das Schwarz. Den wiedernächsten, nämlich vierten oder schon fünften Stau umfuhren wir wieder… jedenfalls versuchten wir das ebenso wie ungefähr 52337 andere Wagen, mit einem Ergebnis, das sie sich nur dann vorstellen können, wenn Sie wissen, was single track bedeutet. Fröhlich kamen uns Traktoren entgegen und schwangen jubelnd ihre Kipper. Auch dies war Lebensabschnittsheimkehr: Welch ein Duft von den Weizenfeldern, welch ein Duft von den höhergelegenen Höfen des westfälischen Friedens aus Hügel-, Wald- und Flüßchenland! Ein Storch flog gestreckt, eine Amsel saß im Roggen, ich sah sie hineinfallen, ja konnte sogar, um mir die Füße zu vertreten, eine halbe Stunde neben dem armen Nickel, der am Steuer sitzen mußte, einher- und meiner Lust wandeln. Wie Eichendorffs Taugenichts kam ich mir vor, was ich ja, ohne Eichendorff, b i n. Sie sehen, es war viel Zeit für Besinnng. Immerhin diente mein Iphonchen. Der Herr Hein aus Gütersloh, der wirklich besorgt und sorgend, dann auch bis in die späteste Nacht freigebig, war, rief und rief an, und ich war nicht nervös, dachte nur Insch’allah und dachte, daß Wagner seinen Tristan aufgeführt niemals gesehen. Außerdem wußte ich Aikmaier im Publikum, der tatsächlich noch gestern nacht, sah ich eben, >>>> eine Kritik der Uraufführung geschrieben, so daß ich selbst kaum mehr etwas sagen muß. Die anderen Kritiken werden morgen erscheinen.
Aber ich hatte solche Not! Allein, wenn ich jetzt noch den Dritten Akt mitbekäme und man holte mich zum Applaus mit auf die Bühne, was unweigerlich geschähe und geschah, also sofern ich denn wider alle Wahrscheinlichkeit jemals ankam: – wie sollte ich mich dann da verhalten? Ist man glücklich, nimmt man Undinen doch wenigstens in die Arme, wenn nicht gar ihren Kopf an die Brust… – wie aber, da ich doch gar nicht wüßte?
Aikmaier erlöste mich.
Also ich kam zur Pause, kurzkurzkurz davor, in den Saal, „ich kann ja die Schwestern verstehen”, Applaus, Licht, immerhin: Applaus… und was für einer! Also s o gesehen, schien es bislang gut gelaufen zu sein. Ich sah Aikmaier im Rücken, bin auf diesen Rücken zu, ich grüßte nicht, nein sagte: „Wie ist es?” Er erhob sich sofort, nahm mich am Arm, „laß uns eine Zigarette rauchen draußen”. Und dort: „Du kannst beruhigt sein.” Da fielen mir fünf Steine vom Steinherz und Andersens Splitter zog sich heraus. Ich erlauschte Gespräche im Publikum, das an der Theke anstand, ich erspitzte Diskussionen im Gang.
Mein Fahrer war gefahren, ich sähe ihn wieder morgen früh. Er fragte mich, wo denn das Rotlicht in Gütersloh sei. Konnte ich nachvollziehen, wohin es ihn trieb, aber konnte freilich nicht helfen. „Geht das bei Ihnen auf Spesen?” aber wollte ich wissen. Er nickelte diskret und entnickte. Welch ein beneidenswerter Mann. Unsereins muß immer zahlen.
GONG.
Wir nahmen wieder Platz, ich direkt hinter Aikmaier und seiner Frau Mutter. Dort lag auf einem Platz nämlich ein HERBST: also als reserviert-Papier. Das ich faltete, aus Eitelkeitsgründen. Bei mir daheim werde ich es zur Hängung bringen, nachdem es gerahmt ist. Zur Aufführung selbst, wie gesagt, sag ich nichts: Sie nähmen es mir eh nicht ab, sondern all meine Lobsters riefen aus und hielten Eldermanns Zehen: „Selbstlob! Selbstlob!” Nein, auf diese Schippe spring ich nicht. Aber ich darf sagen, daß ich mich freute, ja einmal sogar, nur kurz, ich drückte das weg, liefen mir Tränen. Das ist so, wenn man seine seit fünfzehn Jahren verschollenen Töchter plötzlich wiedersieht und sieht, daß sie l e b e n. Deren höchstgewachsene, schließlich, nahm ich dann doch in den Arm, nachdem mich eine Nymphe, die auch real eine ist, an der Hand genommen und auf die Bühne geführet und auch ich einen Applaus abbekommen. Eigentlich bin ich für sowas nicht gemacht; ich bin zu arrogant, hab immer einen Stock durchs Rückgrat gesteckt, der mir versagt, mich zu verbeugen: ich krieg’s nur, sozusagen, militärisch hin, so daß wir uns abermals im Kanzleramt befänden, führte ich dies weiter aus.

Dann haben wir gesoffen. Das ist das Wort. Das ist nicht nur das Wort, nein, auch das, was heute morgen, da ich derzeit aus ungefähr 53 % Penicillin bestehe, die übrigen, sofern ich richtig rechne, 47 % nicht in die Knie, doch in die Dauerhocke gehen ließ; immerhin im richtigen Raum, der von jenem im Kanzleramt nicht völlig verschieden. Ich habe aber nichts verschmutzt. Das ist nicht übertrieben. Als ich dann, sehr dehydriert bei nahezu gleichzeitiger Gegennahme zweier Immodien, eines Paracetamols und eines nächsten Pn’s (Penicillins), in den durchweg entvölkerten, weil zwar großen und sauberen, doch eben fast völlig leeren Frühstücksraum trat, saß da schon dieses Fast und mampfte solche Mengen Wurst in sich rein, daß ich mich fragte, wie dieser Fahrer es bloß hinbekam, derart metallisch zu wirken. „Gutes Rotlicht”, sagte er, als ich mich zu ihm setzte. Okay, vorher hat er „Guten Morgen” gesagt; Staatsangestellte wissen, was sich gehört. Dann musterte er mich, klappte mit dem Kopf, das hatte etwas von Mitleid, und fügte in seinem elaborierten Code hinzu: „SolltenSe auch machen.” „Auch? Was denn?” „Rotlicht”, sagte er. „Is wirklich gutes Rotlicht.” „Ich bin nicht gefestigt genug”, sagte ich, „ich bin heute morgen labil.” Womit ich meinen Stoffwechsel meinte. „Rotlicht firmt”, sagte er zu meinem Erstaunen, „das ist eine katholische Gegend.” „Sie sind Katholik?” Er nickte. „Ministrant”, sagte er, „war ich mal. Deshalb kenn ich mich aus.” „CDU?” fragte ich. Er schüttelte den Kopf. „Wenn einer meinen Beruf hat, sollte er keiner Partei angehören, sonst geht das nicht als Lebensstellung.”
Er begann, mich zu interessieren. Doch ich wollte an den Schreibtisch, ich wollte mein Arbeitsjournal schreiben. Und dann geht es ja schon in die Buchhandlung. Signierstunde ist. Und abend, 18.30 Uhr, treff ich Undine, treff ich die Nymphe und Salomon Neumann, um noch ein paar Details des Stücks durchzugehen. Um 20 Uhr dann >>>> die Lesung. Und danach, geehrte Leserinnen, gleich wieder in diesen riesigen BMW, der meiner Erinnerung momentan wie eine karosseriegewordene Totenkopfmotte vorkommt, in die man hineinsteigen kann und in der es so weich ist wie außen Samt, bestäubter, jeder Flügel.

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