„Berstend vor kelterreifem Verlangen.“ Nabokov lesen, 35: Das Bastardzeichen. Dazu zwei kleine – von García Márquez und Kubin – Endspielstücke.

 

(…) vom ersten Treppenabsatz warf sie einen Blick zurück; dann enteilte sie aufwärts, ihren Schal mit allen seinen Sternbildern hinter sich herschleifend — Kepheus und Kassiopeia in ihrem immerwährenden Glück und die hellglänzende Träne Kapella und Polaris die Schneeflocke und das grauschimmernde Fell des Großen Bären und die ohnmächtigen Spiralnebel — diese Spiegel der Unendlichkeit qui m’effrayent, Blaise, genau wie dich, und wo Olga nicht ist, aber die Mythologie starke Zirkusnetze spannt, auf daß der Gedanke in seinem schlechtsitzenden Trikot sich nicht den alten Hals breche, statt mit Heidi und Hopsa auf- und abzuschnellen — und dann hinunterzuspringen in das urindurchnäßte Sägemehl, den kurzen Weg zu durchmessen, in der Mitte die halbe Pirouette zu vollführen und mit amphiphorischem Akrobatengruß darzulegen, wie äußerst einfach der Himmel letztlich sei, mit den freimütig geöffneten Händen, die einen knappen Beifallsschauer hervorrufen, indes er zurückgeht, sich wieder in seine Männlichkeit findet und das kleine blaue Taschentuch auffängt, das seine muskulös fliegende Gefährtin nach der eigenen Anstrengung aus ihrem erhitzten wogenden Busen gezogen hat — und ihm zuwirft, damit er seine schmerzenden erschlaffenden Handflächen trockne.
Das Bastardzeichen, S. 73/74
(Dtsch. v. Dieter E. Zimmer)

Hier, in diesem rhythmisch hochgradig hypotaktischen, die Treppe hinaufsteigenden Fluß, ist Nabokov stilistisch ganz bei sich selbst, das heißt: in seiner Figur, dem ohnedies unangepaßten Philosophen Adam Krug, dessen gerade verstorbene Frau Olga im Hinaufschreiten einer fremden jungen Dame kurz in ihm aufsteigt, die, nachdem sie sich aus der Umarmung ihres jungen Freundes gelöst, um dem älteren Mann den Durchgang zu ermöglichen, hinter sich diesen Schal herschleift, einem momenthaft zur Ewigkeit werdenden, in die die Gattin verschwunden. Krugs Schmerz darob wird zu verheißender Mythologie — einer innenleuchtenden Realität neben der äußeren nicht nur profanen, sondern politisch mehr als beklemmenden. Doch findet diese Beklemmung erst ganz zum Schluß des Buches Einlaß in den Mann, der sich der bösen Wirklichkeit gemäß dem ihm eigenen Trotz verweigert hat, dafür nun den gequälten Tod seines kleinen, jetzt mutterlos hinterbliebenen Sohnes hinnehmen muß, was ihn mit Wahnsinn und schließlich dem eigenen Ende bestraft:

In jähen, kräftigen Sprüngen stürzte Krug auf die Mauer zu, wo Paduk, das Gesicht in Angstschweiß gebadet, von seinem Stuhl rutschte und zu verschwinden suchte. Im Hof tobte wilder Tumult. Krug wich der Umarmung eines Gardeoffiziers aus. Dann schien die linke Seite seines Kopfes in Flammen aufzugehen (diese erste Kugel hatte ihm einen Teil des Ohrs weggerissen), doch frohgemut stolperte er weiter (…). Er sah die Kröte [Paduks Spitzname, ANH] am Fuß der Mauer kauern, zittern, zerfließen, schrille Beschwörungen ausstoßen, sein verschwimmendes Gesicht mit einem Arm bedecken, und Krug stürzte auf ihn zu — und den Bruchteil einer Sekunde, bevor eine zweite und besser gezielte Kugel ihn traf, rief er noch einmal: du, du — und die Mauer verschwand wie ein schnell zur Seite geschobenes Diapositiv,

und jetzt kommt eine der für diesen Roman typischen Perspektivwechsel mitten in der Sequenz, ein Sprung ins Innere des Autors-selbst,

und ich reckte mich und erhob mich aus dem Chaos beschriebener und umgearbeiteter Seiten, um nachzusehen, was da plötzlich gegen die Drahtgaze vor meinem Fenster geklirrt war.
Bastardzeichen, S. 272

Es ist ein Nachtfalter, der ungewissermaßen die innere Balance des vom Geschehen beklemmten Schreibenden wiederherstellt, das unbedingte klassizistische Müssen des Ausgewogenseins poetischen Anschauns, um das Barbarische wenigstens in der Erzählung bannen zu können:

Die verschiedenen Bestandteile meiner vergleichsweise paradiesischen Umgebung – die Nachttischlampe, die Schlaftablette, das Glas Milch – blicken mir völlig unterwürfig in die Augen. Ich wußte, daß die Unsterblichkeit, die ich dem armen Kerl [i. e. Adam Krug, ANH] verliehen hatte, ein schlüpfriger Sophismus war, ein Spiel mit Worten. Doch diese letzte Runde seines Lebens war glücklich gewesen, und es war ihm bewiesen worden, daß der Tod lediglich eine Frage des Stils war
Bastardzeichen, S. 273

sowie

eine Frage des Rhythmus.
Bastardzeichen, ebda.

Selten zuvor wurde der Charakter der nabokovschen Poetik so deutlich wie in dieser Passage.

Aber was wird erzählt? — Die U4 meiner rororo-Taschenbuchausgabe vom Februar 1987 stellt es so dar:

Eine blutige Revolution hat die „Kröte“ an die Macht gebracht,

blöder, weil den Textern schlichtweg unterlaufender Reim in dieser Zusammenfassungs“prosa“,

wie der Volksmund den Diktator Paduk nennt, und mit ihm die ‚Partei des Durchschnittsmenschen‘,

über die Enzensberger sich wahrscheinlich → billig freute,

ein ebenso banales wie brutales Gelichter. Mit aller Präzision seines Stils zeigt Nabokov die totalitäre Welt als das, was sie ist: eine ‚bestialische Farce‘, ein Gemisch aus Lächerlichkeit und Grauen. Auch in diesem seinem düstersten Buch erweist sich Nabokov als ein Meister des Grotesken.

