Gurre beginnt: Arbeitsjournal. Montag, der 17. Mai 2010. Vor dem Konzerthaus. Berlin.

5.07 Uhr:
[Am Terrarium.]
G u r r e beginnt. Die wilde Jagd. Aber ich schlief tief, ich hörte sie nicht. Das wird sich in den nächsten Wochen ändern: Wir werden sie da dauernd hören. Ich muß die Stelle aus dem >>>> Wolpertingerroman heraussuchen, mit der ich die Probenarbeit einleiten will. Dr. Lipom war der erste, der mir in meinem eigenen Leben von der Wilden Jagd sprach: Elberich Lipom, der Assistent Gottfried Benns. Wie gerne hätte ich seinerzeit, in einer etwaigen Verfilmung meines Buches, den alten, den fetten Brando in dieser Rolle gesehen! Ich hatte sogar einen Brief an diesen geschrieben, aber habe ihn niemals abgesandt.

Alles schläft noch. Die Kleinen beginnen durchzuschlafen. Ich hatte zur Gutenacht das Köpfchen des Zwillingsbübleins in meiner rechten Handfläche liegen; es ließ das so zu. Mein „Großer” hat gebeten, ihn mit seinem Kakao um sechs Uhr zu wecken, weil er morgens noch lesen wolle: a u c h neu. In seinen selbstgetackerten Skizzenblock hat er gestern Kristalle abgezeichnet. Wenn er zur Schule losgezogen sein wird, mach ich die Kleinen für Barenboims Kindergarten fertig, bringe sie hin mit der UBahn, komme zurück mit der UBahn, muß dann duschen und in die Arbeitswohnung hinüber, mit dem Rad um halb eins ins Konzerthaus, mit dem Rad um drei Uhr zurück, fast dann gleich wieder zur UBahn, die Kleinen wieder abholen, wieder herbringen; die Abendproben werde ich kinderhalber heute verpassen… aber nein, von der Vorprobe „Blech” bekomme ich d o c h etwas mit, muß aber dann aufs Fahrrad verzichten, was mich immer etwas lähmt. Aber ich kann gut bis 16.45 Uhr dabeisein, dann zum Kindergarten, dann… Okay okay, eine Tageskarte der BVG.; man sollte mir die sponsorn.

6.01 Uhr:
Meinen Sohn geweckt, ihm den Kakao auf sein Bett hochgereicht, die Tür seines Zimmers wieder geschlossen, zurück an mein provisorisches Scheibtischchen, das ich direkt neben dem Terrarium vor der Couch aufgebaut, wie ein Lager aufgeschlagen habe. GURRE 1 vorbereitet, ich brauche noch zwei Bildchen. Für Zitate habe ich mich für die Garamond entschieden, um eine nun auch typografische Klammer zu >>>> THETIS Ihnen unterzuschieben. Sie entspricht der Realität – soweit es sich in der Literatur von ihr überhaupt sprechen läßt. Jetzt können Sie mit allem Recht entgegnen, wie es ein Analytiker täte: ‚Beziehungswahn’. Woraufhin ich, streng normativ, sagte: „Literatur, alle, i s t beziehungswahnhaft.” – Ui, und mein Junge kommt hierher ins Zimmer, den Kakao innert dreier Minuten ausgetrunken, und schlüpft in mein noch ungemachtes Bett. Ich werde Musik in diese Wohnung bringen:

[Schönberg, Zweites Streichquartett.]

Und da ist er wieder, dieser Klang.

6.35 Uhr:
D a s konnte ich nun gerade gebrauchen: ich fülle für die erwachten Zwillingskleinen den Kakao in die Fläschchen… da kippt mir eines um, und die ganze Sauce ergießt sich über den Küchenarbeitstisch und läuft sofort auch auf den Boden. Na toll. Aber die Milch, immerhin, reicht für neuen Kakao. Aufwischen, während der aufkocht… Mist Mist Mist. Dann herüber. Die Kinder haben sich nebeneinander unter eine Decke gekuschelt, und der Zehnjahresgroße liest den Dreijahreskleinen vor.

[Keith-Jarrett-Trio, Hamburg 1977.]

