Der Rosenkavalier. Magdalena Koženás phänomenaler Octavian, unter Simon Rattles Händen, an der Staatsoper Berlin im Schillertheater. Aus Anlaß der Wiederaufnahme nicht nur zu dieser Aufführung einige ausführliche Bemerkungen, nämlich diese Oper insgesamt betreffend. Geschrieben nach dem 21. Dezember 2012 und, mich verneigend, der Fürstin Werdenberg gewidmet.

[Fotografien zur Wiederaufnahme (©): >>>> Monika Rittershaus.
Weitere Fotografien aus den Programmheften und dem Netz, da je mit Nachweis.
Außerdem aus dem Saal: ANH/iPhone.]




Richard Strauss‘ Rosenkavalier ist – Leser:innen Der Dschungel wissen es – Seelenstück für mich. Das macht es, wenn ich eine Inszenierung bespreche, heikel, weil ich jede an einer inneren messe, die sich in mir aus Carlos Kleibers musikalischer Auffassung, Götz Friedrichs ewiger Inszenierung an der Deutschen Oper Berlin, sowie einer Aufführung an der Semperoper aus einer VorZeit synthetisiert hat, in der ich noch keine Musikkritiken schrieb; aber ich habe das Programmbuch noch: es war dort, am 15. März 1992, die 53. Vorstellung seit 1985 in einer auch schon längst gewandelten Inszenierung nach Joachim Herz. Ich archiviere seit den frühen Achtzigern sämtliche Programmhefte und -bücher der von mir besuchten Inszenierungen; allein für den Rosenkavalier ergeben sie, nebeneinander, zwei Handspannen Länge, die, über Wien, eine Landkarte von New York City bis nach Palermo ergibt. So versessen wie auf dieses bin ich, abgesehen vom Tristan und vom Falstaff, auf kein anderes Stück des, nennen wir‘s mal, „bürgerlichen“ Repertoires. Seltener gespielte, mir ebenso wichtige Komponisten, Britten etwa und Schoeck, sowie Dallapiccola, lasse ich bewußt hier aus.
Bereits der Länge dieser Einleitung können Sie entnehmen, wie gefährlich ungerecht meine Meinung im Fall des Rosenkavaliers ausfallen kann; an sich müßte ich befangenheitshalber von öffentlichen Stellungnahmen Abstand nehmen. Andererseits sorgt eben diese Befangenheit, die ich, mir des Kitsches durchaus bewußt, meines Herzens Engagement nennen möchte, für die Glut, die ich auf meine Leser:innen zu übertragen versuche. Je persönlicher, meine ich, eine Rezension ist, desto mehr kann Sie Ihnen geben, gerade auch, weil sie sich ebenso angreifbar macht, gleichsam die Hemdbrust öffnet, wie eine besprochene Aufführung selbst. Eine nahezu jede nämlich, auch wenn sie scheinbar mißlang, ist von leidenschaftlicher Arbeit, der auch Seelenarbeit sämtlicher Beteiligten, geprägt. Die Kritik in ihrer – je schein-objektiver, um so härter – urteilenden Selbstfetischisierung vergißt das allzu oft: der hinauf- oder hinabgestreckte Daumen ist eines der beiden Teufelshörner der Verdinglichung. Ihr zu entgehen, bedarf es ihrerseits eines künstlerischen Prozesses: Die Kritik selbst hat Kunst zu sein, als Teil nämlich des besprochenen Kunstwerks.

