(Der Kitschvorwurf ist zu absurd, als daß man – angesichts der von mir verwandten künstlerischen Form – darauf eingehen müßte. Kitsch ist nicht, wenn jemand Gefühle darstellt, sondern wenn sie h o h l dargestellt werden. Und es ist schon gar nicht Kitsch, wenn ihre ganze Ambivalenz zur Gestaltung kommt. Wer immer da Kitsch gesagt haben mag, hatte ein Problem mit seinem eigenen Gefühl, mit der Absolutheit des Gefühls.)
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Vergana, Joseph Conrad und kein Ende… Aus der Wikipedia:Durch die Mehrdeutigkeit von Conrads Erzählungen hindurch lässt sich jedoch ein negativer Erkenntnisakt (Helmut Reinicke) nachvollziehen: Aus der Binnenperspektive des kolonialen Imperialismus treibt er die Dialektik zwischen westlichen Idealen und den Realitäten kolonialer Plünderung und vernichtender Gewalt über die Grenzen seines eigenen Horizonts hinaus.“
Ich hatte gestern eine Diskussion mit einer Frau über die Vergana.
Des Autors Frauenbild wäre geprägt von Furcht vor der Frau, der Verführerin, der Mann, ihr Opfer, sei zentrales Thema. Der schwerste Vorwurf in ihren Äußerungen gipfelte in der Behauptung, dass in der Vergana in Kolonialherrenmanier über die Frau gesprochen wird. Glücklicherweise half mir Paul Reichenbachs gestriger Tagebucheintrag weiter, sein Verweis auf Joseph Conrad diente mir als Argumentationshilfe. Der „negative Erkenntnisakt“, den die Lektüre Conrads heraufbeschwört, ob gewollt oder nicht, zwingt seine Leser zur Parteinahme und verhindert eine Identifikation mit den Protagonisten. In diesem Sinn ist Conrad ein Kritiker der Zustände, deren Folgen in den armen Regionen unserer heutigen Welt zu besichtigen sind. Dabei kommt er ohne belehrenden Zeigefinger aus. Ihre Erzählung geht formal, nahezu sprachlich genial, andere Wege. Aber auch hier tritt, der für Conrad gültige „negative Erkenntnisakt“ ins Bewusstsein der Leser, wenn sie denn offen sind und die Gestalt Herbst in der Erzählung nicht mit dem realen Autor verwechseln. Meine Gesprächspartnerin führte dann Thomas Mann ins Feld. „Mario und der Zauberer“. Hätte Th. Mann die Novelle aus der Perspektive des Cipolla geschrieben, wäre die Geschichte zutiefst inhuman geworden, so ihre Worte. Erschreckend, so meinte sie, ist meine relativistische ästhetische Wahrnehmung, was Ihre Novellen anbelangt. usw… Die Erzählung Vergana sei für sie deshalb besonders ärgerlich und politisch gefährlich, weil der Autor keine Distanz zu sich und dem Protagonisten und Erzähler herstelle. Der (scheinbare – von mir eingefügt )Mangel der Unterscheidbarkeit des agierenden virilen Personals provoziere geradezu eine Ablehnung selbstbewusster Frauen.
Zur Forderung nach Distanz. Vergana ff. Sagen Sie, falls Sie sie wieder sprechen sollten, der Frau ruhig von mir, daß es gerade d a r u m geht, k e i n e moralische Distanz herzustellen; das haben Leser selber zu tun in ihrer Bewertung – und nicht einer des Autors (den bewertet man schlecht, wenn er schlecht schreibt, und nicht, wenn er ‚Schlechtes‘ schreibt; was wäre sonst mit z. B. Genet?), sondern einer des erzählten Geschehens. Nämlich läßt die andere, persönliche, Bewertung außer Acht, daß gerade diese Erzählung auch Imagination ist. Klarer als in ihr läßt sich f ü r Maria Vergana Partei gar nicht n e h m e n: gerade Ihre Gesprächspartnerin scheint nun nämlich v ö l l i g Partei für diese Figur ergriffen zu haben, und es, ließe sich dagegenhalten, ermangele i h r an der nötigen Distanz. Darum köpft sie den Boten für die Botschaft.