In „diesem seinen“ Geplapper ist der Klappentext ein Graus und grotesk im Roman leider gar nichts, vielmehr bitter in gleich mehrfacher Hinsicht, sei’s wegen der tatsächlichen Realität des Nabokov sich zur Vorlage geradezu angeschmissenen Sowjetkommunismus, sei’s wegen des auf hochgebildet-intellektuelle Weise verqueren Trotzes Adam Krugs selbst, der sich der neuen Situation zu stellen sogar gedanklich weigert und meint, vermittels eines deftigen Hohns das Grauen von sich fernhalten zu können. Diese Haltung wird am Ende tragisch, wenn sogar das eigene Kind ihr zum Opfer gebracht wird — nein, nicht willentlich, doch als kollaterale Folge. Was dem Helden erst klar wird, als es zu spät ist.
Die Dynamik ist aber noch komplexer. Denn die „Kröte“, zur Schulzeit, wurde nach Kräften von Krug und seinen Kumpels gequält. Ihre Erhebung über den schwächlichen Jungen, der später zum Diktator aufsteigt (und da immer noch, letztlich, den Zuspruch seines Schulquälers sucht), ist wirklich derart bodenlos, daß der Gedanke sich nicht ganz von der Hand weisen läßt, an Paduks späterer Grausamkeit trage Krug durchaus nicht wenig Mitschuld. Seine, Krugs, gesamte Konstitution ist sogar psychisch die der Überhebung — besonders über geistig, aber auch körperlich Schwächere.
Der Paduk als noch Schulbub galt ihr als hochwillkommenes Futter:

(…) ich pflegte ihm ein Bein zu stellen und mich dann auf sein Gesicht zu setzen — eine Art Sitzkur“(,)
Bastardzeichen, 61,

erklärt er seinen Kollegen, die ihn bedrängen, das Rektorat der neu zu organisierenden, vom Regime noch geschlossenen Universität zu übernehmen, was er erstens keineswegs vorhat und weshalb er zweitens beharrt:

„Fünf Schuljahre lang habe ich Tag für Tag auf seinem Gesicht gesessen (…), das dürfte zusammen ungefähr tausend Sitzungen machen.“
Bastardzeichen, ebda.

Und – noch nachtretend – schränkt er böse ein:

Ich habe doch wirklich nichts Schlimmes gesagt, oder? Ich habe zum Beispiel nicht behauptet, daß heute, nach fünfundzwanzig Jahren, das Gesicht der Kröte immer noch die unverwischbaren Spuren meines Gewichts trägt. Damals war ich zwar schmächtiger als jetzt —“
Bastardzeichen, 61

Daß sich die Machtverhältnisse nun gegen ihn, den gleichsam Gewinner von Geburt (auch im Sport war er ein As) verkehrt haben sollen, da Paduk und seine Kretins den Staat erbarmungslos an Zügeln halten, will ihm nicht in den Kopf. Zugleich allerdings ist er, Krug, mit dem ständigen seelischen Aufwand beschäftigt, den Verlust seiner geliebten Frau sich erträglich zu machen. Das geht mit seinem durchaus begründeten, tatsächlich extremen Selbstwertgefühl die schließlich tragisch endende Allianz ein, das ihn nahezu allen andren Menschen gegenüber so überlegen sein läßt. Zu unrecht mit Recht, muß ich schreiben.
Aber hören Sie, Geliebte, wie der Paduk-als-Junge uns Leserinnen und Lesern vorgestellt wird, körperlich vorgestellt. Es ist dies nicht ohne Infamie, insofern es Paduks infame Idee seiner „Diktatur der Gleichen“ geradezu biologisch, ja physiologisch begründet, als ein gleichsam angeborenes Böses — das sich schon darin habe gezeigt, daß er, Paduk, zu den

saftpupen (Muttersöhnchen) [gehörte], die auf den breiten Fensterbänken hinter dem Garderobenständer dösten, und Paduk (…) aß etwas Süßes und Klebriges, das ihm ein Hausmeister (…) zugesteckt hatte. Wenn es klingelte, wartete Paduk, bis sich der Aufruhr gelegt hatte und die geröteten, schmutzigen Jungen zurück ins Klassenzimmer gestürmt waren, ehe er, eine seiner klebrigen Handflächen tätschelnd auf das Geländer gelegt, verstohlen die Treppe hinaufschlich. Krug, der aufgehalten worden war (…), überholte ihn und zwickte im Vorbeigehen sein  fettes Hinterteil.
Bastardzeichen, S. 80/81

Hören Sie sich jetzt noch die Herkunft des kleinen Jungen an:

(…) Paduks Mutter, eine schlappe, tranige Frau aus der Marsch, war im Kindbett gestorben, und bald darauf hatte der Witwer ein körperbehindertes Mädchen geehelicht (…).
Bastardzeichen, ebda.

Und weiter in des Jungen Beschreibung:

Als Kind hatte Paduk ein teigiges Gesicht und einen grauen, beuligen Schädel (…); außerdem hatte er einen leicht watschelnden Gang und trug Sandalen, die eine Menge bissiger Bemerkungen auf sich zogen. (…) Seine Hände waren ständig klamm. Er sprach seltsam ölig durch die Nase, hatte einen starken nordwestlichen Akzent und die aufreizende Angewohnheit, aus den Namen seiner Klassenkameraden Anagramme zu bilden (…), weil man unablässig im Sinn behalten sollte (…), daß alle Menschen aus den gleichen, nur verschieden gemischten fünfundzwanzig Buchstaben bestehen.
Bastardzeichen, ebda.

Was später die Grundlage seines quasikommunistischen Regimes des „Volkes“ als eines der Immergleichen werden wird. Auch dessen, des Regimes, Gemeinheit sei aber schon im Kind angelegt:

Paduk jedoch war trotz all seiner Verschrobenheiten langweilig, platt und unerträglich gemein. Wenn man es sich jetzt vor Augen führt, kommt man zu dem unerwarteten Schluß, daß er auf dem Gebiet der Gemeinheit geradezu ein Held war

nicht etwa Krug, der den Jungen quälende Mitschüler,

denn jedesmal, wenn er sich etwas Derartiges leistete, muß er gewußt haben, daß er sich wieder auf dem besten Wege zu jenem höllischen physischen Schmerz befand, den seine rachsüchtigen Klassenkameraden ihm unweigerlich zufügten.
Bastardzeichen, S. 80/81

Wobei Nabokov pluralmajestätisch noch hinzufügt, daß „wir uns“ seltsamerweise

eines bestimmten Beispiels seiner Gemeinheit (…) nicht entsinnen können, obwohl wir uns lebhaft daran erinnern, was Paduk als Vergeltung für seine abstrusen Verbrechen auszuhalten hatte.
Bastardzeichen, ebda.