Dies also vorweg, hörte ich an der Staatsoper Berlin vorgestern abend die sechzigste Vorstellung seit der von mir ebenfalls besuchten Pemiere des 26. März 1995 – siebzehneinhalb Jahre, also, ist Nicolas Briegers Inszenierung bereits alt; ich habe bereits mehrfach, in Der Dschungel zuletzt >>>> dort, über sie geschrieben und deshalb, bevor ich die Neuaufführung sah, gedacht, daß ich es kurzmachen und allein noch über die Sänger:innen sowie das Dirigat schreiben könne. Das war ein Irrtum. In guten Fällen bedeuten Neuaufnahmen sehr alter Produktionen Reifungsprozesse; bisweilen greifen sie sogar – wenn auch meist in den Details – in die frühen Konzeptionen ein. Mir scheint, dies ist hier in einem besonderen Maß geschehen, ohne, leider, daß mitgeteilt wird, wer die neuen Ideen geliefert. Dabei sind sie frappierend, einige jedenfalls, wie ihre Umsetzung besonders. Deshalb muß ich spekulieren und will das auch tun: daß sich die junge Sophie, als Innenwendung ihres Widerstands gegen das rigide Verheiratetwerden, mit der Schere mehrmals in die Innenhand sticht, etwa, ja, sie hineinbohrt, hat es meiner Erinnerung nach vorher ebenso wenig gegeben, wie den anderen Stich, nunmehr Sophies und Octavians, mit dem nach ihrem ersten Ineinanderblick beider Liebe beginnt – an einem Dorn der überreichten Rose nämlich. Die zwei jungen Menschen lutschen dann am Daumen ihre kleinen Wunden aus, die sie ganz woanders – ja, empfangen haben, muß ich schreiben. Das ist eine in ihrer Feinheit ungeheure Szene, die Briegers politisch orientierte Interpretation in ein geradezu Ewiges transzendiert. Es geschieht ja uns allen, wenn uns >>>> des Furchtbaren tiefst beglückender Pfeil trifft. Gerade daß es diesmal nicht beim Blick-allein bleibt, der >>>> Anagnorisis nämlich, sondern konkretisiert wird, rückt die Personen ins für immer Menschliche. Das ist ein hochparadoxer Vorgang, weil gerade in der Konkretisierung Verallgemeinerung wird, wie sich zugleich der Abstaktionsvorgang, den diese bedeutet, restlos persönlich macht. Das, in der Tat, habe ich in keinem meiner bisherigen Rosenkavaliere gesehen. Wobei ich geneigt bin, die Idee für >>>> Magdalena Koženás zu halten, allein, weil ihre sich radikal identifizierende Schauspielkunst das Wunder hinbekommt, aus einer Hosenrolle tatsächlich einen Jüngling von siebzehn Jahren zu machen, und zwar mit sämtlichen testosteronalen Überschüssen, die so ein junger Mensch hat, allem Pathos, aller Innigkeit, aller Unabgeklärtheit des lebenstürmenden Drangs. Genau das strahlt auch aus ihrem Gesang. Wenn sich dann dieser junge Mann, der doch in Wirklichkeit eine Frau von unterdessen 38 Jahren ist, zur Zofe Mariandl umgezogen hat, bleibt sie auf der Bühne der in einen vielleicht ebenfalls siebzehnjährigen kokotten Backfisch verkleidete siebzehnjährige, teils vom eigenen Witz belustigte, teils aber sichtlich genervter Junge. Koženás derart umfassend gestaltete Unmittelbarkeit fängt aber schon zu Beginn des ersten Aktes an, wenn sich Octavian nach der gemeinsamen Nacht am Boden ausstreckt und in seinen Zehen die erlebte Lust – sie ist aus Wollust und zartester, fast scheuer Verliebtheit gewoben – noch immer nachzuckt. Dieses zusammen mit ihrer stimmlich grandiosen Präsenz macht die Koženás bereits zum zweiten Wunder, das mich diese Staatsopern-Inszenierung hat erleben lassen. Das erste war >>>> Laura Aikins, der seinerzeitigen Premierenbesetzung, Sophie: Sie hob damals den Ton, und mir schossen, ich übertreibe nicht, die Tränen in die Augen.

Da war etwas Himmlisches im Gesang, von dem Hofmannsthals Dichtung auch spricht, von dem aber niemand erwarten kann, daß es sich in dieser Welt jemals realisiere. Ebendas aber, damals, geschah.

Damals stand Aikin eine als Octavian tadellose Iris Verrmillion zur Seite, aber eben keine phänomenale – ganz so tadellos „nur“ wie vorgestern abend Anna Prohaska. Wunder, selbstverständlich, lassen sich nicht einfordern. Zumal liegt wiederum Prohaskas Stärke im Realismus ihrer psychologischen Personenzeichnung. Hier spricht kein Engel durch Sophie, sondern sie ist eine junge Heranwachsende unter der Knute des Patriarchats und will ihre Ansprüche geltend machen, ohne doch zu wissen, wie. Daher die in die eigene Handfläche, ja, ein Cutting, fehlgeleitete Aggression. Nicht durch Sophie also wird das Wunder laut, sondern es erscheint ihr, nämlich in der Gestalt des silberglänzenden quasi Bautwerbers; ihre Jugend kann noch nicht sehen, wie menschlich-einfach auch der ist, ganz wie sie selbst. Der nun nur allzu gern den Retter gibt, kaum weniger anmaßend schon als der Ochs und gradlinig allein aus Gründen seiner Jugend.

