He thinks, as a consequence of this, that it may be possible to live visually in one part of the world, while one lives bodily in another.
H. G. Wells
Das Unbekannte siegte.
Nabokov
Es ist dies, nach der >>>> Venezianerin, die zweite Erzählung Nabokovs, die sich als Variation auf das Thema eines anderen von ihm geschätzten Autors lesen läßt. War es Oscar Wilde dort, so ist es hier H. G. Wells, nämlich dessen The Remarkable Case of Davidson’s Eyes aus dem Jahr 1895. Doch wenn Sie, Ersehnte, die Sprachen vergleichen, werden Sie unschwer finden, daß Nabokov die, nennen wir’s lax, “Vorlage” auf ein sie stilistisch weit, weit überragendes Niveau hebt, ihr eine tatsächlich künstlerische Form verleiht, so daß diese Prosa eben nicht in ihrem “Plot” aufgeht. Es ist dies, was mich geradezu zwang, den Text gleich zweimal hintereinander zu lesen; andernfalls wäre mir zu viel entgangen.
Ihre fieberhafte Objektivität erlangt die vor 1931 geschriebene, 1931 indes erschienene Erzählung – hier abermals von Dieter E. Zimmer übersetzt – auch durch einen extrem bedeutsamen Perspektivwechsel. Was bei Wells noch auktoriale Erzählung ist, die einen Beobachter von den Vorkommnissen berichten läßt, bzw. den Lesern hinterträgt, was sein Mr. Davidson behauptet, fallen wir bei Nabokov in sozusagen dessen eigene, also die subjektive Wahrnehmung. Doch eben sie, weil sie zugleich ihre eigene ist, schnitzt aus sich selbst diese stupende Objektivität heraus:
Ich starrte die unheimlichen Baumstämme an, um die hier und dort dicke, fleischfarbene Schlangen geringelt waren; plötzlich meinte ich(,) zwischen den Stämmen wie zwischen den Fingern meiner Hand den mit undeutlichen Reflexionen angefüllten Spiegel eines halbgeöffneten Kleiderschrankes zu erkennen, doch dann bekam ich mich wieder in die Gewalt, sah genauer hin und stellte fest, daß es sich nur um den trügerischen Schimmer eines Acreana-Busches handelte (einer rankigen Pflanze mit großen Beeren, die dicklichen Pflaumen ähnlich sehen).
S.561
Noch ein Großer, übrigens, schrieb dem Thema eine Variation, aber knapp vierzig Jahre später, nämlich Stanislav Lem. Ich meine den Futurologischen Kongreß von 1970, der aus der phantastischen Vorlage eine der Science Fiction machte und abermals später, neben Daniel F. Galouyes Simulacron-3, als Urbild für der Wachowski-Starships Matrix-Serie stand. Worauf hinzuweisen ich hiermit der erste bin, jedenfalls meines Wissens. Schon Galouye mag sich allerdings auf Wells bezogen, es nur nicht gesagt haben, ebenso Lem. Daß sie, bei Galouye freilich unwahrscheinlich, Nabokovs Version kannten, nehme ich hingegen n i c h t an; allerdings hat Lem sich eingehend mit Lolita >>>> beschäftigt.
Erzählt wird von zwei gleichzeitig existierenden, bisweilen ineinandergreifenden, einander dennoch ausschließenden Welten, deren eine in Nabokovs Erzählung fast parodistisch wirkt, nämlich umso stärker, als die Grunderzählung – die letzten Tage einer scheiternden Expedition durch die tropische Dschungel möglicherweise Asiens oder auch Südamerikas – mit einer vom Erzähler ziemlich unabhängig handelnden Personage ausgestattet ist, einigen Indioträgern,
große, glänzend braune Badonier mit dicken Haarmähnen und kobaltblauen Arabesken zwischen den Augen,
S.558
dann des Erzählers “gutem Freund” Gregson, der aber ziemlich schnell die Hand am Revolver hat, und dem larmoyanten Mr. Cook, dessen ihm eigene Art
eine Mischung aus Frechheit und Unterwürfigkeit war und an einen Shakespear’schen Clown denken ließ: doch bald schon hatte ihn sein Übermut verlassen, er wurde nachlässig und fing an, seine Pflichten zu vernachlässigen, zu denen das Dolmetschen gehörte, da Gregson den badonischen Dialekt noch immer nur schlecht verstand.
S.559
Die zweite, “andere” Welt hingegen ist nichts als eine karge Kleinbürgerstube, fast eine Persiflage, Parodie eben, auf ein tatsächliches Leben: grau und verschwommen unklar hinter der so farbigen wie geräuschdurchschmetterten Präsenz der Dschungel, der Nabokovs ganze hypotaktische Detaillust gilt:
Ineinander verschlungen bildete das Gezweig der porphyrhaltigen Bäume und der schwarzblättrigen Limia einen Tunnel, den ab und an ein Strahl matten Lichtes durchdrang. Oben, in der dichten Vegetationsmasse, zwischen leuchtenden hängenden Blütentrauben und irgendwelchen seltsamen dunklen Gewirren, schnappten und schmetterten silbergraue Affen, während ein kometartiger Vogel mit dünnen, schrillen Schreien wie bengalisches Feuer vorüberzuckte.
a.a.O.
Mit einigem Grund können wir das Gedankenspiel unternehmen, hier vielleicht doch noch >>>> Mr. Pilgrams tatsächliche Reise erzählt zu bekommen; nämlich mit Utensilien des Schmetterlingsfangs ist zumindest Mr. Gregson auch hier ausgestattet.
Doch (…) in diesen letzten Minuten wurde alles vollkommen deutlich; mir wurde klar, daß alles, was sich um mich her abspielte, nicht der Wahn einer entzündeten Phantasie war, nicht der Schleier des Deliriums, durch das hindurch sich flüchtige, unwillkommene Bilder meines vermeintlich wahren Lebens in einer fernen europäischen Großstadt zu zeigen versuchten (die Tapete, der Sessel, das Glas Limonade). Mir wurde klar, daß die aufdringliche Stube eine Erfindung war, wie alles jenseits des Todes im besten Fall eine Erfindung ist: eine hastig zusammengebaute Imitation des Lebens, die möblierten Zimmer der Nichtexistenz.
S.569/570
Die Expedition geht nicht gut aus, ich deutete es Ihnen, meine Freudin, schon an. Anders als das zweite, ebenfalls aus dieser Erzählung stammende Motto meines heutigen Beitrags es will, siegt deshalb das allzu Bekannte, denn zwar: Noch folgen des Erzählers Augen
einem herrlichen Käfer, der über einen Stein kroch, aber es blieb mir keine Kraft, ihn zu fangen. Alles um mich her verblaßte und ließ die Szenerie des Todes kahl – einige realistische Möbel und vier Wände.
S.571
Hier ist das Wort “realistisch” von äußerster und bitterster Bedeutung. Vergessen wir nicht, daß Nabokov 1931 ein noch nicht wahrgenommener, quasi bedeutungsloser Schriftsteller im Exil war. Und diese vier Wände, nun jà, sie standen in Berlin. Fast jede der frühen Erzählungen umkreist dieses Exil, berührt es zumindest. Terra incognita ist hingegen der erste, zwar inhaltlich, doch formal in keiner Weise scheiternde Versuch, ihm zu entkommen,
und von neuen donnerte der tropische Himmel in seiner steten, dichten Bläue.
S.662
Ihr ANH
bei Verdis Messa da Requiem