Ayana, das Tempelchen der Venus und die Weltmeisterschaft: Das Kästchen des Teufels (2). Das Arbeitsjournal des Mittwochs, dem 21. Juli 2010. Dazu gesellt sich ein Wechselkoidl. (Sieben Tage vor Rom).

8.19 Uhr:
[Arbeitswohnung.}
Also das Tempelchen der Venus am Stutti in Charlottenburg. Erst dachte ich: au wei, was eine Absteige! Ordinär fette Schrift auf dem na-klar-roten Baldachin überm Eingang, rechts darin das verschlierte Cassa-Fensterchen, wohinter ein so verhärmtes Frauengesicht, daß man hätte geben mögen, wären nicht sowieso zehn Euro zu zahlen gewesen. Die ich untendurch schob… unten durch, ah verzeihen Sie! Die Frau fand mich, wie niemanden mehr, nicht sympathisch, ich zog die innen gepolsterte Tür auf, ein schwerer Deckenvorhang, dahinter schütteres Licht und das Gebumper des Pops, sowie eine für diesen Sommer zu warm eingestellte Klimaanlage: doch es wurde geraucht, und die Mädchen… verzeihen Sie abermals: Mädchen… „Damen“ wär aber ebenfalls respektlos, in diesen Zusammenhängen… also >>>> die Geschöpfe sollten ja nicht frieren. Gegen die Mitte der Wand meiner Stirn gegenüber die Drehscheibe, aus der eine deckenhohe silberfarbene Stange wuchs, um die sich die Drehscheibe drehte; drumherum bassinhaft der stumpfe Zylinder des Glases, so daß ich denken konnte: Fische seien das, die darin. Um die Vitrine, ganz nahe an ihr, eine Stuhlreihe; die zweite Stuhlreihe dahinter hatte bereits Tischchen. Bizarr aber neben der Show ein riesiger Monitor, worauf Argentinien gegen Holland. Der Kommentator hyperventilierte stimmgestikulierend gegen den Tanz, was eine solche Komik hatte, daß selbst ich mich mit dem Fußball versöhnte. Außerdem hatte ich die Tänzerinnen gleichsam für mich allein, weil die wenigen Gäste, die heute abend hierwaren, völlig gebannt auf den Fernsehschirm starrten; die Tänzerinnen hätten nicht nur die Kleidung, nein, sie hätten ihre Brüste abstreifen können: von den Männern hätte das keiner bemerkt. Also außer mir.
Eine Thaifrau tanzte. Na gut, sie tanzte schon nicht mehr, sondern spagatete im Liegen vor sich hin: das linke Bein auf, das linke Bein ab, gestreckt selbstverständlich, die linke Hand locker auf der Seite des linken Knies. Die Tänzerin gähnte einmal sogar, routinierte sich müde durch den Restauftritt ihres geradenen Dranseins. Noch fiel kein Tor. Dennoch bat der Anreißer-DJ vor lauter Selbsterregung um Applaus. Frau Thai kam hoch, nahm ihre verstreuten Sachen und ihre Decke von der Scheibe und ging auf High-Heels durch ein Türchen hinaus. Der Anreißer selbsterregte sich für die nächste Madame eines diesmal deutlich älteren Lustsemesters. Ich habe keine Ahnung, weshalb jeder andere Ausdruck als „Frau“ für die hiesigen Frauen so despektierlich klingt. Jedenfalls müßte ich, um das zu vermeiden, wieder auf „Mädchen“ zurückkommen, was aber nur bei einem Achtel der Tänzerinnen stimmte. Aber ach! wie sollte ich a h n e n! Nicht, daß nach dieser nun, die ähnlich ermüdet ihre Entkleidung vollzog, die Dottoressa erschien, um nunmehr i h r e Nummer zu geben… nein, nein, das nicht; das steht für sich; es war eine Nummer rein für mich, weshalb auch gar keine Nummer: welch hoher Grad von Intimität inmitten der öffentlichsten Öffentlichkeit unter den Hunderttausenden Blicken der Fans, die aus dem Fernseher auf uns schauten… lassen Sie mich d i e s e n Genuß diskret behandeln… – aber ahnen, was danach geschah, n a c h dem errungenen Titel, als das Gerät ausgeschaltet wurde und sich die aufgeregte Sparsamkeit der anwesenden Gäste sehr allmählich zurück auf den Tanz konzentrierte –

– Moment – –

10.44 Uhr:
Ich mußte eben dringend auf die Post und hab gleich noch etwas eingekauft, aber dieses blöde Video vergessen, das ich hätte abgeben sollen. Nun kann ich nachher noch einmal los… – Na gut.