Diese dann, Jugend – und notwendigerweise, muß man schreiben -, wird schließlich vor der Marschallin Größe die Knie beugen.
Auch diese freilich lebt in der Ambivalenz des bürgerlichen, bzw. spätfeudalen Vorscheins. Ihre Größe aber ist ihre Haltung, der, eigentlich, Hofmannsthals Lebwohl gilt: Die anbrechende Zeit wird nur noch schachern. Das Geniale an dem Libretto ist, daß der Dichter in Frau v. Werdenberg eine Geschichtsära zugleich mit einer Lebensära enden läßt; in der Marschallin hat, was Niebelschütz, >>>> in wiederum s e i n e m großen Abgesang, Anciennität genannt hat, ein letztes, bei Hofmannsthal viel weniger politisches als intimes Erblühen – Entblühen aber, eben.
Ob sie es weiß? Es gibt Indizien dafür, daß sie es allein für eines ihres Lebensalters hält – was in den meisten Inszenierungen des Stücks dazu führt, daß die Partie zu alt besetzt wird. Tatsächlich befindet sich die Frau ganz im Gegenteil auf der Höhe ihres Geschlechts; von Klimakterium kann, ja darf noch gar keine Rede sein, damit die Figur nicht versehentlich in die Dynamik des Ochs‘ gerückt wird, gleichsam als Beispiel neben ihn gestellt, wie man es „besser“ mache. Darum geht es allenfalls am schwankhaften Rande. Anders als er, der mit seinem Namen schachert, hat sie Lebensgeschichte-selbst im Blick, spürt sie, kann nicht anders, als sich ihr auszusetzen. Das meint vor allem, daß sie der Naivetät nicht mehr entspricht, die sie zugleich vermißt; doch schon am Morgen nach der Liebesnacht begegnet sie ihr mit Form: „Ein jedes Ding hat seine Zeit“, sagt sie zu Octavian und möchte mit ihm frühstücken, der er doch immer nur noch weiter in ihren Leib sich verschwärmen möchte. Genau hier ist die Differenz – genial von Hofmannsthal – schon im Detail erzählt. Die Fürstin Werdenberg ist eine verheiratete Frau, die, bekäme sie welche, Geschenke ihres Liebhabers verstecken müßte und das auch tun würde. Deshalb sieht sie das Ende dieser Affaire schon voraus. Bitter ist das, weil sie selbst verliebt ist, zugleich, und weil die Unbedingtheit ihres jugendlichen Geliebten so süß ist – „süß“ aber auch in einem Sinn, der Frauen eine bestimmte Art Mann süß nennen läßt. Sie streichen ihm beim Küssen zugleich wie Mütter übern Kopf. Womit Frau v. Werdenberg allerdings nicht rechnet, das ist, wie schnell die Trennung dasein wird – die sie doch selbst herbeiführt. Schließlich schickt sie selbst den Jungen als Rosenkavalier zur Sophie; es wäre dafür keine Not gewesen, ja, s i e – wer anders sonst? – gibt auf die künstliche Rose noch diesen Tropfen Öls, der Aikin ihre engelischen Höhen erreichen ließ und auch von Prohaska, selbstverständlich, bemerkt, aber von ihr schon mit einer noch unbewußten Skepsis besungen wird, die ihrer eigenen Reifung die Marschallin vorausnimmt.

