„Was w a r da bloß drin?“ – Das elende Arbeitsjournal des Mittwochs, dem 4. April 2012. Thomas Quasthoff, aber, nachts im digitalen Konzertsaal: Bachs Matthäus-Passion.

12.56 Uhr:
[Arbeitswohnung.]

…leider muß ich >>>> für heute absagen. Bitte geben Sie die für mich reservierte Karte in den freien Verkauf zurück, damit der Platz nicht verfällt.
Es geht mir heftig mies heute – allerdings hab ich mir Kopfschmerz und Übelkeit ganz selbst zuzuschreiben. Ich muß mich also wirklich entschuldigen. Doch ich käme kaum von hier nach dort und wüßte mich dort dann schon gar nicht mehr zu konzentrieren.
Lieber suche ich mir eine noch spätere Vorstellung aus; vielleicht ja ganz gut, da über die Premiere sowieso schon viel berichtet wurde, während man von späteren Aufführungen gewöhnlich nichts mehr erfährt.
Dringende Aufträge belauern mich hier, dafür werde ich den Abend zu nutzen versuchen.
Ihr, zerknirscht,
ANH

Muß ich viel mehr schreiben?
Noch immer sackt mir zwischendurch der Kreislauf weg, eine Art Schwindel, der sich in sich selbst dreht, aber mich zentripetal nach unten zieht. Ich habe keine Ahnung, was in den beiden Rums gewesen ist, die P. nachts >>>> in der Bar noch ausgegeben hat, nachdem der Profi, der wahrscheinlich so etwas ahnte, schon weggefahren war. Vielleicht steckten hinter >>>> diadorims Vorbehalten gegen meine Arbeitslust in Wirklichkeit Verfluchungen, die mich nun gefunden hatten, als hätte sie Nadeln in den Bauch der kleinen Stoffpuppe gesteckt. Mit bei mir war Manuela Reichert, die aber auch irgendwann seltsam verschwand, als meine Klimax, wahrscheinlich, sich anzudeuten begann. Ich weiß noch, daß ich in Schlangenlinien heimradelte den ganzen Weg zurück auf den Prenzlauer Berg und wie, als ich endlich im Bett lag, sich meine Füße in die Höhe schleuderten. Kopfunter hängend, nein, mich drehend, schneller, noch schneller, schlief ich, Erlösung, ein.
Keine Erlösung. Das Drehen war, als ich erwachte, geblieben, das und die Übelkeit. Es war bereits halb acht. Mühsam, als hätte sich >>>> dieser Text verwirklicht,hob ich mich an, zog was über, bereitete den Latte macchiato und starrte auf den Andersweltpacken. Nein, ich ließ mich nicht unterkriegen und versuchte wenigstens, >>>> den gestern avisierten Text, zu übertragen und einzustellen. Dann gab ich auf. War untergekriegt.
Legte mich wieder hin. Kopfschmerz, Übelkeit, Drehen und, was ich noch gar nicht kannte, ein dunkler, sich zu den Seiten ziehender, schwerer Brustschmerz. Bis zehn war der nicht weg und ließ mich nicht schlafen. Bis elf nicht. Ich packte mir Decken in den Rücken, um erhöht zu liegen. Das erleichterte etwas. Da schlief ich, erwachte um zwölf, es war besser, setzte mich wieder an den Schreibtisch. Und stellte fest, als ich die Argo-Passage noch einmal las, daß ich zwei Seiten völlig durcheinanderbekommen, den handschriftlichen Einschub an eine ganz falsche Stelle hinzugetippt hatte. Du meine Güte! So unklar bin ich gewesen.
Also noch einmal. Das war komplett sinnlos, was da vorher stand, dramaturgisch sinnlos, in der Abfolge sinnlos. Jetzt >>>> stimmt es.

Das Celloüben verschiebe ich auf nachmittags, schon weil mein linker Arm bis in die Finger zäh ist und eigentümlich juckt, auch der rechte, aber nicht so sehr. Durchblutungsstörung. Wenn ich das alles recht bedenke, ist das kein Kater mehr, sondern eine kleine Vergiftung. Von der sich mein Körper jetzt eigentätig säubern muß. Ich habe eine Paracetamol genommen, mehr nicht; das ist schon viel für mich, der ich Medikamente wie instinktiv ablehne. Das beste Heilmittel, immer, ist Schlaf.
Doch ich arbeite jetzt erst einmal. So gut das halt geht. Durcheinandriges DTs, das ich wohl deshalb erst abends als Rekapitulation verfassen werde, mit einem zweiten als Planung für morgen. Kennen Sie den Ruf, der sich dann doch niemals realisiert? Nie wieder Alkohol! Daß ich nicht in die Oper darf, ist meine Strafe.