Wenn der ängstliche Bub also „gemein“ war, dann ziemlich sicher aus Notwehr. In jedem Fall war er ein gequältes, gestoßenes Kind, dem, daß er es war, die anderen Kinder nicht nur obendrein zum Vorwurf machten, sondern sie „bestraften“ ihn dafür — der „beethovensche“ („nur daß er intelligenter war“, S. 56) Adam Krug allen voran, dessen tief sitzende Abneigung gegen Schwächere uns Nabokov als seinerseits, krugseitens, Unrecht durchaus bemerken läßt und es uns ganz so leicht nicht macht, uns affirmativ mit dem Mann zu identifizieren. Wir müssen nur genau lesen:

„Das reicht mir jetzt!“ sagte Krug, der plötzlich einen seltsamen Schuß Vulgarität, ja Grausamkeit an den Tag legte, denn nichts in dem harmlosen und wohlmeinenden Geschwätz des jungen Forschers (den ganz offensichtlich jene Schüchternheit so redselig gemacht hatte, die für überreizte und vielleicht unterernährte junge Leute, Opfer des Kapitalismus, Kommunismus und der Onanie, so charakteristisch ist (…)), rechtfertigte die Grobheit des Einwurfs (…).
Bastardzeichen, S. 71/72

Allein diese Trinität nachzuschmecken, Kapitalismus, Kommunismus und Onanie ..! Wer nämlich spricht hier? Adam Krug durch den auktorialen Erzähler oder dieser selbst? Erinnern Sie sich aber des schon erwähnten Stilmittels, aus der Er-Erzählung geradezu unmittelbar ins Ich zu wechseln, das ganz genauso bisweilen Adam Krugs, dann aber wieder, siehe oben, der Erzählers selbst ist. Diese unauflösbare, weil ineinandergewachsene Ambivalenz prägt den gesamten Roman.
Doch zu Krug-direkt zurück: Als Sohn eines „angesehenen Biologen“ (S. 80) ist er nicht nur von Herkunft und Bildung, sondern eben auch körperlich derart privilegiert, daß selbst der von ihm einst gequälte, nunmehr zum Diktator aufgestiegene teigige Paduk nach wie vor um ihn, es ist nicht anders zu nennen, buhlt. Krugs ihm freilich in keiner Weise gewachsenen Freidenkerfreunde sind dagegen alle längst verhaftet oder haben ihr Heil in der Emigration gesucht. Alleine der Querkopf hält stand, will nicht. Noch jetzt, zu Beginn der Erzählung, ist er

ein großer, schwerer Mann, früh in den Vierzigern, mit unordentlichen, staubigen oder leicht angegrauten Locken und einem grob gehauenen Gesicht, das an den ungeschlachten Schachmeister oder den mürrischen Komponisten [gemeint ist eben Beethoven, ANH] erinnerte, nur daß er intelligenter war. Die kräftige, gedrungene, düstere Stirn hatte das eigentümlich hermetische Aussehen (…) von Denkerstirnen. (…) Was sonst noch? Ach ja — daß sein Zeigefinger unablässig geistesabwesend auf der Stuhllehne trommelte.
Bastardzeichen, S. 56/57

Selbstverständlich ist er nicht leidfrei, schon gar nicht nun, da seine geliebte Frau verstorben, die ihm immer und immer wieder in seinen Gedanken aufsteigt, nicht selten mit fast realer Präsenz — was diesem Roman eine mitunter geradezu mythische Klangfarbe gibt, die zur von der neuen Diktatur verschuldeten Beklemmung im Wortsinn ebenso unheimlich paßt, wie die aus Metapher, Beobachtung und Rhythmus gewobene Dichte des Stils, die sich häufenden Hypotaxen eingeschlossen, derart enggeführt ist, daß wir die Enge der neuen Gesellschaftsform quasi aus jeder Seite spüren. Und es ist allein der trotzige Witz Krugs, der daraus bisweilen erlöst, etwa schon am Anfang des Buches, da eine Brücke überschritten werden muß, an deren beiden Seiten Soldaten zur Überprüfung der Ausweise stehen. Pikanterweise ist die eine Flußuferseite mit Analphabeten besetzt, was dazu führt, bzw. führen könnte, daß ein Passant nun lebenslang zwischen den Posten immer hin- und hergehen muß, weil die drübige Seite einen Passagevermerk verlangt, den die hiesige mangels Schreibfähigkeit zeichnen gar nicht kann. Halten wir uns vor Augen, daß die analphabeten Soldaten für ihre Bildungsschwäche sicherlich nicht verantwortlich sind – für Dummheit könnten sie schon gar nichts  –, wird uns fast schmerzhaft klar, wie ätzend Adam Krugs Spott ist, zudem er zu Formulierungen greift, die sich dem Verständnis der Soldaten schon terminologisch komplett entziehen:

„Nein, nein“, sagte Krug. „Ich nicht aus Kahn klettern. 

Ich nicht aus Kahn klettern: Schon diese Reduktion eines einfachsten Satzes auf die unvollkommene Grammatik des Achtelgebildeten ist hämisch. Unszulande wurden so, und werden teils noch, Migranten der  sogenannten Unterschicht sprachlich persifliert. Aber jetzt kommt’s!