Das wirkt bisweilen, und zwar zu recht, zickig – nämlich, ohne schon die Größe eines fraulichen Empörtseins über das zu haben, was man ihr als Heiligen Stand der Ehe aufheucheln will. Noch begreift sie nicht recht, daß der eigene Vater sie aus Aufsteigergründen grob auf den Markt stellt. An Aikins Sophie wäre das damals, nachdem sie Octavian gesehen, auch gar nicht mehr herangegangen – weshalb sie dem Rosenöl-selbst Stimme geben konnte. Prohaska hingegen gibt sie ihrer Wahrnehmung des Rosenöls. Das ist, wie fein auch immer, ein Unterschied von Dimensionen, der ganze Inszenierungen bestimmen und auch umwerfen kann. Ein Regisseur, und sei er noch so eingriffslustig, kann da nur kapitulieren.
Vor der Erscheinung aber auch. Was ein wenig der Dorothea Röschmanns Marschallin Problem ist, zugleich aber auch eine mich fast überraschende Stärke. Zwar, sie hat nicht den stupenden Eros der Würde Karen Armstrongs

,
wenn auch sie eigentlich für diese Partie schließlich zu alt gewesen ist, und schon gar nicht den zum Niedersinken anbetungswürdigen der Gwyneth Jones‘, 1976 bei >>>> Carlos Kleiber und Otto Schenk:

Jones, zusammen mit Elisabeth Schwarzkopf

war wohl die ideale Marschallin, an der sich alle späteren Interrpretinnen, so ungerecht das auch ist, messen lassen müssen. Was Dorothea Röschmann dem hinzugibt, ist paradoxerweise etwas, das Hofmannsthal von der Würde gerade bedecken lassen will: den Schmerz. Bei dem Dichter soll er allein über die Form spürbar werden, mit der die große Frau ihm begegnet. Röschmann statt dessen – die seinerzeit, in der ersten Aufführungsserie mit der Aikin-vom-Himmel, die kleine Rolle der Modistin sang – nimmt sie, die Form, zurück, die ja Vermittlung immer auch ist, und gibt dem Schmerz einen geradezu direkten Ausdruck, sowohl schon im ersten Aufzug wie vor allem, wo sie einmal sogar die Fasson ihres Gehens verliert, im dritten. Indem sie mehr von sich zeigt, als ihr die Anciennität eigentlich verstattet, und indem man dies mit den Marschallinnen der Armstrong, Jones und Schwarzkopf sieht, wird ihrerseits die vorgezogene Abgeklärtheit zurück in den Schmerz genommen, die diese Frau über die angeblich schon nahende Zeit des Älterwerdens vielleicht ein bißchen zu weise sagen läßt:Allein man muß sich auch vor ihr nicht fürchten.
Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters,
der uns alle geschaffen hat.

„Älter werden“ ist freilich höchst relativ; für die meisten Frauen meines Umgangs wurde, ihrem Vernehmen nach, die Jahreszahl dreißig als entscheidend empfunden; eben das, meine ich, wäre bei poetisch wahrer Besetzung mitzubeachten. Es geht um den Abschied von der Naivetät, will sagen: von der Jugendlichkeit, viel mehr, als tatsächlich ums Altwerden: Kurz holt Röschmann im ersten Aufzug die ihr selbst einst überbrachte Brautwerber-Rose hervor und tut sie aber schnell wieder weg, tut also das Mädchen wieder weg, das sie einmal gewesen. Was wir hier spannenderweise erleben, ist nicht etwa ein Reifungsprozeß des jungen Octavians oder des noch-Mädchens Sophie, sondern eben der Marschallin. Indem sie sich jetzt als alte Marschallin imaginiert, balanciert sie in sich das Mädchen, das sie eben auch noch ist – „Wo ich doch immer die gleiche bin“ -, mit der reifen Frau aus. Genau das ist der Prozeß, an dem uns Hofmannsthal und Strauss teilhaben lassen. Weil das tatsächlich zutiefst intim ist, braucht die Marschallin die Würde. Da ist es mehr als gewagt, ihren Schmerz allzu sehr auszustellen, zumal im dritten, dem ab seiner zweiten Hälfte höchst öffentliche Aufzug. Daß Röschmann der Konventions-Verstoß dennoch wirklich gelingt, ist um so mehr eine staunenmachende Leistung, als ihre äußere Erscheinung der Jones‘ und Schwartzkopf Schönheit, vor der man sowieso nur verstummt, eben nicht hat – ein um so größeres Handicap, als Joachim Herzogs Kostüme den untergehenden Adelsstand verpopanzen wollen. Um eben das zu vermeiden, hat seinerzeit Götz Friedrich nicht, wie mit Carlos Kleiber auch Otto Schenk, historisierend das Rokoko, sondern die Zwanziger/Dreißiger Jahre ins Interieur inszenieren lassen:

Obwohl auch das historisiert und seinerzeit zu einigem Widerspruch geführt hat, hob es das Geschehen in die Zeitlosigkeit und konzentrierte den Blick auf die Marschallin selbst, indessen Briegers Blick kritisch politisieren will. Das historisiert die Inszenierung nun aber erst recht, nämlich auf die politische Machtübernahme durch den Aufsteiger-Kapitalismus, dem jeder Preis, auch der der eigenen Tochter, recht ist, wenn das Geschäft reüssiert. Röschmanns Schmerzbetonung nimmt diesen Aussagewille, siebzehn Jahre später, wieder zurück, quasi, als wollte sie uns zeigen, worum es im Rosenkavalier denn eigentlich gehe. Denn welche Erkenntnis, die wir nicht ohnedies schon hätten, haben wir von >>>> Briegers Lehrstückansatz? Ich mag meinen Einwand nicht wiederholen, der Link mag genügen. Die Sängerinnen der Aufführung des 23. Dezembers, die der wiederneue Anlaß dieser Überlegungen sind, kritisierten ihn sowieso besser als ich: sinnlicher nämlich und eben darum „wahrer“. Die Sängerinnen, das muß betont sein. Denn Jürgen Linns Ochs hatte durchaus Schwierigkeiten, sich gegen die stimmlich massive Strahlkraft all dieser Frauen durchzusetzen; schon das ließ die Figur sich in ihrer lächerlichen Selbstüberhebung völlig verlieren; daß Linn seine Partie gerne ‚weanert‘, was zu der Partie auch paßt, machte es ihm dabei nicht leichter. Hinzu kommt, daß der Ochs für den jungen Octavian gar nicht wirklich Gegner sein kein, was abermals nichts mit dem Alter, sondern alleine mit Haltungen zu tun hat; der >>>> Graf Mandryka, wiewohl im etwa selben Alter, wäre als Mitwerber von einem durchaus anderen Kaliber gewesen. Der freilich hatte das Glück, in der blutjungen Arabella einer Sophie zu begegnen, die in der Seele bereits Marschallin w a r. – Ochsens Grobschlächtigkeit jedenfalls ist bei Hofmannsthal/Strauss ein sehr bewußt gesetzter Kontrepart zu den Frauen; kommt er nicht in gleich stimmlichem Maß durch, gerät die Balance dieser Oper ins Wanken. Interessant war in dieser Aufführung, wie dadurch der reiche Emporkömmling Faninal betont wurde, den Michael Kraus stimmlich mit geradezu Männlichkeit füllte, so daß man sich fragte, was der berechnende Mann eigentlich von dem Ochs noch will, wenn doch der sehr viel handlichere, weil zukunftsträchigere Octavian zur Verfügung steht. Damit die Psychologie der Oper stimmt, muß sich Faninal dem Ochs unterlegen fühlen. Überstrahlt er ihn, ist ihm das kaufmännische Kalkül, das die Nobilitierung seines Vermögens betreibt, nicht mehr wirklich abzunehmen. Da wird die wie auch immer durchschaubare Aufsteiger-Pfiffigkeit des vorausbilanzierenden Kaufmanns, die ihren ökonomischen Wert sehr wohl kennt, zur domestiken Unterwürfigkeit eines Lakaien, dem keiner mehr abnehmen kann, daß er die kommende Weltordnung repräsentiert. Ebenso wenig akzeptabel wären für einen solchen Mann die Übergriffigkeiten der lerchenauerschen Dienerschar, die Brieger nicht nur jeden erdenklichen Unfug in Faninals Haus anstellen läßt; nein, die dürfen auch unwidersprochen eine Hausarbeiterin nackt auf die Bühne scheuchen und im Entrée wohl auch vergewaltigen. Das ist in Briegers Inszenierung von Anfang an mehr als ein nur läßliches Ärgernis gewesen, vielmehr ein strohdummer Macho-Unfug, der die vielen Jahre leider überlebt hat, ohne daß ihn zumindest männliches Erregtsein begründen würde. Tatsächlich ist er pur ideologisch gemeint: So schlimm hat es der Adel getrieben, jajaja, so rechtlos war das Gesinde. Daß es gerade im Rosenkavalier auch um die gesellschaftliche Konvention geht, verliert solche Agitation aus den Augen. Wenig glaubhaft überdies, daß sich der Ochs, er selbst, von seinen Dienern sowas bieten ließe. Er mag vertraut mit ihnen sein; Kumpel aber sind sie ihm nicht, dessen verblasene Eitelkeit sich auf nichts so viel einbildet wie auf seine Herkunft. Sein Dünkel mag grob ungeschlacht sein, ist aber immer noch Herablassung. Genau daran will ihn die Marschallin schließlich auch fassen:Er ist, mein ich, ein Kavalier? Da wird Er sich halt gar
nichts denken.
Das ist, was ich von Ihm erwart.