Ich >>>> schrieb ja schon, daß Kerzen angezündet wurden, was ich höchst eigenartig fand. Außerdem wurden – n a c h dem Sieg Philipps II; die Dottoressa hatte zwischenzeitlich drei Auftritte gehabt; mir wurde gar nicht klar, nach welcher Reihenfolge der DJ die Mädchen auf die Drehscheibe rief; aber mir wurde klar, weshalb die älteren Mädchen, eine deutlich älter als fünfzig, sich immer noch ausstellen durften: sie waren die, mit einem Wort, lüsternsten – also außerdem wurden einige Männergäste höflich, aber bestimmt gebeten, doch nunmehr zu gehen. Schon das kannte ich nicht. Immerhin i c h durfte bleiben. Was der Dottoressa zu verdanken war, alleine ihr, nein, nicht allein, sondern ihr und – >>>> Ayana. Sie nämlich kam dann an der Hand ihrer Freundin durch die Tür zur Künstlergarderobe geschritten. Es sah aber aus, als erkennte sie mich nicht. Obwohl mir die Dottoressa doch erzählt hatte, ihre Freundin wolle mich kennenlernen… das hatte sie ernst gemeint, dieses „lernen”? Ganz offenbar.
„Es lohnt sich”, sagte die Dottoressa. „Sieh dir nur ihre Brüste an!”
„Ich kenne ihre Brüste”, sagte ich.
„Zeig sie ihm”, sagte, meinen Einwand ignorierend, die Dottoressa. Und zu mir: „Sie ist so scheu! Es lockt sie, sehr…” wieder zu ihr, wobei sie sie auf den Hals küßte: „..nicht wahr, meine Schöne?” So daß ich ganz plötzlich begriff, was der Profi gemeint hatte mit seinem Satz – diesem der Zeitweg ist geplatzt; nämlich: was sich >>>> an diesem Montag ereignete, dem 12. Juli, ereignete sich lange vor dem, >>>> was sich knapp zwei Wochen früher, nämlich am 1. Juli, ereignet hatte, welches ein Pariser Donnerstag gewesen ist. Sie erinnern sich? „Qui m’aime me suive”… Als ich Ayana jetzt kennenlernte, war sie von ihrer Profession noch getrennt; ich habe bis jetzt keine Ahnung, wieviele Jahre, wieviel Erfahrung, wieviel Rausch dazugehörten, sie ins Paris des 11ème Arrondissements zu bringen –
„Marguerite”, sagte die Dottoressa, „dies ist Alban. Alban: Marguerite.” Und indem sie das sagte, streifte sie ihrer Freundin den linken Träger über die Schulter hinab.
Ich saß wie starr. Ihre Freundin ließ die Entkleidung geschehen, sah scheu zu Boden, wirklich scheu. War sie gezwungen zu tun, was sie in Paris dann gerne tat? Gerne… ich weiß. Welch ein schwieriges Wort in diesen Zusammenhängen –
„Siehst du, wie fest diese Brust ist? Man läge ihr zu Füßen, wenn sie sich endlich traute…”
„Vielleicht will sie ja gar nicht… – Wollen Sie nicht?”
Da sah Marguerite auf und antwortete entschieden: „Selbstverständlich will ich.”
Die Dottoressa: „Jetzt?”
Maguerite sah mich an. „Möchten Sie das?”
„Ja”, sagte ich.
Die Dottoressa gab dem DJ ein Zeichen, die Musik erlosch. Mit mir waren vielleicht noch fünf, vielleicht sechs Männer da; ich achtete nicht drauf, versuche erst jetzt, mich zu erinnern. Aber eines ist klar: Ayanas fürderer Lebensweg wurde von mir nun bestimmt. Das, nichts anderes, war der Grund für die eigenartige Vertrautheit gewesen, die sogleich, nachdem mich die Frau in Paris angesprochen hatte, zwischen uns wirkte. Nur daß ich das da nicht mehr wußte.