Genau so freilich f u n k t i o n i e r t meine Erzählhaltung aus der N ä h e: das Leid der Geschilderten geht direkt in ein Leid der Leser über, sie w e r d e n Vergana-selbst. Und es spiegelt sich nun die Wut Verganas auf den, den sie im Erzähler wiederzuerkennen glaubt, in der Wut der Leser auf den Autor. – Dies scheint mir die adäquateste Art zu sein, ein solches Leid zu erzählen, indem es im Leser wiederaufersteht. K e i n e distanzierte Erzählform kann das leisten, schon gar keine, bei der sich der Autor mit seinen Lesern von vornherein einer Meinung gibt. Dann klagt man zusammen über den Zustand der Welt, und das war’s dann. Wenn es einem Leser also darauf ankommt, in seinen Meinungen expressis verbis Bestärkung zu finden, sollte er Parteiprogramme hernehmen, von Literatur-als-Kunst aber die Finger lassen. Im übrigen frage ich mich, à propos Th Mann, wie Ihre Gesprächspartnerin wohl mit seinem Doktor Faustus umgeht. D a s, nicht der marginale und öde Mario, wäre nämlich die anzulegende Vergleichsschiene. Allerdings, via Serenus Zeitblohm, gibt Mann seinen Lesern eine kleinbürgerliche Identifikationsfigur an die Hand, die deren letztliches Bedürfnis nach moralischer Harmonie erfüllt, auch wenn die wirklich allein interessierende Figur Leverkühn ist. So etwas findet sich bei mir nicht, da mir Ironie als ein Mittel der Versöhnung vorkommt, wo Versöhnung nicht angesagt ist, sondern Tragik. Denn in der Vergana ist ja auch Schuld zweifelhaft: h a t der Erzähler sie denn? Ist es denn wirklich s e i n e Geschichte? Und als die Vergana ihn angriff: m u ß t e er sich nicht sogar wahren? – Ich weiß auf alledies auch keine eindeutige Antwort; und diese Uneindeutigkeit spiegelt der Text auf die Leser. – Im übrigen hätte ich gern Belege für die „Kolonialherrenmanier“. W o bitte wird je so über Vergana gesprochen? Ja, was m e i n t dieser mich inkriminierende Begriff?
Kolonialherrenmanier, da ging das Temperament mit ihr durch . Sie stieß sich an der Herkunft der Titelfigur. Die Darstellung ihrer faszinierenden „Exotik“ würde, so meinte sie, einem verkappten Rassismus das Wort reden, auch wenn der Autor das nicht gewollt hätte, die 3. Welt würde auf diese Weise als Bedrohung dargestellt und dgl… Wir fanden in dem Gespräch einfach nicht zueinander
Demnach fällt „faszinierende Exotik“, vor allem, wenn erotisch besetzt. Unter anti-pc? Wen demzufolge eine andersethnische Frau erregt, muß darüber schweigen, weil schon das als rassistisch gilt? Im übrigen ist a l l e Erotik, symbolisch gesehen, eine Bedrohung: da sie Körpergrenzen einreißt. Das liegt im Erotischen selbst, das liegt ganz besonders im „Eindringen“, also der Penetrierung des weiblichen Körpers durch den männlichen. Man muß diesen Gedanken nur zuendedenken, damit einem klarwird, daß in einer solchen Argumentationskette die körperliche Vereinigung s e l b s t abgewehrt und denunziert und, wenn es unserer Art denn ums Weiterleben g e h t, der Gentechnologie das Wort geredet wird. Ich halte entschieden >>>> Paglia dagegen. Sexualität und besonders Erotik sind deshalb immer a u c h Bedrohung, weil sie die Grenzen des Individuums zumindest kurzfristig auflösen: Sie sind ein Angriff aufs autonome Ich. Wer das in der künstlerischen Gestaltung erotischer Geschehen nicht miterzählt, l ü g t. Und zwar meistens mit Absicht: um es vor sich selbst geheimzuhalten.
Was an dieser Bedrohung eigentlich fasziniert, ist, daß sie l o c k t. Wir können fast dasselbe bei Sexualgerüchen feststellen, deren nahe Verwandtschaft zur Ausscheidung ganz offensichtlich ist und die wir – nicht erregt – scheuten; erregt hingegen s u c h e n wir sie.
ich nehme an (ich nehme an? es ist so), das ergebnis der angesprochenen distanz wird hier sehr eindrucksvoll beschrieben: Die blutige Trauer des Buchhalters Michael Dolfinger – von Alban Nikolai Herbst ( http://www.die-dschungel.de/ANH/boox/dolfinger.htm ). auch hier das „kolonialherren-problem“, das überleitet in das lockende. nur, das hier das einstige „nachgeben“ gegenüber der verlockung (verführung ist falsch, auch wenn dies wort kurz auf der zunge lag und sich von dem, was paul reichenbach ( /?p=10437/ ) schrieb, abzweigen wollte) ihn dann wieder einholt und an seinem „nachgeben“ rüttelt. distanz. man kann auch einen millimeter nur von sich selbst distanziert sein: es ändert nichts an der beobachtung dessen, was das Ich selbst mit dem engsten spielraum anfängt. es verschmiert die ritzen, es puhlt sie wieder auf, es will hinein und will verschließen. es will und ekelt sich hinterher vor dem gewollt haben. es eliminiert. es will als leergewicht der last entledigt sein. es fragt aber nicht nach denen, die die last auf- und abladen. das Ich ein sandhaufen, der da liegt, wo man ihn hingeschüttet hat. hierzu schrieb ich mal bei mir: „I did my duty“. aber genauso könnte man sagen: nein „I did it my way“ gefällt mir jetzt nicht mehr, da war noch was anderes… entlaufen? wahrscheinlich. wie so vieles. auch die kolonialherren in den tristen tropen célinscher manier. ich schweifte so lala…
Ich fühle mich einer analytischen Diskussion hier nicht gewachsen, aber die „Ablehnung selbstbewusster Frauen“ hat nun mich provoziert, weil ich, wenn ich nicht ablehne, dann meines Selbstbewusstseins beraubt wäre? Die Vergana – als Erzählung und als Figur – legt so sehr Zwiespältigkeiten frei, nicht nur in Männern (siehe solche Reaktionen), sondern auch in Frauen, ich finde einen Schlüsselsatz, sie ließ ihn „symbolisch dasselbe mit ihr tun“, und dann diese Mädchentanzbeschreibung, die Brisanz dieser nicht eindeutigen Opferrolle, das ist wohl schwer zu lesen. Und gerade die gnadenlose Verquickung von Autor-Erzähler-Protagonist macht für mich den Reiz, die Macht dieser Geschichte aus, weil sie die andere Verquickungen in jedem von uns bloßlegt.
