Arbeitsjournal. Mittwoch, der 10. Juni 2009.

6.25 Uhr:
[Arbeitsjournal. Tschaikowski b-moll.]
Du bist krank, jedenfalls hast Du einen ziemlich schweren, schmerzhaften Husten; so habe ich die Tendenz, Dich heute nicht in die Schule zu lassen; Du kannst Dich, wenn ich sie für Dich vorbereitet habe, auf die Couch legen und Dich dort gesunddämmern. Es wird aber schwierig sein, Dich über den ganzen Tag im Bett zu halten. Hm. Du selber bist unschlüssig, ob zur Schule gehen, ob nicht. —

8.02 Uhr:
[Martinu, Doppelkonzert.]
Und dann kam alles w i e d e r anders. War eben mit Dir in der Schule, brachte Dich hin. Also wir überlegen, ob es nicht besser ist, wenn Du Zuhause bleibst. „Und das Diktat heute, sagtest Du, schreibt ihr heute n i c h t?“ „Aber wir schreiben Grammatik.“ Da bin ich dann ausgeflippt; im Heft steht nur „Diktat“, nix von Grammatik-Arbeit. „Warum sagst Du mir das denn nicht vorher?“ Ich war wirklich verzweifelt. Wie soll ich mit Dir üben, wie Dich vorbereiten, wenn Du über wichtige Sachen keinen Ton verlierst, auch nicht, wenn man Dich fragt?
Also Zuhause zu bleiben, fiel jetzt aus; aber das war Deine eigene Idee. „Es ist besser, Papa, ich gehe hin.“ „Gut, wir üben jetzt beim Frühstück. Und ich komme mit in die Schule und rede mit Frau Z.: wenn es gar nicht geht, soll sie dich bitte wieder nach Hause schicken und Dich im Zweifel diese Arbeit wieder nachschreiben lassen. Aber sowas darf nicht zur Regel werden, Junior…“
Geben, gab, gegeben; halten, hielt, gehalten; dazu die Wörter mit ie und i: widerstehen/wiederholen usw. Aber es schien zu sitzen, bis auf Kleinigkeiten (unterscheiden, unterschied, unterschieden u.ä.). Wissen, was Präsens, Präteritum, Futur ist. „Was heißt denn Futur auf Deutsch?“ Wußtest Du nicht. „Also: Vergangenheit, Gegenwart….“ „—“ „Was kommt dann?“ Das alles in einer schnellen halben Stunde; dann jeder auf sein Rad. Das Gespräch lief gut; Du schuckeltest mit einem Freund, den wir vor der Schule trafen, etwas später hinterher. „Alles ok, Junior.“ Und die rechten Fäuste an den flachen Fingern gegeneinandergestoßen. Zur Lehrerin: „Wenn es gar nicht geht, bitte schicken Sie ihn heim. Er hat wegen der Husterei wirklich wenig geschlafen.“ „Er kann in den letzten Tagen insgesamt nur schlecht schlafen, hat er beklagt. Wissen Sie, diese Trennung hat ihn um zwei Jahre zurückgeworfen. Es sind die Gedanken. Er steht da und denkt nur.“ Das sagten Sie mir vor zwei Wochen schon einmal. Seither kommst Du mittags gleich nach der Schule zu mir, pausierst ein halbes Stündchen, dann lernen wir eine halbe Stunde, dann die halbe Stunde Cello, dann hast Du alle Zeit, die Du willst bis sieben Uhr abends. Aber es reicht noch nicht. Es ist auch diese Spaltung des Lebensmittelpunktes, es ist ein Unbeheimatetsein, Heimatverlust; und ich k a n n Dir das einzige Zuhause nicht geben, weil ich das Geld nicht habe, um eine größere Wohnung zu finanzieren.
Das geht jetzt in m i r um. Gestern brachtest Du einen neuen Freund mit. „Und wo ist d e i n Zimmer?“ fragte er. Das ging mir durch, ging lange, bis jetzt, nach.

Fahrrad zu fahren, fällt übrigens leichter, als zu Fuß zu gehen. Mit diesen Entzündungen. Sie sind aber auszuhalten, überhaupt ist – imgrunde – alles auszuhalten, was nur einen selbst betrifft.

3 thoughts on “Arbeitsjournal. Mittwoch, der 10. Juni 2009.

  1. Ich nutz mal die Gelegenheit, die Oberlehrerreflexe, die in jedem stecken, für heute auszuleben:

    “Wissen, was Präsenz, Präteritum, Futur ist.”

    Präsens.

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