Die Fenster von Sainte Chapelle. Aus der Überarbeitung fürs Buch (2). Les secrets de Paris (13).

[>>>> „Original”text im zweiten Absatz von 6.06 Uhr.]


Und später der vergessene Abgang in einem ganz anderen Arrondissement, der riesige Metallrost dort, durch den man in die Tiefe sah, ohne daß wir ihren Grund erkennen konnten. Schließlich Minh Chau, das, behauptete Jenny, „kleinste Lokal von Paris”. Zu Nachmittag aßen wir dort frische, in einen transparenten Teig aus Reis involtierte Frühlingsrollen. Mit solchem Genuß biß Jenny hinein! ich konnte gar nicht anders, als zu denken: sinnlich i s t sie ja. Wahrscheinlich stellte sich da schon die Weiche. In der Tat fassen sich die Dinger wie ein ziemlich großer, allerdings schlaffer Männerschwanz an; die verdicken Adernstränge unter der Haut werden von der eingerollten Minze gegeben, als Drüsen fungieren die rötlichen Leiber von Krabben.
Schließlich noch, alldies an einem einzigen Tag, besuchten wir eine niedrige Kapelle, die einen gedrungenen und so niedrigen Turm hatte, daß ich den Eindruck eines stumpfen, weil geschleiften Bergfrieds hatte. Der Turm war mit dem eigentlichen Gebäude auch gar nicht verbunden. Wenn es stimmt, daß Kirchentürme den Blick über das irdische Dasein erheben sollen, blieb dieser auf das wuchtigste mit der Erde verbunden, ja auf sie gepreßt
Die Kapelle ließ sich nur durch den Keller betreten. Vor ihr war in eine schräge, nicht sehr hohe Rampe eine Tür eingefügt, die aus zwei Klappen bestand, welche man zur Seite je umlegen mußte. Versperrt war sie mit einer von einem Sicherheitsschloß zusammengehaltenen Eisenkette. Jenny hatte den Schlüssel bei sich. Ein Gang führte mit Stufen hinab, gleich links gab es einen Lichtschalter. Wir folgten den seitlich angebrachten Neonröhren, deren Licht nicht deshalb so funzlig war, weil es flackerte, sondern es lagen fette Staubschlieren auf den Glaskörpern.
Der Weg führte drei Meter nach unten, dann kamen zehn horizontale Meter und der Aufgang. Jetzt die Tür, aus einem unangenehm ergrauten, ja vergilbten Holz, war nicht verschlossen. Daß sie nicht quietschte, als Jenny sie aufzog! Nein, sie glitt um die Angeln wie durch Öl. So traten wir ein.
Die Kapelle bestand aus einem einzigen, ziemlich hohen Schiff. Es war aber nicht, daß sie quasi leer war, daß es weder einen Altar gab noch Bänke. Die Wände waren völlig nackt, nur hier und da ließen sich Reste farbiger Fresken erkennen, die auf glatte, überm Rohputz erhabene Reliquien eines vergangenen Steins gemalt worden waren. Sondern was mich sprachlos machte, was mich erschreckte, was mich schwindelig machte, ja mir wurde fast übel, das war -: daß es riesige Fensterflächen gab, die sich viel höher hinaufstreckten, als man von außen sehen, als man von außen nur ahnen konnte. Aber all dieses Glas war blind. Wäre nicht von draußen ein ebenso graues Licht durch sie gefallen, wie es im Gang die Neonfunzeln aussendeten, ich hätte glauben müssen, man habe die Fenster vermauert. Allerdings war anzunehmen, daß man sie auf der Tagesseite zugeklebt hatte, vielleicht um ihnen eine letzte, aber doch sterbende Stabilität zu verleihen. Es konnte sein, daß die Scheiben so tief in den romanischen Bögen lagen, daß sich das von draußen nicht sehen ließ. Da nahm Jenny meine Hand.
„Eigentlich”, sagte sie, als sie meine Blicke gewahrte, „ist alles anders. Das leuchtet alles vor Farbe. Das Licht ist ein Wasser, ein Meer.”
Ich war so bedrückt, daß mir ihr schwärmerischer Ton nicht nur nicht auffiel; er paßte gar nicht zu ihr. Sondern erst drei Tage später begriff ich. Es war nicht an Jenny, sondern Melusine Barbys, meiner Leserin, Teil, daß das geschah.



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3 thoughts on “Die Fenster von Sainte Chapelle. Aus der Überarbeitung fürs Buch (2). Les secrets de Paris (13).

  1. Der Profi und Frau v. Samarkand? Sehr geehrter Herr Herbst,
    als Neuleserin Ihres Blogs habe ich in den vergangenen Tagen Ihre Paris-Erzählung verschlungen! Da man nun dank des Weblog-Formats die ungewohnte Möglichkeit hat, dem Autor Fragen zu stellen, traue ich mich mal und frage Sie etwas, was langjährige Leser natürlich wissen, aber ich nicht herausfinden konnte: Wer sind denn der Profi und die Frau v. Samarkand? Sind das reale Bekannte von Ihnen aus Berlin oder fiktionale Charaktere?
    Herzliche Grüße

    1. Sehr geehrte Frau Mairlys, der Profi ist ein bereits seit langer Zeit durch Die Dschungel mitjagender Freund, Frau v. Samarkand eine in mehrfachem Sinn eher junge Freundin. Eine Weblog-Erzählung ist nicht nach hinten noch nach vorne abgeschlossen: in sie führen Spuren hinein und andere hinaus; nur weniges bleibt auf sich selbst beschränkt. Insofern erschließt sich vieles um so besser, je mehr man auch aus sonstigen Beiträgen Der Dschungel kennt. Man m u ß es aber nicht kennen, weil es nicht schlimm, ja vielleicht sogar wünschenswert ist, daß von einer Erzählung nicht alles sich jederzeit öffnet.

      Unbekannterweise herzlich,
      Ihr
      ANH.

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