17.40 Uhr:
Noch immer nicht wiederhergestellt, immer noch nicht nur flau, sondern übel. Aber ich habe >>>> den Sillig zuende gelesen und die Rezension angeboten. Jetzt gehen die Mails wegen des wirklich erbärmlichen Honorares, der der SR zahlt, hin und her; darauf, daß ich das ganze Ding mit meinem Team selbst produziere, läßt man sich nicht ein, weil die Hausprecher beschäftigt werden sollen – was wiederum bedeutet, daß man an den Möglichkeiten des Rundfunks restlos vorbeiarbeitet, anstelle Rezensionen funkgemäß zu montieren, so daß wirklich die Welt des besprochenen Buches darin aufscheint.
Ich werde die Rezension aber schreiben, heute noch; dann bekommt der Tag noch einen Sinn. Und ich kann die Galouye-Unterstreichungen im Unendlichen Mann in die Datei übertragen; dazu braucht es nicht viel Konzentration.
Immer wieder, übrigens, ändere ich Kleinigkeiten >>>> dort. Und gleich kommt mein Junge fürs Cello. Wenn ich bedenke, daß ich jetzt gleich schon zur Staatsoper losgemußt hätte, bin ich heilfroh, rechtzeitig abgesagt zu haben. Keinen Kilometer hätte ich auf dem Fahrrad geschafft.

20.50 Uhr:
[Barockkonzert in der >>>> Digital Concert Hall.)]
Schon fertig geworden mit meiner Rezension; jetzt lasse ich sie bis morgen „abhängen“, geh dann noch einmal drüber und schicke sie zur Annahme weg. Ich denke mal, daß ich sie in der nächsten Woche im Hauptstadtstudio der ARD einsprechen werde, nur meinen Part; der des Zitatsprechers wird in Saarbrücken hinzugefügt.
Jetzt übertrage ich die Galouye-Notate weiter und lausche dazu der digitalen Konzerthalle der Berliner Philharmoniker. Da ist noch viel zu entdecken. Auch mein DTs für morgen möchte noch geschrieben werden.

22.40 Uhr:
Nun sind auch die Notate übertragen, so daß ich ab morgen am Typoskript des Hörstücks weiterarbeiten kann. Ich hatte gerade den Einfall, das ganze Stück mit der wilden Apokalypse der Romanendes Unendlicher Mann zu schließen, aber nicht mit dem Wort, sondern einem tatsächlichen BANG: das muß wirklich sehr sehr sehr laut sein. Knall. Absage.

Komische Überlagerung der Amplituden: Galouyes säkularreligiöser Text zu der in der Tat hinreißenden Aufführung der >>>> Matthäus-Passion in der Digital Konzert Hall unter Rattle. Peter Sellars hat das inszeniert. Einfach nur berührend. Ich habe, es war vor fast genau einem Jahr, gar nicht mitbekommen, welch eine Lösung für dieses Oratorium gefunden wurde. Und eben sehe, daß auch Thomas Quasthoff mitsang; soeben steht er ganz vorn auf dem Podium, so klein und unendlich präsent. Und jetzt öffnet er den Mund –

23.40 Uhr:
Matthäus-Passion, >>>> Zweiter Teil. Ich habe soeben zu arbeiten aufgehört und lausche und sehe. Dennoch, die Passion werde ich nicht zuende hören, weil es zu spät würde… noch knappe zwei Stunden des vierstündigen Werks. Morgen früh, n a c h Argo, weiter. Bei Überarbeitungen ist – jedenfalls gesungene – Musik problematisch.
Der Chor singt, was für Oratorien unüblich ist, ohne Noten, die Choristen sind Darsteller zugleich. Das ist enorm berührend. Die Solisten stellen wirklich dar. Und sie und der Chor interagieren mit den Orchestermusikern, die sich bewegen können, Konstellationen, Gruppen, Partnerschaften bilden. Die Kožená, soeben, kauert am Boden zu Füßen des Sologeigers. Quasthoff und der Evangelist umarmten sich. Es ist, was ich hier sehe und höre, ein unfaßbarer Kulturschatz der Trauer.