Ihr kapiert es immer noch nicht. Ich will es so einfach wie möglich ausdrücken. Die vom solaren Ende [also der gegenüberliegenden Brückenseite, ANH] sehen heliozentrisch, was ihr Tellurier geozentrisch saht, und wenn diese beiden Aspekte nicht irgendwie kombiniert werden, muß ich, das ins Auge gefaßte Objekt, in der universalen Nacht für alle Ewigkeit hin- und herpendeln.“
Bastardzeichen, S. 24

Allerdings geht er, also Krug, mit sämtlichen Menschen so um, die, ob tatsächlich oder eingebildet, an seinen Verstand nicht reichen, darin seinem Autor nicht völlig unähnlich, der etwa ein Parlamentsmitglied einen „Mann von mildem Stumpfsinn“ (S. 44) nennt oder die ohnedies schon scharfen Nägelkanten seiner ironisch gezügelten Misogynie noch zufeilt und dann den Hornstaub von den Fingerkuppen bläst, damit das kristallne Glitzern dieses Satzes von gar nichts, gar nichts getrübt sei:

Sie war eins jener dünnblütigen helläugigen reizenden schlimmen schleimigen Schlangenmädchen, die zugleich hysterisch begehrlich und hoffnungslos frigide sind.
Bastardzeichen, S. 135/136

Imgrunde ist Krug — wo der aus gequälter Kinderseele zur unbegrenzten, sich fortan schadlos haltenden Macht gelangte Paduk ein zugleich tief feiger wie so sadistischer Mann wurde, daß er auch nicht davor zurückschreckt, Kinder foltern lassen, woran er möglicherweise sogar eine Art umgekehrter Stockholm-Genugtuung hat — ein mit genossenen Privilegien und Geist ausgestatteter Unhold, jedenfalls nur für diejenigen ein Sympathieträger, denen, ihrerseits hämisch, seine Rücksichtslosigkeiten gefallen. Und doch sind wir notwendigerweise näher bei ihm und leiden mit ihm mit, weil eben sein Leid auch vermittelt wird, vor allem der verlorenen, eher unbewußt als zugelassen betrauerten Gattin wegen, und weil uns seine Widerständigkeit gefällt. Und wir, ganz wie er selbst, übersehen das Risiko, dem er sein eigenes Kind damit aussetzt, übersehen sie auch, weil Krugs im Geiste schlichten Freunde sie nicht übersehen und wir uns einfach nicht vorstellen können, ein Mann von, Nabokov legt den Vergleich nicht nur einmal nahe, beethovenschem Format gerate auch nur in Gefahr, anders als sie sich zu irren. Dabei warnen sie ihn und warnen —
Dieses ist für mich eines der absolut meisterhaften Konstruktionsprinzipien des Romans, der nach dem beinah leichtfüßigen Sebastian Knight mit der ganzen atmosphärischen Dichte der russischen Gabe, zugleich einer bedingungslosen Schwere und doch auch auf das sanfteste eingewobenen Meditationen über Erinnerung daherkommt:

Und später dann, als du zwanzig warst und ich dreiundzwanzig [war], lernten wir uns auf einer Weihnachtsfeier kennen und entdeckten, daß wir jenen Sommer vor fünf Jahren Nachbarn gewesen waren — fünf verlorene Jahre! Und genau in dem Augenblick, da du in erschrecktem Staunen (erschreckt von der Stümperei des Schicksals) deine Hand an den Mund legtest, mich mit runden Augen ansahst und leise sagtest: Aber dort habe auch ich gewohnt! — da durchfuhr mich wie ein Blitz die Erinnerung an einen grünen Pfad in der Nähe eines Obstgartens und an ein kräftiges junges Mädchen, das behutsam einen verirrten flaumigen Nestling trug, aber ob du es wirklich warst, konnte alles Forschen und Fahnden weder bestätigen noch widerlegen.

Fragment eines Briefes an eine Tote im Himmel von ihrem Gatten im Rausch.
Bastardzeichen, S. 158/159

Oder wenn der hierüber noch berauschte Krug beinahe nüchtern über seinen kleinen Sohn sinnt:

Und welche Qual, dachte Krug der Denker, ein kleines Geschöpf so wahnsinnig zu lieben, das auf geheimnisvolle Weise ( uns heute geheimnisvoller noch als den ersten Denkern in ihren bläßlichen Olivenhainen) aus der Verschmelzung zweier Geheimnisse entstanden sind, oder vielmehr aus zweimal einer Trillion Geheimnissen; aus einer Verschmelzung, die zugleich eine Sache des Willens, eine Sache des Zufalls und eine Sache reinen Zaubers ist; ein Geschöpf, das solchermaßen entstanden und dann frei ist, Trillionen eigener Geheimnisse anzuhäufen; das Ganze durchströmt von Bewußtsein, welches das einzig Wirkliche auf der Welt ist und das größte Geheimnis von allen.
Bastardzeichen, S. 213/214

Auch das ist eben Adam Krug, inwendig zart, dieser „bäurische Bär“ (S. 242), wenn er liebt. Wäre indessen nicht denkbar, daß Paduk auch, wenigstens als er noch Kind war, ähnliche Empfindungen hatte, die sich aus seiner Qual heraus schließlich pervertierten? Diese Perspektive nimmt weder Nabokov noch Adam Krug jemals ein, wir können Sie aber von uns aus mitbringen. Das Buch, wenn wir genau lesen, läßt uns diesen Raum, auch wenn unsre Sympathien —selbstverständlich, möchte ich fast schreiben — alleine deshalb auf der Seite „Beethovens“ stehen, weil der Mut seines Trotzes so beeindruckend ist, und wir, Hand aufs Herz, gerne eigentlich ebenso wären, nicht kompromittierbar nämlich und niemandem sonst, als unserem eigenen, mit vielen Gründen, Dafürhalten verpflichtet. Es ist diese Geste, mit der der tatsächliche Beethoven die Widmung an Bonaparte durchstrich, wütend sie löschte.

[Detaillierter zu Nabokovs Beethovenmotiv
siehe meine Anmerkung → dort
.]

