III, 377 – Hypochondrium

Beschwichtigungsmusik. Gitarre. Bleibt mir doch immer ein liebes Instrument. Nicht unbedingt deshalb, weil ich’s selber mal probiert habe, mir auch etwas Unterricht hatte geben lassen, indes ohne Erfolg, zu spät angefangen (wovon schon neulich einmal die Rede gewesen), und dann kam die Klampfe halt weg. Der konkurrierende Freund war eben nun doch eine paar Klassen besser. Beschwichtigung, weil die letzten Tage als Marathon-Tage bezeichnet werden können.

Sagt’ ich gestern, bis mich Aphasie beschlich. Gar nicht so ungewöhnlich. Denn nach dem am Ende fast uferlosen Versicherungskram hatte ich noch holterdipolter 20 Seiten Gerichtsmedizinisches über einen Fall von multiplem Myelom, was mit 70 durchaus passieren kann (also so spontane Knochenbrüche (hübsche Projektionen!)), aber nicht unbedingt mit 45. Also ein Fall von beruflicher Exposition gegenüber Radiofrequenzstrahlungen. Also so richtig medzinisch mit Ausdrücken aus dem entsprechenden Jargon. Google wirbelte wie verrückt. Pschyrembel mußte wieder hervorgeholt werden. “Organi ipocondriaci”? Hypochondrische Organe (lag irgendwie schon nahe wegen der Projektionen)? Nee, Organe unterm Hypochondrium. Aha.

Und Aha-Erlebnisse lassen einen vorübergehend verstummen. Nein, eher so: Logorrhöen erzeugen zwangsläufig einen aphasischen Afterraum bzw. ein solches Posttrauma. Ich hatte es gelegentlich schon erlebt, etwa nach der einen Bravourleistung, bei der ich an einem Tag 80 Seiten hinunterratterte wie bekloppt. “Du mußt das schaffen, sonst werde ich vertragsbrüchig” und solche Geschichten. “Egal wie, Hauptsache, der Text ist da”. So er, mein Auftraggeber. Ich brachte dann gegen Mitternacht, als ich’s tatsächlich geschafft hatte, kein vernünftiges Wort mehr heraus.

Heute dann ein Arzneimittel zum Senken des Cholesterins. Aber da blieb ich ruhig. Wenigstens noch vor einem Jahr, als man sieben Fläschchen in aller Herrgottsfrüh’ und bei Massenandrang mit meinem Blut abfüllte und es dann untersuchte: Alles normal. Bis auf – ich weiß nicht mehr genau – die weißen oder roten Blutkörperchen. Aber auch nur so eine leichte Diskrepanz. Hippokrates oder Asklepios erwähnte gewisse Nahrungsergänzungsmittel, an deren Namen ich mich auch nicht mehr erinnern kann.

Und überhaupt blicke ich auf ein arztloses Jahr zurück. Meinen Hausarzt sah ich zwar einmal auf der Straße. Aber der schaute so in sich oder in seine Fälle hinein, daß zwar ich ihn sah, aber er micht nicht. Und den Dentisten schieb ich nach vor vor mir her.

Weiterhin Schefer. Gestern und heute die – sagen wir mal – Groteske “Das Volk ohne Magen”. Es verschlägt den Erzähler, den Prinzen Famesco, “Herzog der Zwanzigkreuzer und Gulden, Ducaten und Louisd’or” in die Südsee, es geht ihm darum, überall immer das Beste zu essen, denn Essen ist so ungefähr seine Lebensessenz in einem sehr exponierten Ausmaß. Es fehlt auch nicht an langen Aufzählungen von “Delicen”. Aber: abermaliger Schiffbruch, wie schon bei den “Deportirten”. Wie schon in jener Geschichte verlässt er das Schiff nicht, sieht erst einen Kahn kentern, dann den anderen sich entfernen. Und auch diesmal schließt sich das Leck. Südseeinsel. Schmucke Bucht. Sein Doctor-Koch bereitet ihm Essen am Strand. Einheimische kommen, sehen ihn essen. Und werden feindlich. Denn das Völkchen dort ißt nicht, sondern ist mit dem ganzen Körper Magen.

Dennoch verträgt man sich irgendwie, der Prinz aber wird zum Voressen aufgefordert. Heißt, er verspeist die von seinem Doctor-Koch zubereiteten Schiffsvorräte vor vornehmen Leuten, die ihm dabei zuschauen. Aber die Vorräte gehen zu Ende, und er muß sich in die Gewohnheit der Insel schicken, einmal pro Woche im Wunderflusse Koppo-Poppo-Y zu baden, der den Magenkörper vollends sättigt und labt. Aber dann doch die Erkenntnis, daß ohne Hunger eben keine Kunst und Wissenschaft möglich ist, was verklausuliert in einem Traum auftaucht. Und dann taucht tatsächlich ein Schiff auf: die Leute vom zweiten Kahn, das das Schiff verlassen und deren Insassen mühselig ein neues gezimmert hatten.

Das Ding endet damit, daß vorgerechnet wird, was für Mengen an Speisen einem zu essen im Leben bevorstehen.

Die Zunge ist das Titelblatt des Magens, aber der Magen selbst ist Buch des Lebens, und heißt schon bei dem schwerwandelnden Hornvieh auch wirklich das Buch! Ja schlüßlich machte ich die große Entdeckung, daß der außerordentliche Appetit jede Speise zur außerordentlichen mache! Daß aber Arbeit und frische Luft Vater und Mutter des Appetits sind.

So auf den abschließenden Seiten. Ob es auf mich zutreffen mag, weiß ich nicht. Arbeiten im Riesenkasten, Rauchen im Freien. Contradictio in adiecto. Das ging sogar am heutigen Nachmittag. Denn den gestrigen versaute ein heftiger Gewitterregen, der im nahegelegenen Bahnknotenpunkt Orte gar eine “Wasserbombe” (bei FB gefundenes Filmchen) auslöste mit entsprechender Lahmlegung des Zugverkehrs (wichtiger Bahnhof wegen der vielen Rom-Pendler auch hierorts).

Immerhin gelangte ich heute wieder nach langer Zeit hinunter zum Tor und durch es hinaus, aber nur etwa 20 Meter. Hatte keine Lust auf die Lächelgesichter der neuen Tabaktraffikanten hier oben und kaufte aus einem inneren Protest heraus eine Schachtel in der Tabaccheria schräg gegenüber dem Tor.

Ninno… Noch so ein Kapitel. Vorletzte und vorvorletzte Woche kam er pünktlich am Dienstag mit seiner Damigiana. In der letzten Woche mußte ich ihn am Donnerstag anrufen. Heute ist schon wieder Donnerstag, und er hat mich schon wieder vergessen. Diesmal aber bin ich aus Trotz zum Zanchi-Weinkeller gefahren. Also zweimal zum Tor hinaus. Einmal auf Sohlen, einmal auf Reifen.

Ich glaub’, ich werd’ am End’ mich in der Welt verlieren. Ihr Grün so Mai, so rosenrosa die naß herabhängenden Blüten.

III, 376 – ehe ich ging

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