7 thoughts on “„Was w a r da bloß drin?“ – Das elende Arbeitsjournal des Mittwochs, dem 4. April 2012. Thomas Quasthoff, aber, nachts im digitalen Konzertsaal: Bachs Matthäus-Passion.

  1. Also, erst einmal würde ich behaupten, jeder Voodoopriester wäre gegen ihren Willen eh machtlos, und zweitens liegen mir solche Praktiken fern. Ich les allenfalls Horoskope und such mir dann das aus, was am vielversprechendsten klingt. Tun Sie, was immer sie tun wollen und in der Dosis, die ihnen richtig erscheint, ich kann immer nur sagen, wie es auf mich wirkt, aber ich halte ja auch ein ganz kleines Werk für eine sehr große Leistung, Benjamins Berliner Kindheit nämlich, und beobachte doch nur mich dabei, wie ich viel häufiger zu ihr greife, als etwa zum Mann ohne Eigenschaften, den ich nichtsdestotrotz bewundere. Und das liegt in meinem ganz speziellen Fall daran, dass ich eben viel eher von der bildenden Kunst komme, und da vor allem es mir eher minimalistische Künste angetan haben und nicht die mit den Weltpanoramen, Ausnahmen bestätigen die Regel, und je weiter ich in der Chronologie zurück gehe, ist auch ein Genter Altar sicher dabei, aber eher dann doch wieder motivisch reduzierte Barockstilleben, wie etwa Pieter Claesz http://www.askart.com/AskART/photos/SOL20070704_4553/38.jpg, ich habe mich immer auf Ausschnitte und Fragmente kapriziert, weil sie meinen Blick fokussieren, und erst der Fokus bringt bei mir die Erkenntnis. Die unendlich verwobene Fläche, die sich ausbreitet, und von der Musil und schon Gutzkow Zeugnis ablegten, in der man nicht einem Faden mehr folgt, das große Weltpanorama, hat mich einfach nie so wirklich interessiert, das ist aber eben auch schon alles, und sicher kein Voodoo, sondern einzig und allein meine Vorliebe.

    1. lächelnd@Diadorim. In den großen Welttheatern finden sich aber ebenso die Miniaturen; Bücher müssen nicht von Anfang bis Ende gelesen werden, auch sich ihre Autoren das wünschen. Nimmt man diese Haltung ein, finden sich Tausende Episoden, nahe, innige, in vielen Welttheatern, sie sind dann eine Bibliothek der Episoden für sich.
      Bei Ihrer Vorliebe aber schnell eine ganz wichtige Empfehlung; ich habe die Lektüre soeben beendet, las die Erzählung an einem Stück: >>>> Olivier Sillig, Skoda. Achtzig locker gesetzte Seiten von großer Intensität.

      Wegen Benjamins Berliner Kindheit. Einverstanden. Mir fehlt da aber die Erzählung, ich liebe Geschichten. Sie dürfen, ja sollen auch lange dauern. Deshalb schreibe ich Romane.

    2. Ja, und ich liebe Bilder, deshalb schreibe ich keine Romane und lese nur selten mal einen, renne aber umso häufiger in Museen.
      Mir fiel noch ein, ein Musiker, der immerzu auftritt, wenn er dabei im Orchester verschwindet und quasi Berufsmusiker ist, dann würde man wenig dazu sagen, stimmt, aber jemand, der selbst Musik schreibt und sie aufführt, hm, mir scheinen da größere Pausen irgendwie natürlich und durchaus ratsam, und fast immer auch stattzufinden, aber, egal, sie halten das eben anders. Meine große Skepsis dabei ist ja immer die, dass ich denke, angesichts der tatsächlichen Geschichten, die in der Welt verborgen liegen, muss jedes artifizielle Panorama, so groß es auch angelegt ist, dennoch wie Miniatur dagegen ausfallen, oder sogar umso mehr, je bombastischer es ausfällt, und desto schneller stellt sich bei mir ein Gefühl seiner eigentlichen Kleinheit ein, weil es sich ja messen lassen will, weil es mir sagt, ich bin angetreten, diese Zusammenschau zu liefern, die die Welt bedeutet. Aber ich hab noch nie beim Atlas gestaunt, wie er die Welt schultert, sondern eher beim Verpuppen der Raupen. Ach ja, was ist eigentlich mit dem neuen Nadas, Parallelgeschichten, lesen? (Ich muss gerade an einen Ausspruch von Bernhard denken, ich weiß nicht mehr über wen er das sagte, aber er sagte mal spitz, da sind schon 100 Seiten um und da ist man ja noch nicht mal aus der Tür.) Was ich allerdings immer verstehen konnte, wenn Philosophen dicke Bücher schreiben, aber die kommen ja auch in immer verzwicktere deduzierte Zusammenhänge, da seh ich irgendwie die Notwendigkeit, es sei denn die heißen Guattari/Deleuze, die halten das dann wieder eher wie Autoren und haben es nicht so mit der logischen Ableitung der Begriffe.

