Mit einem quasiTotem. Das Arbeitsjournal des Freitags, dem 29. Juli 2016.

[Arbeitswohnung, 7.01 Uhr
Jarrett, Hymns/Spheres für Orgel (1976)
Zweiter Latte Macchiato
Zweiter Morgencigarillo]

Ich habe das Mozertgeklingelgeklimper über; nach gestern den Schubertliedern läßt es sich nicht mehr anhören; auch Soltis Siegfried von Wagner habe ich schnell wieder weggestellt. Überhaupt muß ich den Arbeitsbereich dringend aufräumen; es stapelt sich vor allem auf dem rechten Arbeitstisch alles durch- und übereinander; selbst auf dem Drucker liegen ungeordnete CD-Türme.

Auf dem großen Mitteltisch liegt das Paket, das am Montag zum Finanzamt geradelt werden wird: Per Boten steht dick drauf.

Was interessiert das die Leser:innen? Auch >>>> diadorim, wie fast alle Leute, „leidet“ unter den Steuererklärungen; deshalb geben die meisten sie um teures Geld ab. Und weshalb überhaupt von Tagesprozessen, die oft banaler Natur sind, erzählen, zumal auf einer Autorensite? Die erste Antwort ist simpel: Weil ich es tue. Ich setze, was nicht üblich ist. Da kann man schon mal einen Punkt machen.
Die zweite Antwort ist komplex, ich habe sie schon oft gegeben: um die Beziehungen zwischen Alltag, Privatem und der „öffentlichen“ Produktion, der künstlerischen Produktivität insgesamt zu protokollieren. Auch, um zu zeigen, was es bedeutet, künstlerisch zu arbeiten, was es zumindest bedeuten kann. Und um – woran ich gewiß immer wieder scheitere – aus den sogenannten Banalitäten schließlich doch eine Poetik zu schlagen oder einen ihrer Teilaspekte, um etwa bei einem mir unangenehmen Geschehen ihm zumindest die Schönheit des Ausdrucks zu verleihen. Damit wehren wir uns. Es ist wie mit den Namen: Kennen wir sie, haben wir das Benamste fast schon in der Übersicht; siehe Jacob und der Löwe bei Th.Mann; nach wie vor eines meiner liebsten Beispiele, ich hab‘s schon oft zitiert, zuletzt wohl in meiner >>>> Laudatio auf Christopher Ecker:

Auch die Tiere schämen sich und kneifen den Schwanz ein, weil wir sie wissen und über ihren Namen befehlen, und die brüllende Gegenwart ihres Einzeltums entkräften, indem wir ihn ihr entgegenhalten.
Seit fünf Uhr auf. Zuerst sämtliche noch nicht gespeicherten Dschungelbeiträge gesichert. Es waren viele. Bevor ich am Dienstag nach Paris fliege(n werde), ist ein allgemeines Backup geraten, auch schon wegen der vielen Informationen, die mir die Contessa für unser Buch geschickt hat. Gestern nacht whatsupte sie ein „Enjoy“, als ich ihr kurz schrieb, ich säße in dieser herrlichen Nacht des Sommerberlins mit Amélie bei einem Wein; freilich waren es mehrere Gläser. „Oh je“, sagte sie, Amélie, als wir wieder vor ihrer Haustür standen, „ich bin vielleicht was von beschickert!“
Meinerseits ich hatte noch keine Lust, die Nacht zu enden, und radelte zu meinem Lieblingslibanesen >>>> Daye, saß dann vor dem Restaurantchen, mampfte einen Schawarma mit sehr viel Hummus und Petersiliensalat und besah mir das Nachtleben, sah ganz bis zur U Eberswalder hinüber und fühlte mich zutiefst metropol. Bekam wieder riesige Lust auf die Béartgedichte, war überhaupt komplett einig mit mir.

Während wir, Amélie und ich, noch plauderten, vor allem über Frauen sprachen und über Männer und wie sie miteinander umgehn, kam eine Email >>>> parallalies herein: >>>> Bruno Lampe sei auf der langen Autostrecke hängengeblieben zwischen Nürnberg und München:

Die Brennerautobahn total voll, Chaos um Innsbruck herum, und dann wie vor drei Jahren schon ein endloser Stau vor der Abzweigung der Autobahn nach Nürnberg, dann auf der Autobahn selbst.Und sein Mobilchen funktioniere nicht… Immerhin habe das Motel Wlan.