Es gibt im Bastardzeichen aber auch menschliche Einsichten, die Nabokov/Krugs überheblichen Gestus komplett unterlaufen, und zwar so sehr, daß sie — eine bei Nabokov mindestens ebenso wirkende „Meinungs“strategie — gegen die schlechte Realität eine quasi phantastische des inneren Raums setzen, den in der hiesigen Erzählung vorwiegend die Erinnerungssequenzen an die geliebte verstorbene Ehefrau beleuchten, aber nahezu unvermutet in einer längeren Passage ausgeführt werden, die sich um den vermeintlichen „Spießbürger“ dreht — hier durch eine in-der-Fiktion-fiktive Person namens Etermon vertreten:

Allerdings war Skotoma das Opfer eines weit verbreiteten Irrtums geworden: Den „Spießbürger“ gab es nämlich nur als Etikett auf einem leeren Karteikasten (der Bilderstürmer [nämlich Skotoma, ANH] verließ sich wie alle Leute seines Schlages ganz und gar auf Verallgemeinerungen und war völlig unfähig, etwa von der Tapete in einem zufälligen Raum Notiz zu nehmen oder intelligent mit einem Kind zu sprechen). In Wahrheit hätte man mit ein wenig Umsicht manches Merkwürdige über die Etermons erfahren können, manches, [d]as sie so sehr voneinander unterschied, daß Etermon höchstens als die vergängliche Ausgeburt eines Karikaturisten existieren konnte. Plötzlich verwandelt, schließt sich Etermon (den wir doch eben noch harmlos im Haus herumtrotten sahen) mit seiner Beute im Badezimmer ein — einer Beute, die wir lieber nicht beim Namen nennen; ein anderer Etermon stiehlt sich aus dem armseligen Büro geradewegs in eine Bibliothek, um sich an gewissen alten Landkarten zu erbauen, über die er zu Hause kein Wort verlieren wird; ein dritter Etermon berät mit der Frau eines vierten besorgt die Zukunft eines Kindes, das sie ihm heimlich geboren hat, dieweil ihr Mann (jetzt wieder daheim in seinem Lehnstuhl) in einem entlegenen Dschungelland kämpfte, wo er seinerseits Nachtfalter von der Größe eines geöffneten Fächers und des Nachts rhythmisch pulsierende Bäume voller Leuchtkäfer gesehen hatte. Nein, die durchschnittlichen Gefäße sind gar nicht so einfach, wie sie [zu sein] scheinen: Sie gehören einem Zauberer, und niemand, nicht einmal der Magier selbst, weiß, was und wieviel sie fassen.
Bastardzeichen, S. 93/94

Selbstverständlich wird hier der Irrsinn der Annahme (und der politischen Doktrin) einer Gleichheit aller Menschen demontiert, damit der Kommunismus, dessen unerbittlicher Feind Nabokov zeitlebens blieb. Allein dann die Beschreibung der – auch weiblichen – Schergen des Machtapparates lassen einen schauern. In der Tat, nach Lektüre dieses Romans kann sich nur bodenlos schämen, wer jemals auch nur entfernte Sympathien für die marxistisch-leninistische Praxis gehegt hat. Denn was der Klappentext meines Taschenbuches „Groteske“ nennt, ist in derartigen „Systemen“ eben scheußlichste Realität — bis hin zu dem „Irrtum“, in dessen Folge Krugs kleiner, nun wirklich schuldloser Sohn zerbrochen wird, was folgendermaßen vonstatten geht:

Nun ja, das Gehege, in dem die ‚kathartischen Spiele‘ stattfanden, war so gelegen, daß der Direktor aus seinem Fenster und die anderen Ärzte und wissenschaftlichen Kräfte, Männer und Frauen (Frau Doktor Amalia von Wytwyl zum Beispiel, eine des faszinierendsten Persönlichkeiten, die man sich denken kann (…)), von anderen gemütlichen Warten aus den Verlauf beobachten und sich Notizen dazu machen konnten. Eine Krankenschwester führte die ‚Waise‘ die Marmortreppen hinab. Da Gehege war eine wunderschöne Rasenfläche (…) und erinnerte an jene Freilichttheater, die den alten Griechen so teuer waren. (…) Nach einer Weile wurden die Patienten oder ‚Insassen‘ (acht im ganzen) in das Gehege geführt. Zunächst hielten sie sich in einiger Entfernung und beobachteten den ‚Kleinen‘. Es war interessant zu sehen, wie sich allmählich er Gruppengeist geltend machte. Waren es bislang rohe, gesetzesscheue, unorganisierte Individuen gewesen, so verband sie jetzt etwas, der Gemeinschaftsgeist (positiv) gewann die Oberhand über die privaten Grillen (negativ); zum ersten Mal in ihren Leben waren sie organisiert. Frau Doktor von Wytwyl pflegte zu sagen, daß die ein wundervoller Augenblick sei. (…) Und dann begann der Spaß. Einer der Patienten (…) ging zum ‚Kleinen‘ hinüber, setzte sich neben ihn auf den Rasen und sagte: „Mach mal den Mund auf.“ Der ‚Kleine‘ tat wie geheißen, und mit unfehlbarer Sicherheit spuckte der Jüngling einen Kieselstein in den geöffneten Mund des Kindes. (…) Manchmal begann das ‚Kneifspiel‘ gleich nach dem ‚Spuckspiel‘, doch in anderen Fällen nahm die Entwicklung von harmlosem Knuffen und Puffen oder gelinden sexuellen Investigationen zum Gliederverrenken, Knochenbrechen, Augenausstechen und so weiter geraume Zeit in Anspruch. Todesfälle waren natürlich unvermeidlich, häufig jedoch wurde der ‚Kleine‘ noch einmal zusammengeflickt und munter ein zweites Mal auf die Walstatt geschickt. Nächsten Sonntag darfst du wieder mit den großen Jungs spielen, Liebling. Ein zusammengeflickter ‚Kleiner‘ stellte ein besonders befriedigendes ‚kathartisches Werkzeug‘ dar.
Bastardzeichen, S. 248/249

Wohlgemerkt dies alles zur Stärkung des Gemeinschaftsgeists. Auf wen dieses das Organisationsbewußtsein des Volkes stärkende ‚Verfahren‘ abzielt, wird vier Seiten später klar, als im selben Zusammenhang das Wort Jarowisierung fällt, im Stalinismus zeitweise Wissenschaftsdoktrin — auf Menschen bezogen eine deutliche Parallele zu den nationalsozialistischen Kälteversuchen.