    3. “aber die kommen ja auch in immer verzwicktere deduzierte Zusammenhänge”. Das beschreibt exakt, was in großen Romanen geschieht. Sie sind eine Form der Erkenntnisfindung, a u c h, und Ihr Vergleich mit der Welt hinkt deshalb, weil Romane nicht die Welt sind, sondern ihrerseits zur Welt etwas hinzugeben, das vorher nicht darin gewesen ist – als Spiegelresultat. Es sind ja keine Dokumentationen. Im Gegensatz zum Personal der meisten Kurzgeschichten, stehen die Personen großer Romane schließlich völlig gleichwertig neben hinstorischen Figuren wie Bonaparte, ja die Autor:innen selbst, wie die Komponisten, werden zu literarischen Erscheinungen. Denken Sie an Goethe oder die Verfilmungen über Mozart, Wagner (hinreißend: >>>> Richard Burton) und viele andere. Die literarischen Figuren s c h a f f e n Welt. Große Romane zu schreiben, bedeutet, wenn sie gelingen, Welt zu erschaffen: einen Teil zur Welt noch hinzu.

    4. Jein. Sie haben recht, zum Teil, aber nur, wenn sie gelingen. Man kann natürlich auch 1700 Seiten Plumperquatsch abliefern in, wie schrieb es Herrndorf so schön, einer “Sprache der untersten Hölle”, oder wie Corino über 1000 Seiten zusammengetragenen positivisten Kram zum Toilettenpapierverbrauch Musils. Sagen wir so, ich bin durch die Schule der Editionsphilologie gegangen, die besagte, vermeide ein “dies alles gibt es also”, bemühe dich um ein “wenn es das gibt, was könnte es bedeuten”.
      Und natürlich kann die Größe die Wirkung steigern, kann, muss aber nicht, molekulare Küche zum Beispiel, Essenzen können einen unvergleichlicheren Geschmack zaubern als etwa ein Buffet der üppigsten Sorte. Nun ja, der eine macht so, die andere anders, das ist es auch schon.
      Und natürlich denke ich auch, diese monumentalen Werke funktionieren auch nach der reinen Selbstlegitimation, ich habe 18 Jahre jeden Tag 100 Stunden dran gearbeitet, Gratulation, Schmidts ekeligste Seite war diese Kleinschmidtargumentation, aber gut, es waren andere Zeiten. Musil, der bekannte, wenn er dieses Monstrum endlich fertig geschrieben haben wird, dann könnte er ja endlich mal wieder sich seinem Familienleben widmen, Quark, wer Familie spannender findet als seine Schreibe, widmet sich der auch vor Fertigstellung seiner Werke, tut er dies nicht, ist er Familie unter Umständen schnell los, das ist die ganze Wahrheit. Und mein Prof wusste sich damit natürlich auch hervorragend zu identifizieren, auch wenn der die dünneren Werke zu Musil schrieb, aber der konnte eindeutig auch besser das Professorale als das Soziale, darum kam dem so ein Musil oder ein Kafka gerade recht. Was glauben Sie, wie froh ich bin, wenn ich hier lese, Sie verbringen viel Zeit mit ihrem Sohn und anderem privaten Kleinkram, denk ich, dem Himmel sei Dank, der Autor als soziales Wesen, dass ich das noch erleben darf:).

    5. Selbstverständlich. Wenn sie gelingen. Schrieb ich ja. Der Teufelsfuß daran ist, daß wir nie wissen werden, ob es gelungen ist, vielleicht ahnen, in jedem Fall hoffen, aber nicht wissen. Vieles wird erst nach unsrer Zeit. Auf etwas anderes läßt es sich in der Kunst nicht bauen.

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