Amélie ging für kleine Mädchen.
Ich schrieb kurz ein „Oh weh!“ zurück.
Heute kommt wieder der Mops, bis zum Montagmorgen.

Ich probierte einen ganzen Satz neuer Anzüge aus, alle in schwarz. „Normalerweise“, sagte Amélie, „überlassen die Älteren ihre Anzüge, wenn sie nicht mehr passen, den Jüngeren.“ Die Perserkatze griff die Schnürsenkel >>>> meiner Tangerschuhe an.

So saß ich auf der Danziger und sann. „Wenn wir uns vorstellen, daß bald wieder Herbst ist…“ sagte Amélie.

Als ich die Löwin anrief, schlief sie beinah schon. Deshalb ist mir nicht recht verständlich, wieso ich bereits um Viertel vor fünf wach war. Genau deshalb blieb ich auch liegen noch bis fünf. Dann gab ich‘s auf.
Eine Lesung für Oktober kam herein. Kurz nach Hannover, lesen, zurück nach Berlin, man möchte die Übernachtungskosten sparen. Sprengelmuseum. Da werde ich bis über beide Ohren bereits im Buche der Contessa stecken. (Ich achte auch bei solchen Kleinsätzen auf z.B. Alliterationen, weshalb ich eben das erstgeschriebene „schon“ durch das nun dastehende „bereits“ ersetzt habe, was freilich, des Rhythmus‘ halber, eine andere Wortstellung verlangt, also im Satz. Sogar >>>> in der Steuererklärung habe ich es so gehalten. Es ist geradezu ein Reflex, der sich bei mir übrigens auch auf SMSe erstreckt; z.B. überlege ich stets genau, ob und wann ich eine Zahl numerisch oder als Wort hineintippe.)

Alles ist Rhythmus. (Ich korrigiere: Alles soll bewußter Rhyhmus sein (Wo Es ist, soll Ich werden).)

Auch mein Triskelenring ist nun zurück, für den rechten kleinen Finger korrigiert.

Und der Profi ist zurück, um den es still geworden war. Irgend ein Einsatz, geheim, klar, in wahrscheinlich Mittelafrika; er darf ja drüber nicht sprechen. Aber er hat mir etwas mitgebracht, heikel heikel. Ich bin mir auch nicht sicher, ob ich‘s hier an die Wand hängen darf – erstmal „sowieso“ nicht, zum zweiten ist das Ding reichlich bizarr (womit ich eine Mor[d]bidität meine, die an Totenkulte erinnert); es könnte sein, daß Betrachter sich ekeln, zumindest so erschauern wie ich selbst, als ich‘s in die Hand nahm).

Der Stauferfriedrich ist grad ziemlich weit weg.

Eine schwer devote ehemalige Geliebte schrieb mich, nach Jahren, wieder an und bat um zwei Bücher mit Widmungen. Sie habe die Seite gewechselt, sei nunmehr dominant und habe einen sehr viel jüngeren, so schrieb sie, „Sklaven“. Aber er sei ein Literatur-Maniac und begeistert gebildet. Sie hätte gerne, daß ich ihn kennenlernte. Auch Amélie, übrigens, hat die Seiten gewechselt, jedenfalls in ihrem Neigungsnebenjob. Auch darüber sprachen wir.

