Arbeitsjournal. Donnerstag, der 4. Juni 2009.

10.36 Uhr:
[Arbeitswohnung.]
„Wenn ich morgens ins Netz schaue, und du hast noch kein Arbeitsjournal geschrieben, dann weiß ich immer, daß es dir schlecht geht“, sagte Αναδυομένη, die vorhin kurz hereinschaute, um ihren latte macchiato zu nehmen und sich die entzündeten Stellen anzusehen. In der Tat kein gutes Aufwachen, seit halb fünf lag ich in einem irrsinnigen Schachteltraum, worin ich permanent an dem neuen Arbeitsjournal schrieb, aber es kam darauf an, daß man nicht erfuhr, wo ich es schrieb; mein Aufenthaltsort war unter allen Umständen geheimzuhalten – was in meinem Traum bedeutete, daß man bestimmte Wörter nicht orten durfte; in den Wörtern steckte, so der Traum, die IP eines Sinns, eines Aufbegehrens, einer Revolte, die niederzuschlagen „der Staat“ dabeiwar; ich mußte gewärtig sein, daß ein mobiles Einsatzkommando mir die Tür einschlüge, die MPs im Anschlag, nicht nur im Anschlag, sondern betätigend ratatatatatatata, und ich fiele blutüberströmt durchlöchert zu Boden. Also erfand ich immer ausgefeiltere Volten, Wörter zu verstecken, Begriffe zu verstecken, mich zu verstecken. Und formulierte das parallel in einem Segment der weiterzuschreibenden Kleinen Blogtheorie – nur daß ich, als ich mich endlich aufraffte, begriff, daß nichts, aber auch gar nichts von all dem, was ich dahinfantasiert hatte, sich zur Formulierung eignete. Die reine Psychose, kann man sagen. Wie man bei hohem Fieber halluziniert, alles hat dieses überscharfe Licht, dieses völlig durchsichtige Licht, künstliches Licht wie auf Bildern symbolistischer Malerei. Wie in Trance ging ich zur PAVONI für den latte macchiato, wie in Trance schaltete ich den Laptop ein, und merkte dann erst, weil zu gehen so schwerfiel, daß es die Schmerzen gewesen waren, die diesen Zustand erzeugt hatten. Es ist momentan heftig, das Medikament hat erreicht, was es soll: Entzündungen hervorrufen, die dann den Heilungsprozeß beginnen lassen. Aber es sind sehr viele Entzündungen auf einmal, quasi die ganzen Hoden sind geschwollen, am fiesesten ist es im Schritt. Man geht wie auf Eiern – was eine witzige Formulierung in diesem Zusammenhang ist. Also um es mal s o zu sagen: dieses Zeug wünsch ich meinen Feinden.
Ich mag keine Schmerzmittel, also nehm ich auch keine, sondern schrumple in mich zusammen und starr vor mich hin, bis das vorbei ist; Schmerzmittel sind Kapitulation; ich kapituliere nicht, sondern kämpf das durch: das entspricht mir einfach mehr, als mich sedieren zu lassen. In solchen Situationen werde ich ganz ruhig, ganz still. Zumal zu den gängigen Nebenwirkungen des Medikamentes ein dauerndes Gliederreißen gehört, das ich nun g a r nicht schätze. Αναδυομένη, die Medizinerin ist, sah sich die Bescherung dann an: „Jetzt hörst du mal auf damit, da immer noch diese Creme draufzuschmieren! Laß das erstmal heilen. Cremst du es dennoch ein, bricht alles wieder auf und k a n n nicht heilen. Verdammt noch mal.“ Am Montag setz ich mich wieder zum Hautarzt, der dann aus dem Urlaub zurücksein wird; am Dienstag hab ich eigentlich den OP-Termin, aber so wird er operieren ganz sicher nicht können. Also soll er erstmal gucken.
Gut, ab acht dann >>>> an der nächsten New-York-Tranche gewesen, die ich allerdings gestern schon vorbereitet hatte. Das New-York-Projekt kostet s e h r viel Arbeit, weißGöttin, es bindet immer fast den ganzen Tag. Aber ich bin enorm gespannt, wie sich über die Monate die Zahlen entwickeln werden; genau wird man darüber erst etwas sagen können, wenn der Roman komplett im Netz steht.
Müdigkeit. Hab die Tendenz, mich wieder hinzulegen. Von der Sonntagszeitung kam der Auftrag, >>>> über Niebla zu schreiben; auf die Aufführung morgen abend bin ich s e h r gespannt.