Und ist gleich um so fassungsloser, daß er den Verzicht nicht begreift, seinen, der zu leisten wäre, wie den ihren, der geleistet i s t. Wunderbar, wie da die Röschmann genau das aus sich heraussingt – die verwundetste Marschallin, die ich jemals sah:

Nicht von ungefähr kommt es aber auch, daß direkt davor Ochsens „Weiß bereits nicht, was ich von diesem ganzen qui pro quo mir denken soll“ zu den schönstgesungenen Stellen des Abends gehörte; da wurde Jürgen Linns Baß auf dem Bett der hier freilich parallelgeführten Streicher wirklich einmal weit. Letztlich war insgesamt das Orchester sein Problem
Denn Simon Rattle dirigiert diesen seit Donald Runnicles schon durch viele Hände gegangenen Rosenkavalier gnadenlos sinfonisch, was dem leicht mal zu zuckrigen Schmelz ähnlich gut Pari bietet wie einst Kleibers klangexzentrisches Modellieren oder Karajans stark forcierte Tempi taten; besonders hebt er, Rattle, einzelne Orchesterfarben, ja Instrumente hervor, gestaltet das dankenswerterweise nicht von quatschigen Pantomimen illustrierte, sondern vor herabgelassenem Vorhang musizierte Vorspiel des dritten Aufzugs wie eine, hinreißend, sinfonische Dichtung. Daß er sich im übrigen seine Sänger:innen wie als ihrerseits auf virtuose Instrumente verläßt, geht indes auf die Textverständlichkeit. Das war nicht nur bei Jürgen Linn ein Problem. Rattle hebt die Sänger:innen nicht, sondern setzt ihre Ebenbürtigkeit mit dem Orchester voraus, obwohl der Komponist selbst geahnt hat, es sei bisweilen moderierend vorzugehen: „ Es ist dem Ermessen des Dirigenten überlassen, an Stellen, wo die vorgeschriebene Streicherbesetzung die Deutlichkeit des auf der Bühne gesprochenen Wortes beeinträchtigt, die Anzahl der spielenden Pults zu ermässigen”, schreibt Strauss eingangs seiner Partitur. Daß dies für ein nicht für Musik, gar für die Aufführung hochraffinierter Kompositionen, sondern fürs Sprechtheater gebautes Haus – die Iterimsheimstatt der Staatsoper – ganz besonders gilt, sei nur nebenbei bemerkt. Denn wir Liebenden wissen ohnedies fast jede Zeile auswendig, und wen diese Oper erstmals wirklich ergreift, wird sie spätestens beim dritten Mal auswendig wissen. Damit das passieren kann, sollte man aber nicht so viel in die Musik hineinquasseln, wie es das ältere Ehepaar rechts neben mir tat. Der Mann fing dann auch noch zu schnarchen an – in der vierten Reihe des wirklich nicht großen Schillertheaters ist das absolut inakzeptabel.
***

Schließlich das große Terzett:

– seltsam gebunden im Tempo plötzlich und saugefährlich, dieses fast largohafte Lento („mäßig“ getragen steht in der Partitur über Takt 285). Momentelang hatte ich den Eindruck, daß die eine Sängerin um Zehntelsekunden auf die andere wartete und spürbar aller drei Ohren auf das Orchester spitzten, wodurch – wie bei manchen Mahler-Einspielungen Bernsteins – sich die Legierung löste; „nicht schleppen“, wollte ich, abermals mit Mahler, flüstern. So auch ging Rattle in das Schlußduett hinüber, was konsequenterweise nicht den Beginn der neuen Liebe betont, den dieses Duett besingt, sondern den Abschied der Marschallin: „So sind sie halt, die jungen Leut“, sagt Faninal, als er an der Marschallin Arm hinaustritt, und sie, nunmehr auch Dorothea Röschmann, kann das berühmteste, heikelste und bedenklichste aller „Jaja“s singen, die jemals zu Ton gebracht worden sind. Sie tut es abermals mit – nun bereits gefaßtem – Schmerz. Wenn dann, zudem, der kleine Diener auf die schließlich geleerte Bühne trippelt, um nach dem Taschentuch zu schauen, das die Marschallin fallenließ, ohne daß es ihr diesmal ein Octavian aufgehoben, geschweige es an sein Herz gesteckt hätte, dann fühlen wir, sehr bald wieder wisse diese große Frau für ihr Tücherl eine nächste Verwendung.

DER ROSENKAVALIER
Oper von Richard Strauss
Dichtung von Hugo v. Hofmannsthal

Inszenierung Nicolas Brieger Bühnenbild Raimund Bauer
Kostüme Joachim Herzog Chöre Frank Flade

Dorothea Röschmann – Jürgen Linn – Magdalena Kožená – Michael Kraus
Anna Prohaska – Carola Höhn – Torsten Hofmann – Anna Lapkovskaja
Tobias Schabel – Torsten Süring – Michael Smallwood – Stephan Rügamer
Narine Yeghiyan – Michael Markfort – Tobias Schabel – Torsten Süring
Mario Klischies
 
Staatsopernchor und Kinderchor der Staatsoper Unter den Linden
Staatskapelle Berlin, Sir Simon Rattle

Keine weitere Vorstellung in dieser Spielzeit.

7 thoughts on “Der Rosenkavalier. Magdalena Koženás phänomenaler Octavian, unter Simon Rattles Händen, an der Staatsoper Berlin im Schillertheater. Aus Anlaß der Wiederaufnahme nicht nur zu dieser Aufführung einige ausführliche Bemerkungen, nämlich diese Oper insgesamt betreffend. Geschrieben nach dem 21. Dezember 2012 und, mich verneigend, der Fürstin Werdenberg gewidmet.

  1. Gänsehaut beim Lesen einer Opernkritik – das hatte ich eben grade zum ersten Mal in meinem Leben, glaube ich. So sehr ist der Rosenkavalier mir ebenfalls Seelen- und Lebensstück, obwohl ich ihn genau noch gar nie live auf einer Bühne gesehen habe, sondern nur von der Platte kenne, vor allem Böhm, Solti und Karajan. Früher liebte ich Soltis Einspielung am meisten, vor allem wegen Regine Crespins ungewöhnlich kristalliner Marschallin, mittlerweile neige ich mehr zum Böhm, wegen des Orchesterklangs letztlich, für welchen mir ein passendes Adjektiv leider abgeht. Carlos Kleibers Version ist mir noch unbekannt, muss sofort her. Ihre Bemerkungen zur Oper waren für mich sehr richtig und erhellend, vor allem auch die Klarstellung, dass der Ochs eben kein bloßer Bauernrüpel ist: “Sein Dünkel mag grob ungeschlacht sein, ist aber immer noch Herablassung. Genau daran will ihn die Marschallin schließlich auch fassen.” Genau so ist es, drum fände ich es eigentlich mal angenehm, den Ochs nicht so sehr weanern zu lassen, ist gerade er doch der einzige Nicht-Wiener in der Oper, der sich wundert: “Was es nicht alles gibt, in dieser Wienerstadt?” — Ach, ich könnte jetzt ewig weiterschreiben und letztlich will ich mich eigentlich bloß in den Arsch beißen, denn ich hatte wirklich, kein Scherz jetzt, mir eine Karte für exakt diese Vorstellung kaufen wollen und es dann schlicht vergessen. Dumm.