Ach, Freundin, was ich alles erfahre! Mein Leben wird nicht lange genug währen, um alles in Dichtung zu verwandeln. Neinnein, keine Sorge, ich leide nicht darunter, stelle es nur fest. Die Welt ist reich. Es b r a u c h t so viele Menschen, wie wir sind, um alles zu genießen. Stellen Sie sich doch nur mal die Gegenden vor, die niemals jemand sehen wird: wie alleine ihre Schönheit vergeht oder in den Weiten des Kosmos verharrt. Und wie viele Musiken gibt es, die wir niemals hören werden, Sie nicht die eine, ich nicht die andre! Wie viele Küsse, die wir niemals empfangen, noch daß wir sie gäben!
Mein Grundimpuls bleibt der Hymnos, bleibt die Lebensjahung, egal durch welche Tiefen ich… gut, „wandle“. Schließlich geht‘s dann doch auf den Läuterungsberg, den Bruno Lampe >>>> damals nicht verlassen wollte, hingegen ich versuche, das Paradies auf ihn, diesen Berg, hinunterzuziehen und vielleicht auch ein wenig von ihm, dem Paradies, den Höllen einzuflößen. Ich habe schon oft meine Ansicht verkündet, daß Kunst insofern pervers sei, als sie selbst und vielleicht sogar grade aus den Schrecken Schönheit zu schlagen versuche. In den größten Werken ist ihr dies auch gelungen. Auch hier sind wir imgrunde bei den „Namen“ – denen im religiösen Verständnis. Wir sehen auf dem Theater, in der Oper, auf der Leinwand ein schreckliches Geschehen. Aber es erfüllt uns. Katharsis. Dies bedeutet nicht, daß wir den Schrecken verleugnen. Es bedeutet „nur“, daß wir ihn uns greifbar machen und deshalb handlungsfähig werden oder bleiben. Es ist geradezu das Gegenteil einer Verleugnung. Wir können nun nämlich hinsehen, müssen uns nicht abwenden, müssen nicht verdrängen.
(Ich komme indirekt auf den Gegenstand zurück, den mir der Profi mitgebracht hat. Wäre ich >>>> Fichte, ich würde ihn in ein Materialbild einmontieren. Er, muß man sagen, schreit danach – und wäre schließlich sehr sehr rot. Schauen Sie sich, Freundin, >>>> meinen Dritten Purgatorio an, unter 18.45 Uhr im Link. So werden Sie zumindest ahnen.

Über Achselhöhlen schrieb ich schon. Und („meist sind sie trocken und kühl“) über schmale Fußsohlen. Auch dies stieg vor Daye neu in mir auf. Mein einst so kleiner Junge dreht sich nun, als junger Mann, Zigaretten. Ich sitze bei ihm, rauche einen Cigarillo. „Nie habe ich von euch gehört, sei spätestens um halb zwölf zuhaus. Ich hab ein solches Glück!“

>>>> Susanne Schleyer arbeitet an einem neuen, einem sehr schönen Projekt; auch darüber will ich nicht detalliert sprechen, noch nicht, wenn auch aus anderen Gründen als bei des Profis Geschenk. Doch hab ich nun frühnachmittags morgen einen Fototermin. Freund M. sei auf dem Land in Schreibklausur.
Und meine quasiFamilie fragt an, wann ich denn wieder Brot backen würde. So habe ich den Lievito madre aufgefrischt. Er wartet nebenan in die Küche:


Jarrett, noch immer, meditiert in Ottobeuren auf Karl Joseph Riepps Barockorgel. Ich werde jetzt den Teigling kneten, der über nacht gekühlt fermentieren soll. Dazu dann, Ewigkeiten nicht mehr gehört!, Jarretts >>>> Arbour Zena, ebenfalls aus 1976 – für mich freilich 1982. Und nach der Kneterei wird der Arbeitsplatz in Ordnung gebracht. Bevor es zum heutigen Sport geht.

Haben Sie, liebste Freundin, einen herrlichen Tag! Ach, wenn Sie h ö r e n könnten, mit welch tiefem Druck meine >>>> ProAcs auf Hadens gezupften Baß reagieren!


Das Arbeitszimmer s c h w i n g t.

Ihr


Unholdwieder einmalchen

3 thoughts on “Mit einem quasiTotem. Das Arbeitsjournal des Freitags, dem 29. Juli 2016.

  1. Hah, der HiFi-Battle ist eröffnet, ich sage ja nur Dynaudio, und dass es gestern doch etwas schmerzte, den Onkyo Verstärker samt Plattenspieler, der 30 Jahre gute Dienste geleistet hat, zu verkaufen, aber der M sagt, Ebay Kleinanzeigen brächte die nettesten Leute zusammen, ein wenig scheint das so, vielleicht ist der Gebrauchtwarenhandel das schlechthin Richtige im Falschen. Und, hast Du gesehen, ich hab über die Tour geschrieben in der taz am Wochenende (Schnee von Gestern schon), die Du noch mal wie bezeichnet hast? Irgendwas mit Verdrängung und libidinös, hat sich der damit damals Angesprochene sehr drüber amüsiert und es nicht mal ganz von der Hand gewiesen. Und es hat mir soooo viel Freude bereitet, dabei wollte ich doch von Rädern nüscht mehr wissen, aber, so is dit, die Menschen sagen so und machen so, auf Menschen is echt kein Verlass mit ihren Hormonen, Träumen und all dem, was nicht Steuererklärung ist, ist es auch nicht so einfach. Vermutlich ist da die Steuererklärung noch denkbar simpel gegen.

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