Nun gehört zwar nicht Ästhetisierung des Grauens unbedingt zum Charakter der Kunst, wohl aber seine Einbettung in ästhetisch geformte Erscheinungsfelder, ästhetische quasi Magnetfelder, weshalb bei allem Entsetzlichen auch und gerade das Bastardzeichen voller Schönheiten, nämlich sprachlich oft hinreißend schöner Gestaltungen ist. In anderem Zusammenhang habe ich mehrmals schon von der perversen Bewegung der Künste gesprochen, die eben die Wahrnehmung und Wahrnehmungsnotwendigkeiten ihrer Rezipienten mit einschließt. Es gehört zu den Eigenheiten aller Kunst, daß sie das Unerträgliche insofern erträglich macht, als seine Darstellung zu Genuß führt — freilich einem, dessen Empfinden abhängig von Vorbildung sowohl des Wissens und Mehrwissenwollens als auch der Bereitschaft, sich auszusetzen, ist. Deshalb ist es kein Wunder, daß wir durch das Bastardzeichen wie berauscht hindurchziehn, ja von diesem Roman, der wirklich kein Wohlfühlbuch ist, gar nicht mehr lassen können. Mehrmals während meiner Lektüre war mein poetischer Instinkt versucht, sowohl Vergleiche mit García Márquez‘ hierzulande kaum bekanntem → Herbst des Patriarchen und Alfred Kubins → Die andere Seite herzustellen, bin dem aber noch nicht wirklich nachgegangen. Zwei Zitate mögen erstmal genügen:

García Márquez:
Während des Wochenendes fielen die Aasgeier über die Balkone des Präsidentenpalastes her, zerrissen mit Schnabelhieben in innen erstarrte Zeit auf, und im Morgengrauen des Montags erwachte die Stadt aus ihrer Lethargie von Jahrhunderten in der lauen, sanften Brise eines großen Toten und einer vermoderten Größe. (…) Es war, als traumwand[e]l[t]e man durch den Bereich einer anderen Zeit, den die Luft war dünner in den Trümmergruben der weiten Höhle der Macht, und die Stille war älter, und die Dinge wurden nur mühsam sichtbar in dem altersschwachen Licht. In dem weiten ersten Innenhof, dessen Fliesen dem unterirdischen Druck des Unkrauts nachgegeben hatten, sahen wir die verwüstete Wachstube der geflüchteten Wachposten, die in den Waffenschränken zurückgelassenen Waffen, den langen Plankentisch mit den halbgefüllten Tellern des von panischem Schrecken unterbrochenen Sonntagmittagessens (…) und die Berline aus den Zeiten des Aufruhrs, den Pestkarren, die Staatskarosse aus dem Jahr des Kometen (…,) und alle bemalt mit den Farben der Landesflagge.
S. 5/5 (Dtsch. v. Curt Meyer-Clason)

Sowie Kubin:
Am Bahnhof fraß der Sumpf. Das Gebäude hatte sich geneigt, der Perron war mir Schlamm und Schilf überdeckt, durch die verfaulten Türen kroch der Morast in die Wartesäle, von den Bänken und Polstern ertönten Wehmutslieder der Unken. Über die Büffets krabbelten Molche und kleine Käferlarven. Die unzähligen Geschöpfe, welche Perle durchwandert, die Gärten verwüstet und die Menschen geängstigt hatten, alle stammten sie aus dem Sumpfe, der sich viele Meilen ins Dunkel erstreckte.
S. 168/169

Klingen nicht beide Textstellen nach mächtigen historischen Endbeben dessen, was der längst entflohene Nabokov erzählt und Krug, noch mitten darin, es zu fliehen leider nur gedankenspielt? —nämlich so:

Gab man zu, daß Raum und Zeit eins waren, so wurden Flucht und Rückkehr. vertauschbar. Es hatte den Anschein, als könn[t]e ein Land, in dem sein Kind in Sicherheit, Freiheit und Frieden aufwachen durfte (ein langer langer Stand, übersät mit Körpern, Sonne und Wonne und ihr latin satin– die Reklame für irgendwelchen amerikanischen Ramsch, irgendwo gesehen, irgendwie behalten), die Vergangenheit in all ihrer Eigentümlichkeit (ein Glück, an dem er damals achtlos vorübergegangen war, ihr feuriges Haar, ihre Stimme, die dem Kind von kleinen, vermenschlichten Tieren vorlas) ersetzen oder zumindest nachahmen. Mein Gott, dachte er, que j’ai été veule, vor Monaten schon wäre es vonnöten gewesen, er hatte ganz recht, der Ärmste: Die Straßen schienen voll von Buchhandlungen und trüben kleinen Kneipen [zu sein]. Da wären wir. Bilder mit Vögeln und Blumen, alte Bücher, eine polkagesprenkelte Porzellankatze. Er trat ein.
Bastardzeichen, S. 205

Und versucht endlich, eine Fluchtpassage aus dem gepeinigten Land zu bekommen, aber zu spät.

 

NACHSPIEL, NÄMLICH PFÜTZENSPIEGEL

„Jede Pfütze Ozean“ heißt es in THETIS.ANDERSWELTs Vorspiel. Hier ist die Pfütze ein Spiegel, in dessen – sic! – andere Seite wir schauen. Denn so beginnt das Buch:

Eine längliche Pfütze, in den groben Asphalt gedrückt; wie ein phantastischer Fußstapfen, der bis zum Rand mit Quecksilber gefüllt ist; wie ein spatelförmiges Loch, durch das man den unteren Himmel sieht. Umgeben, bemerke ich, von den Fühlern einer diffusen schwarzen Feuchtigkeit, in der ein paar stumpfe schwärzliche Blätter kleben. Vermutlich ersäuft, ehe die Pfütze auf ihre jetziger Größe zusammenschrumpfte.
Bastardzeichen, S. 7

Und es endet:

Auch den Glanz einer Pfütze vermochte ich zu erkennen (derselben, die Krug irgendwie durch die Schicht seines Lebens wahrgenommen hatte), eine länglichen Pfütze, die der unveränderlichen spatelförmigen Form einer Bodenvertiefung wegen nach jedem Regenguß unfehlbar die gleiche Gestalt annahm. Möglicherweise darf etwas Ähnliches in Bezug auf den Abdruck gesagt werden, den wir in der inneren Textur des Raumes hinterlassen. Peng. Eine gute Nachricht für die Nachtfalterjagd.
Bastardzeichen, S. 273

 

Ihr, Geliebte,
ANH

 


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8 thoughts on “„Berstend vor kelterreifem Verlangen.“ Nabokov lesen, 35: Das Bastardzeichen. Dazu zwei kleine – von García Márquez und Kubin – Endspielstücke.