Der Zeitweg ist geplatzt. Verstehen Sie nun die Verwirrung meiner letzten Tage? Immerhin lag auch die Serengeti noch dazwischen. Verstehen Sie meine Fahrigkeit? Meine eigene Linearität wurde aufgehoben, und auch das, ich bin mir ganz sicher, hängt >>>> mit dem Gräfin zusammen.

Lassen Sie mich Luft holen, bitte –

13.20 Uhr:
Unter der Sonne gewesen, alle zwei Tage acht Minuten: grad so, daß es nicht langweilig wird und man ein wenig Bräune erhält, die sich beim Fahrradfahren intensiviert. Zuvor rasiert, den Bart, die Achseln, die Hoden, doch obwohl sich die Dottoressa nachts beklagt hat, eine Stelle ausgelassen, schlichtweg, weil ich nicht rankomm und Verletzungen nicht schätze. Die Dusche, die Crème. Noch kein Parfum, und sowieso: ein anderes heute, damit die eigene Wahrnehmung nicht stumpf wird. Die kleine Sammlung von Parfums einiger Geliebter; die engsten, wenn sie gingen, behielt ich immerhin als Duft, mitunter für zwei Jahrzehnte, manchmal noch länger (1981, Mille de Patou). In ARGO ist dem ein Liebesbriefchen in Gestalt einer Szene gewidmet.
Dann noch weitere Post erledigt; vor allem sind Lesungen zu terminieren.
Morgen kommt mein Sohn zurück.
Morgen fahre ich eine Freundin besuchen, die, anders als wir, ihre Zeit weiß.

Die Kerzen. Es wurde immer wärmer, und Marguerite tanzte. Sie tanzte für mich, ich war ihr Verderber. Das ist kein Grund, drauf stolz zu sein. Doch wenn es möglich ist, daß etwas Späteres etwas Früheres bestimmt, dann, dachte ich, gäbe es d o c h einen Grund für die Freiheit, dann h ä t t e n wir Einfluß, und zwar selbst dann, wenn wir aufgrund neuerlicher Außenstöße abermals in die tragische Spirale gerieten…. Spirale, eben, nicht „Kreis”.
Ach, der nun wieder, rufen Sie, mit seiner versteckten Angst vor dem Tod! Da baut er sich Konstruktionen, die ihn für immer leben lassen, selbst, wenn er tot ist… – Daran ist etwas, ich weiß das, meine Leserin. Es ist aber, selbst wenn es funktionierte, nicht nur gut. Sondern dann könnte es geschehen sein, daß mein Sohn gar nicht geboren worden sein wird, oder, um das milder auszudrücken: ich selbst könnte niemals gewesen sein. Welch Hoffnung für meine Gegner! Schon deshalb werden die mir zustimmen und nicken: jajajaja – prima! bald ist er weg. Wozu mir ein Typ einfiel, der ein Frauenbuch geschrieben hat, ein Frauenversteherbuch, und der mir, >>>> von Frauen auf der letzten Messe umworben, seinen Kaffee über die Hose goß, allein weil ich kam und schnellstens wieder flüchten sollte. Roman Maria Koidl hieß dieses Mensch, also wenn es eins war und nicht vielmehr ein Wechselbalg, das sich verstellte. Man weiß nie, glauben Sie mir. Jedenfalls mußte ich in dem Venustempelchen an ihn denken, obwohl mir UF gerade eben erst eine Email geschickt hat, um mir zu erzählen, daß ausgerechnet Ursula März des Wechselkoidls Buch rezensiert. Dafür mochte die Frau >>>> MEERE nicht. Ich kann das schon verstehen. Es war überhaupt ’ne tolle Nummer, 2003 im ZDF, Radisch & März, dazu ich… ging einfach nicht. Ich bin kein Frauenversteher wie Roman Maria. Man hat mich auch nicht verunsichern können an meinem Geschlecht. Dabei waren die Karten günstig verteilt, da mich nur Frauen aufgezogen haben; es gab in der Familie gar keinen Mann. So daß man irgendwann begreift: du mußt dich wehren. Und zum Verderber Margaretens wird…
Die immer noch tanzte, vor einer Woche, nachts. Der Dottoressa rechte Hand lag dabei in meinem Nacken. Und wenn ich dran denke, was wir da tranken, werd ich so müd, daß ich jetzt meinen Mittagsschlaf b r a u c h e. Bevor nämlich ER kommt. Das war ein Schock. Und auch das hatte ich bis Paris wieder vergessen. Weil es erst später geschah.