    1. Lieber Herr Wolf, mit Ihrem ersten Satz haben Sie mir ein Geschenk gemacht. Wenn ich so etwas erreiche, ist meine poetische Arbeit sinnvoll.
      Die Solti-Aufnahme mit Crespin kenne ich eigenwilligerweise nicht; das mag aber daran liegen, daß ich den Rosenkavalier viel öfter “real” als auf Tonträger gehört habe. Dabei gehörte Solti zu den Lieblingsdirigenten meiner Jugend und frühen Erwachsenenzeit, namentlich Gustav Mahlers wegen; er und ziemlich bald dann John Barbirolli.
      Ja, der Ochs ist objektiv ein Problem; der Schwank sitzt ihm zu nahe im Nacken; es ist einfach furchtbar schwer, die Balance mit dem Stand zu halten; eigentlich geht das nur über die Stimme. Manchmal wünschte ich mir, ihm ein Weniges von Verdis Falstaff mitzugeben, ein bißchen etwas von der Höhe des Tutto nel mondo è burla, das kurz, wenigstens im Selbstwitz, mit der Marschallin gleichziehen würde. Und es juckt mich, kann ich Ihnen versichern, in den Fingern, ihn einmal selbst so zu inszenieren, dem Ulken also nicht auf die Schippe zu springen und ihn trotzdem den überheblich-groben Kerl sein zu lassen, der er nunmal ist. Ihr Argument wegen seines “Weanerns” ist übrigens schlagend. Darauf bin ich selbst gar nicht gekommen. Toll.

      Zur Zauberflöte – ich beziehe mich auf >>> Ihren eigenen Eintrag – empfehle ich Ihnen, obwohl ich das Stück nicht mag, die Aufführung an der Komischen Oper: >>>> Hier meine Kritik dazu. Und ebenfalls an der Komischen Oper gibt es einen mehr als nur sehenswerten Freischütz. Auch über ihn >>>>> habe ich geschrieben; darunter entspann sich ein spannender Streit in den Kommentaren. Den Feischütz an der Staatsoper kenne ich nicht; aber auch er, eigentlich, ist nicht “mein” Stück.

      (Schön, wie Sie von Ihren Kindern schreiben. Es mag sein, daß Väter sich erkennen.)

    2. Danke, Ihre Replik war mir jetzt auch ein kleines Weihnachtsgeschenk. Wenn Väter (oder auch Nicht-Väter natürlich) sich in meinen Texten erkennen, dann ist meine kleine Blogarbeit ja vielleicht auch von irgendeinem Sinn.

      Zauberflöte und Freischütz sind beides auch meine Stücke nicht vollständig, aber es sind wichtige erste Prägungen gewesen für mich, daher völlig vertraute Musik, die ich wegen der sicherlich gegebenen dramaturgischen Schwächen und Widersprüchlichkeiten dennoch nicht preisgeben möchte. Sie sind mir immer noch heilig, auch wenn ich Don Giovanni, Tristan, die Meistersinger, den Rosenkavalier oder Elektra heute objektiv höher schätze. So freue ich mich jetzt total kindlich auf diesen Freischütz, nach 7 Jahren, in denen ich überhaupt kein Opernhaus mehr betreten habe.

      In einen von Ihnen inszenierten Rosenkavalier würde ich aber jederzeit sofort hineingehen, nach der Lektüre des obigen Essays. Man müsste mal ein Jahr veranstalten, in dem alle Schriftsteller eine Oper inszenieren und alle Opernregisseure ein Buch schreiben müssten. Beide könnten dabei etwas nützliches lernen über die Musik des Textes.

    3. Lieber Andreas Wolf, was für eine wundervolle Aufnahme dieser >>>> Solti-Rosenkavalier ist! Die Crespin macht mich völlig benommen. Hier stimmt auch das Gefälle Ochs-Faninal.
      Daß ich diese Einspielung nicht kannte, ist nicht zu fassen. Was bin ich froh, daß Sie mich auf sie hingewiesen haben. Berührend besonders auch Donaths reine Mädchenstimme. Da möcht man glatt selbst ihr zum Schutz beispringen… Die Stimmreinheit ist derjenigen Aikins nahezu gleich.
      Schade ist allein, daß ich die Aufnahme nicht mehr als Vinyl bekommen kann: wenn schon die CDs so klingen, was hätte dann wohl die Tonmeisterkunst aus einer Schallplatte dem strahlenden Samt meiner ProAcs schenken können? Ich hatte schon recht als junger Mann: Solti ist einer der wirklich Großen gewesen.

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