  1. Diese Buchstabenlawine, die hat mich ganz schön überrollt und meine Konzentration über längere Zeit sehr in Anspruch genommen… hin- und hergerissen zwischen diesen wunderbaren sprachlichen Räumen, die ich als Leserin betreten darf und dieser Art von – ich nenne es mal Psychogramm der beiden Hauptfiguren, die ja offensichtlich den Ort ihrer Kindheit nicht ohne seelischen Schaden verlassen haben. Wie wir alle? Das ist jetzt spekulativ, aber durchaus zu vermuten – und so lese ich – und in dem Dazwischen fühlt sich Elend/Grausamkeit – trauergeschwärzt – armes Kind – Perversion – genetische Entgleisung – tief im MenschSein verankert? Auch ich könnte, wenn die Bedingungen so wären, in abscheulichste Barbarei verfallen? Nicht mal ansatzweise auszudenken…das Grauen hat Geschichte, wie es sich darstellt damals wie heute – und in meinem Hinterkopf diese vage Hoffnung von der menschlichen Entwicklung, die in der Lage ist genau diese grausamen Dinge durch eine Art gesellschaftlichen Reifeprozess zu überwinden – ich spüre es jetzt; dieser Wunsch ist reine Illusion! lg. RIvS

    1. Ich bin, Frau von Stieglitz, sehr froh über diesen Kommentar (welch blödes Wort zu einer Einlassung, die das Persönliche nicht ausspart) – zum einen bin ich’s, weil ich mich immer wieder gegen die Meinung stemme, es seien längere und komplexe Texte, zumal ausgearbeitete Prosa (das Netz gibt mir sogar die Möglichkeit, sie immer noch nach- und nachzubessern, was ich auch, „abonnierte“ Dschungelleserinnen und -leser werden es wissen, ständig tue, sogar rhythmisch) — also dergleichen werde nicht gelesen. Zuletzt äußerte sich wieder der von mir sehr geschätzte Peter H. Gogolin so, >>>> dort. Und in der Tat indiziert mein Statistikprogramm einen deutlichen Zugriffsrückgang, werden meine Beiträge sprachlich komplex und/oder weniger „privat“. Dennoch bewegen sich meine Leserinnen/leserzahlen, verglichen mit denen anderer literarischer, geschweige literartheoretischer Websites in einem mehr als nur akzeptablen Bereich, und ich bezweifle sehr, ob Bücher hier besser abschneiden würden.
      Zum anderen aber bin ich darüber froh, daß Sie sich auch gegen die Konzentrations-, ich schreibe mal, -„pflicht“ solcher (wie eben aller mit Kunstfertigkeit gebauter) Texte in sie hineinbegeben und sie, wie Ihr Kommentar deutlich zeigt, durchleben. Ein größeres Kompliment kann Literatinnen und Literaten gar nicht gemacht werden.

      Zu Ihrer direkten Frage „Auch ich könnte, wenn…“ meine ich, antworten zu dürfen: Ja – sofern Sie ein wenig umformulieren: Hätte auch ich, wenn…, werden können? – Hätten Sie, ja. Hätte auch ich. In einem gewissen Sinn hatten wir Glück, Machen Sie sich die Wahrheit des >>>> dort zitierten Satzes klar:

      Unsere Gedanken entstehen, bevor sie uns bewußt sind.

      Das gilt für Gefühle genauso, geschweige für Empfindungen (deren physische Ursachen – Kälte, Hitze usw. – von den Sensoren ja erst einmal ins Gehirn geleitet werden müssen, wo sie dann. freilich alles in so rasender Geschwindigkeit, daß wir die vergehende Zeit nicht spüren, verarbeitet werden. Unser sogenannter Freier Wille ist eine, allerdings notwendige Illusion, die als regulatives Prinzip so etwas wie Moral, Ethik usw. überhaupt erst ermöglicht. Dennoch sind wir determiniert.

      1. Raum: lichtdurchflutet – Im Hintergrund: WDR/Fernsehen – Pariser Konzert 2019 – dichte Trauben von Menschen vor der Konzertbühne – wirklich, Massen von Menschen, die wild und laut applaudieren/applaudierten, begleitet von Ausrufen der Begeisterung – ungewohnt, das zu sehen – Begeisterung bleibt – Sonntag – Wahrnehmung – innerlich trotzig, will mich nicht fernhalten….und doch ist es „zwangsverordnet“ – zurück zum Dialog: eine andere Zeitform wählen, na klar – ..nicht könnte, sondern hätte werden können – damals – da war ICH unaufmerksam – ich springe gedanklich an eine andere Stelle – und schon dieser Impuls, der mich das Tagebuch aufschlagen lässt – ein Eintrag aus dem Jahre 1986 – Zitat oder doch schon Interpretation? Kann die Quelle nicht mehr präzise erinnern – Ein Name: Richard Lazarus – zur Informationsverarbeitung: Die Info „fließt“ von der anfänglichen Sinneswahrnehmung bis hin zur Reaktion. Sie wird aber nicht einfach weitergegeben, sondern im Laufe ihres Weges durch den „psychischen Apparat“ transformiert. In den verschiedenen Sub-Systemen des psychischen Apparates werden die Informationen gefiltert, Zensoren (!) blockieren „verbotene“ Botschaften. Bevor eine Info vom Unbewussten über das Vorbewusste zum Bewusstsein gelangt, ist sie „zensiert“, zurückgewiesen oder verändert worden. Es gilt heute als unumstritten, dass der überwiegende Teil unserer Kognitionen unbewusst ist und bleibt (!), dass nur ein ganz geringer Teil dieser Informationen durch einen oder mehrere „Flaschenhälse“ hindurch in unser Bewusstsein gerät – Bewusstheit ist die AUSNAHME, nicht die Regel (irgendwie deprimierend – aber dennoch – wir WOLLEN ja ÜBERLEBEN .RIvS) – ein Großteil unseres Lebens, unserer Verhaltensweisen ist automatisiert..usw…Querverweis auf U. Neisser: (auch hier ist die präzise Quelle weg) …es gibt immer mehr zu sehen, als jemand sehen kann und es gibt immer mehr zu wissen als irgendjemand weiß. Warum sehen wir es nicht und warum macht es uns nichts aus, nicht alles zu wissen? Usw. Ich beende das jetzt …. – ich springe gedanklich an eine andere Stelle – E-Books – Amazon – Internet – Vernetzung – TEMPO, in einem rasenden Tempo bewegen sich die Datenströme – hin und her – mir wird schwindelig – wieder dieser fast kindliche Trotz…oh nee, will ich nicht wissen, lasst mich doch in Ruhe damit – und doch – man kommt ja nicht drumherum – Impuls 1: ich hatte vor einigen Jahren eine sehr unangenehme Augenentzündung (lesen ging nicht, die Augen voller Salbe) – so wandte ich mich damals der Übertragung von Hörspielen im Radio zu – mir hat das sehr gut gefallen – die Möglichkeit, auch darüber „eigene Filme“ im (eigenen Kopf) (lach) zu drehen – phantasiebeflügelt – großartig – ich spüre jetzt (zum Glück. JETZT) wieder diese Veränderung des Zeitgefühls – ich NEHME mir die Zeit (vorher war ich mehr mit Geld verdienen beschäftigt, also vor Corona – also Existenzsicherung) – um nicht im Strudel alltäglicher Probleme zu verschwinden, versuche ich mich auf diese Art zu retten (indem ich mich (wieder) dem Schreiben zuwende) – ich rauch mal eben eine am Fenster in diesem wunderbaren Sonnenstrahl – bis gleich – Impuls 2: ENTSPANNUNG – innerlich zu fallen (musikbegleitet) – in’s Netz der Träume – schaukelnd – dahinter – der schwankende Rand des Horizonts – Impuls 3: …kann ich all dieser Intellektualität (die mich HIER auf DIESEN Seiten umgibt) das Wasser reichen? – Zweifel bleibt – und so plumpse ich auf den Sessel eigener Bescheidenheit und grübele ein wenig… – jetzt fällt mir H. ein – eine ältere Dame, die oft sagt: ich kann zwar nicht mehr so (sie hat körperlich stark abgebaut, was mich unendlich schmerzt) – aber – Du kannst von mir etwas lernen und ich von Dir – und dann – verströmt sie sich in einem Lächeln mit allem Wissen dieser Welt (so erscheint es mir)..lg. RIvS