23.51 Uhr:
Nun war ich mal diszipliniert fleißig: Post geöffnet, die seit rund zwei Wochen hier lag. Und sehr belohnt worden dafür. Es lag nämlich auch ein Brief des Finanzamtes da, den ich ziemlich gescheut habe. Aber dann jetzt, Kopf runter, ran. Einkommensteuerbescheid, Umsatzsteuerbescheid. Von der Umsatzsteuer befreit; das ist schon mal Punkt eins. Gut. Und die Einkommensteuer? Also daß ich d a s allein geschafft hab, wobei die Finanzamtsangestellte mir wirklich freundlich unter die Arme griff: 0. Ja, Sie lesen richtig. Einkommensteuer null Euro. Jetzt krieg ich direkt Lust, sofort die Erklärung für 2007 fertigzumachen und abzugeben. Nein nein, nicht gleich, ich halte an mich. Aber doch über den Sommer.
Jedenfalls war ich so weit, daß ich nach der Celloensemble-Probe, als ich um halb 22 Uhr wieder hierwar, zwar erstmal etwas aß, aber mich dann sofort – unter rigider Umgehung des Internets – an diese ganzen Briefe machte, alle alle öffnete, das zu Erledigende in den Hefter fürs zu Erledigende tat und alles übrige – Papier Papier Papier – in seine Ordner tat und sogar abheftete; ich glaub es selber kaum. Jetzt ist der Schreibtisch klar, morgen sind ein paar Briefe zu schreiben, morgen geht es auch mit New York weiter, vielleicht noch etwas zweitem, der Tag klingt positiv aus. Ich trinke zitronigstes Radler. Ich habe mir ins Gewissen reden lassen, es kam ein inniger Brief per mail, der mir Augen öffnete, wo ich immer geneigt bin sie zuzuhalten. Ich antwortete so:(…) Und was meine Haltung “generell” zu so etwas anbelangt, da kommt, ich weiß schon, meine Mutter in mir aber sowas von durch. Sie war ihr Leben lang eisern, erwartete das auch von ihren Kindern, lehnte mich ab, weil ich es n i c h t war. Jetzt stelle ich fest, wie sehr ich’s geworden bin.
Ein “gutes” Bild wirft der Tod meiner Mutter auf sie. Sie wurde im September wegen Osteoropose-Verdachts behandelt, bekam ein Schmerzmittel, auf das sie allergisch reagierte. Der Arzt hatte ihr einen nächsten Termin für ein Vierteljahr nachher gegeben. Sie setzte das Schmerzmittel ab wegen der Allergie, ging aber nicht etwa zum Arzt, nein, sondern wartete den Termin ab. Es hatte keinen Sinn, intervenieren zu wollen, sie war genau so stur wie ich. Als sie sich dann aber überhaupt nicht mehr bewegen konnte, jeder Schritt muß teuflisch wehgetan haben, sie kam nur noch mit einer Rollstütze vorwärts, die ihr Verwandte schenkten, intervenierte ich d o c h. Und zwar, weil sie zu klagen begann; das kannte ich von ihr nicht. Ich war so alarmiert, daß ich von mir aus, ohne Absprache, den behandlenden Arzt anrief und eine scharfe Drohung durchschauen ließ. Woraufhin er sich unmittelbar ins Auto setzte. Einen Tag später war meine Mutter im Krankenhaus. Ein Viertel Becken hatte sich bereits völlig zersetzt, man legte eine Drainage, die Substanz floß tagelang aus. Die Diagnose wurde eine andere: k e i n e Osteoropose, es war eine Fehldiagnose gewesen. Sondern Knochenkrebs: Meine Mutter hatte die Zersetzung völlig ohne Schmerzmittel ausgehalten. Sie starb anderthalb Monate später.
Ich habe mehr von ihr abgekriegt, als ich je gewollt habe. Danke für Ihren Brief, solche Einwürfe machen mir das deutlich.
Also nahm ich ein Iboprofen. Und gehe jetzt schlafen. Gut früh. Da werd ich frisch sein morgen.

Ach so, in dem Brief, den ich erhielt, findet sich die folgende wirklich grandiose Formulierung, ich habe sowas von auflachen müssen:(…) sich selbst schädigendes Verhalten wird mit Fürsorglichkeit bestraft, und da sie an Frauen sicher nichts mehr verabscheuen als das, wird es Sie ganz schnell dazu bringen, damit aufzuhörenTouchée, Mme!

4 thoughts on “Arbeitsjournal. Donnerstag, der 4. Juni 2009.

  1. Niebla,

    das ist ein Stoff, wie für uns geschaffen.

    Gute Besserung und denken Sie ans Schmerzgedächtnis,
    manchmal können Pillen auch hilfreich sein.

  2. “in den Wörtern steckte die IP eines Sinns” – das ist als Metapher grandios, gerade weil man durch das Bild eigentlich nicht ganz durchsteigt und es einem dennoch irgendwie einleuchtet, dass Sinne dynamische IP-Adressen an Wörter vergeben, oder andersrum? Egal: tolle Formulierung.

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