15.23 Uhr:
So bleibt mir, jetzt nach dem Mittagsschlaf, fast nur noch, von >>>> Vergil zu erzählen, der bereits einmal, >>>> am 1. April nämlich, persönlich in mein Leben trat: „Ich habe auf Sie gewartet.” Das sagte er diesmal nicht, sondern: „Sie haben den Weg also beschritten.”. Erst bemerkte ich ihn gar nicht, so in der Dottoressa Hand geschmiegt und die Augen in, ja: in, Marguerites Tanz… dann aber war die Hand weg, es wurde fast kühl im Nacken, trotz der fehltemperierten Klimaanlage…. ja es war, als wäre sie plötzlich nicht ausgefallen, nein, sondern auf Gefrierfach gestellt. Ich sah zur Seite. Da saß Vergil. Er trug einen dunklen Anzug, das Hemd hochgeschlossen mit dunkler Krawatte, er rauchte eine filterlose Zigarette, an seinem linken Ringfinger prangte ein riesig roter Ring. Deshalb, bevor ich jetzt, anders >>>> als Benjamin Stein >>>> es tat, der ihn referierte, Bulgakov travestiere, bleibt mir eben nur noch, indem ich von Vergil indirekt erzähle, diese Frage: Was vertrete ich eigentlich? Ja, w e n? Vergil offenbar. Und der nun ist… Aber hören Sie! Welch eine Botschaft ist das denn, die ich Ihnen vermittle? Der Verderber Magueritens ist der, der ihr Verderben noch nachher genießt? Denn in Paris, da g a b sie sich mir, aus Freude, aus Überschwang, als wäre nicht ich schuld geworden an ihrem (kann man das sagen?:) beruflichen Werdegang. Und nicht nur in dieser Nacht… nein, auch am vergangenen Wochenende, abermals, >>>> in Gartow, wohin ich sie mitnahm. So wird also das Unrecht nicht bestraft? Nein, wird es nicht. Oder doch: aber nur dann, wenn andere Verbrecher, die an der Macht sind, es so wollen.

Düstere Botschaft.
„Sie haben den Weg also beschritten.”

20.07 Uhr:
Endlich an >>>> Die Fenster von Sainte Chapelle gekommen. Überarbeitung zum Buch, die ersten drei Kapitel soweit fertig. Das Problem sind die Kommentare, für die ich in das Buch hinein eine Form finden muß, über die sie ästhetisch begründet werden. Verzichten mag ich weder auf sie, noch könnte ich das: weil sie in sich teils die Handlung vorangetrieben haben. Ich versuche ein Verfahren, in dem ich die Schreiber selber anspreche und darin ihre Einwände usw. beantworte; aus der Antwort wird der Einwand klar. In diesem Sinn sollte es gehen. Aber vielleicht finde ich dazu auch noch Varianten. Immerhin, ich arbeite wieder, entdecke auch Fehler und/oder forme Motive klarer heraus. Zugleich will ich aber den Plauderton, vor allem des Anfangs der Erzählung, beibehalten.

Das Kästchen des Teufels (1) <<<<

3 thoughts on “Ayana, das Tempelchen der Venus und die Weltmeisterschaft: Das Kästchen des Teufels (2). Das Arbeitsjournal des Mittwochs, dem 21. Juli 2010. Dazu gesellt sich ein Wechselkoidl. (Sieben Tage vor Rom).

  1. @ANH: Das Arbeitsjournal hat sich seit Ihrem Parisaufenthalt wirklich sehr verändert. Gehört diese Erzählung jetzt nicht auch besser in die Rubrik “Fortsetzungsroman”? Ich gestehe, dass ich etwas verwirrt bin. Ausserdem glaube ich, dass Sie damit Leser verlieren, wenn Sie Ihre persönlichen Tagesnotizen nicht mehr schreiben bzw. sie so sehr verstellen, dass keiner mehr klug daraus wird.
    Es ist mir begreiflich, welchen poetischen Ansatz Sie verfolgen, aber der war im Dschungel sowieso immer da, und zwar über die verschiedenen Rubriken. Ich kann mir nicht helfen, irgendwie habe ich das Gefühl von Verdoppelung.

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