        1. Die alte Dame hat recht: Wo kämen wir hin, wenn wir immer nur innerhalb unserer eigenen Bezugssysteme sprächen? So mußte ich selber zu sehen lernen, war mit sechsundzwanzig ein Bildender-Kunst-Ignorant, jedenfalls diesbezüglich tumb, und meine damalige Lebensgefährtin Do, die aus meiner Sicht nicht hören konnte (sie hing Pat Matheny und Banalerem an), unterwarf mich geradezu Exerzitien des Schauens (muß ich gelegentlich mal erzählen), bis ich so weit war, daß sie mich in einen Museumssaal führte, mich aufforderte, die Augen zu schließen und sagte: „Jetzt, spontan, wo hängt das beste Bild?“ (Meine Wahl, da, fiel auf ein kleines Blatt von Max Klinger – und ich hatte „bestanden“). Umgekehrt gab es den Moment, da Do im Konzertsaal Bergs Violinkonzert hörte, Zwölftonmusik – und zu weinen begann. Und die Tränen flossen und flossen.
          Im übrigen zeigt die Poesie Ihres Kommentars, wie sich, wenn wir es nur nutzen, fast automatisch Qualität einstellt. Bei einigen Menschen, je nach Verkrustungsgrad, geht es schneller, bei anderen braucht es etwas länger – aber immer, immer geschieht es. Freilich, so mein Instinkt, nur dann, wenn Grundlage nicht „bloß“ Intellektualität, sondern auch Einfühlungswille ist – etwas, das ich ähnlich wie dasjenige sehe was im 19. Jahrhundert Kunstwille hieß. Ohne ein offenes Herz geht es nicht – oder, wie eine Cellistin mir einmal schrieb: „Nichts klingt mit geschlossenem Beckenboden.“

  2. je nach Verkrustungsgrad (das gefällt mir), geht es schneller(sicherlich(!), bei anderen braucht es etwas länger (klar) – aber immer, immer geschieht es. Freilich, so mein Instinkt, nur dann, wenn Grundlage nicht „bloß“ Intellektualität, sondern auch Einfühlungswille ist – Ohne ein offenes Herz geht es nicht – …..ich erlaubte mir, etwas wegzukürzen ….— ja, allerdings ist es nicht jedem gegeben RESONANZ (beim Leser/Zuhörer/Betrachter von Bildern) zu erzeugen, wobei wir wieder bei der Cellistin wären(in gewisser Weise) – Zigarette am Fenster – Assoziation: Romy Schneider, in in der Blüte ihrer Jahre – langhaarig, sinnlich – – Schwarz-Weiß-Bilder von V. Nabokov angeguckt – von rowohlt zur Verfügung gestellt (u.a.) – fällt mir ausgerechnet dieser platte Spruch ein: man kann niemandem hinter die Stirn gucken und doch: wie ernst der Ausdruck – im linken Auge eine Spur Verzweiflung auch Trauer – Lebenslinien – Skepsis? – geschickt gemacht diese Aufnahme, ganz leicht geneigt der Kopf – was IHM wohl durch den Kopf ging als diese Aufnahme gemacht wurde – auf anderen Fotos wird dieses Ernste weiter vermittelt – aber nicht nur – er scheint zu kokettieren, mit seinem Gegenüber(?) – oder: komm mir bloß nicht zu Nahe – Abwehr im Blick – manchmal lächelnd und auf einmal ist so ein Funkeln in seinen Augen – da wird Sinnlichkeit spürbar – eine andere Facette zeigt einen Hauch zerrissener Verletzlichkeit – hätte ich ihn kennen lernen wollen ? Weiß nicht, er wäre mir zunächst unheimlich gewesen in seiner etwas (herrischen?) Männlichkeit. – Pause – lg. RIvS

    1. (lacht über die „etwas herrisch Männlichkeit:) „Aristokratischer Gestus“ wird über ihn oft gesagt, was durchaus auch die Stilhaltung beschreibt.
      Gibt es auf das von Ihnen beschriebene Bild einen Link? Dann wäre es klasse, stellten Sie ihn hier ein.

  3. Oh – na ja – „Aristokratischer Gestus“ – ja, stimmt durchaus, bei nochmaliger näherer Betrachtung – das Bild, also eines davon konnte ich in den messenger shiften – ich bin InternetAlphabetin was die Feinheiten in der Handhabung angeht, sorry – aber vielleicht bekommen Sie das ja hin mit dem Verlinken – lg.RIvS

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