So ähnliches ging mir jedenfalls heute bei meiner >>Wanderung durch den Kopf.
„Sie l i e ß ihn wiederholen.“ @conAlma et al. Vergana ff. Genau solche Ambivalenzen, die ganze Ineinandergeschlungenheit von Opfer und Täter und daß bisweilen t a t s ä ch l i c h nicht (mehr) eindeutig zugeordnet werden kann, wer w a s ist, sind in einem dichterischen Text dieses Themas zu gestalten. Ja. „Dichtung“ bedeutet a u c h, Verschwiegenes, von dem man vielleicht gar nichts weiß, in sich freizulegen, „Kunst ist Archäologie“ heißt es in meinem verbotenen Buch, ein Künstler g r ä b t, und dann gibt er den Scherben, die er ausgegraben hat, ihre alte – oder eine neue, adäquate – Form zurück. Deshalb geht es in Kunst gerade n i c h t darum, wie jemand und etwas zu sein h a b e, sondern, fast wie im psychoanalytischen Prozeß, soll erfahren werden – egal, ob uns nun das, w a s wir erfahren, schmeckt oder nicht. Damit es erträglich wird, wandelt der Künstler es in das um, was ich SCHÖNHEIT nenne: sprachliche, bildliche, auch in Schönheit der Erzählkonstruktion, die etwas herstellt, was diese Fragmente nicht oder nicht m e h r haben: Geschlossenheit und ein narratives Ende, wie die Coda etwa am Schluß einer Sinfonie. Es hat seinen Grund, daß ich für jedenfalls m e i n e Literatur mich immer wieder auf Formen der Musik beziehe, und zwar ganz definitiv auf Formen der E-Musik, weil Unterhaltungsmusiken ein solches kathartisches Moment q u a F o r m nicht leisten, sondern nahezu immer schon auf den je nächsten Hit angelegt sind, der formal bloß wiederholt.
W a s möglicherweise so schwer ausgehalten wird, ist die unbedingte Offenheit, die ich anstrebe, ist die Radikalität, die es mit sich bringt, daß moralische Kategorien in den Erzählungen und Romanen nicht wirken; deshalb werden sie auf den Autor projeziert. Wenn sich eine Erzählung nicht verdrängen läßt (zum Beispiel, weil sie ‚zu perfekt‘ – auch so eine Begriffskombination der Angst – erzählt ist), verdrängt man den Autor und schiebt andere Autoren, harmlosere, in der öffentlichen Wahrnehmung vor ihn. Liest man das neue Heft von Sigrid Löfflers LITERATUREN (11/06) und darin den Aufsatz von Andreas Rosenfelder über Weblogs und schaut sich – bei Kenntnis Der Dschungel – an, auf welche Weise und mit welchem marginalen Zitat und welchem S c h l u ß aus ihm sie Erwähnung finden, dann erkennt man diese willentliche Verdrängungsbewegung genau. Unterm Strich ist eine Literatur der Intensitäten oder, wie ich gestern schrieb, der Aufladung gerade nicht gewollt; deshalb auch die ständigen Rufe nach Distanz: „Erzähl mir davon“, heißt das, „aber laß mich in Ruhe – laß mein Ich in Ruhe; ich werde es nicht mit hineinziehen lassen.“ Dadurch wird aber Katharsis verunmöglicht; in den alten Tragödien, die K l e i s t wiederbelebte und dafür ebenfalls ausgegrenzt wurde (und die im Film mehr als ein Jahrhundert später auch in Hans-Jürgen Syberbergs Konzept wiederauftauchen, mit einem öffentlich ähnlichen Ergebnis), geschah die ‚Reinigung‘ eben d u r c h Hineinziehen der Subjekte in das künstlerische Geschehen. In der großen Musik ist das bis heute so; aber weil sie nicht-sprachlicher, also nicht konkreter Natur ist, die die Dinge benennen würde, können viele es bei ihr zulassen, die bei dergleichen in Sprachkunstwerken aber auch sofort an die Decke gehen.
Und genau dieses Nicht-in Ruhe-Gelassen-Werden muss es sein, das mich nicht aufhören lässt hier zu lesen.