7.56 Uhr:
Sò. >>>> Gurre (1) steht drin.

10.50 Uhr:
[Arbeitswohnung. Schönberg, Gurrelieder.]
Latte macchiato, Morgencigarillo.Drei Aufnahmen habe ich von dem Stück: Eliahu Inbals, der beim Konzerthausorchester Berlin >>>> Zagroseks Vorgänger gewesen ist, Abschiedskonzert vom RSO des Hessischen Rundfunks in der Alten Oper vom 25. Mai 1990, einen Mitschnitt unter Abbado aus Wien mit der Lipovsek, und auf Vinyl d i e s e Aufnahme hier, live 1968 in Kopenhagen mitgeschnitten, nicht von mir, logisch, da war ich fünfzehn; vom hohen Knistern abgesehen, der für die US-amerikanischen EMI-Turnabout-Pressungen ziemlich typisch ist, klingt die Platte über Lynn, Accuphase und meine geliebten ProAcs immer noch großartig; dennoch, es wird der Tag kommen, an dem ich mir d o c h noch einen Röhren-Verstärker zulegen werde. Die Doppel-LP dürfte eine Rarität sein unterdessen, möglicherweise lassen sich mit ihr Preise erzielen, zumal es keine, sah ich eben, CD-Kopie von der Aufnahme gibt, so daß ich darauf nicht verlinken kann.
Knapp anderthalb Stunden habe ich jetzt Vorbereitungszeit, bevor ich zu den ersten Proben, mittags der hohen Streicher, nachmittags des schweren Blechs, aufbrechen und >>>> ein nächstes Mal aus dem Konzerhaus Berlin direkt erzählen werde. Ich will noch einmal Hintergründe des Textes von Jens Peter Jacobsen recherchieren, der unter anderem stark auf Rilke und vor allem Stefan George eingewirkt hat, wiewohl er lange Zeit als „Naturalist” rezipiert wurde, was ziemlich falsch gewesen ist, und will die Zusammenhänge mit dem Mythos der Wilden Jagd klarbekommen – es ist doch so lange her, daß sie ein (notwendiges) Motiv >>>> des, NÄMLICH, auf einem Questenberg spielenden Wolpertingerromans geworden war (vom Questenberg erfuhr ich erst, als ich an dem Roman längst schrieb – d i e s e Geschichte ist auch einmal zu erzählen). Immerhin sind mir alle meine damaligen, über zwanzig Jahre zrückliegenden Notate erhalten geblieben – einige aber nur auf Diskette; jetzt macht es sich bezahlt, daß ich ein Diskettenlesegerät aufbewahrt habe. Ich werde in meine Probenberichte aus den Notaten, wahrscheinlich immer mal wieder etwas einstreuen. Für die genaue Sichtung wird mir aber morgen erst Zeit sein.

Es ist Mitternachtszeit
Und unsel’ge Geschlechter
Stehn auf aus vergeßnen, eingesunknen Gräbern.

20.38 Uhr:
[Am Terrarium.]
Den Tag dann bis kurz vor fünf im Großen Saal des Konzerthauses verbracht; das lasen Sie sicher schon >>>> dort. „Hinter den Kulissen” geht es ein wenig weiter; bei Facebook schrieb ich gerade einer Geigerin, die mir dort schrieb: (…) Ach so, ja… ich will w… Mehr anzeigenährend meiner Probenerzählung auch Hintergründe des Stückes miterzählen, auch solche, die man nicht überall liest. Wenn es also Fragen gibt, von wem unter Ihnen auch immer, ich stehe gerne bereit.
An sich brauchte man für solche Stücke eine Art Sinfonie-Regisseur, mindestens Dramaturgen, der eine halbe oder dreiviertel Stunde lang den Musikern, allen, die Geschichte erzählt, und zwar begeistern erzählt und auch und gerade erzählt, welche Rolle das Orchester dabei hat, nicht nur die Solisten. (…)
Eigentlich gehört solch ein Wechsel in die Dschungelkommentare, aber ich kann ja das Wichtigste immer hierherkopieren. In der Tat, ich hielte eine, sagen wir, sinfonische Dramaturgie, die die musikalische Arbeit begleitet, für ausgesprochen fruchtbar – nicht weniger, als Alfred Rollers Arbeit seinerzeit für Mahler, für den er, so kann man das nennen, klangarchitektonisch dachte: je nach dem Konzertsaal, in dem gespielt wurde. Mich hat das schon damals, als ich davon las, überzeugt.
Morgen ist keine Probe. Neben der Überarbeitung der letzten Azred-Geschichte kann ich mich da um die Hintergründe der Gurrelieder kümmern, Ihnen entsprechende Links legen und überdies Eigenes hinzuerzählen.

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